Eine Sicht aus Afrika: Der Westen verkauft Waffen, sponsert Putsche und ermordet afrikanische Präsidenten für natürliche Ressourcen
„Westlicher Todestrieb“ Interview Wir Europäer müssen uns an Flüchtlingsströme gewöhnen, sagt der Philosoph Alain Badiou. Weil wir eine große Mitverantwortung tragen. Von Integration hält er gar nichts Ausgabe 11/2016 Nils Markwardt| 31 Migration, Einwanderung, Asyl – dies sind die Themen, die Alain Badiou seit Jahrzehnten prägen. Nicht nur, weil er sie bei seinem andauernden Versuch, den Kommunismus neu zu denken, immer wieder in den Mittelpunkt gestellt hat, sondern auch, weil er sich seit Langem praktisch für Sans-Papiers engagiert. Etwa durch die von ihm 1985 mitbegründete Bürgerrechtsbewegung Organisation politique. Abends zuvor saß der Philosoph, der zu den international einflussreichsten Intellektuellen Frankreichs gehört, noch auf der Bühne des ausverkauften Berliner Gorki Theaters und diskutierte mit seinem Verleger Peter Engelmann über Strategien politischer Interventionen. Doch auch wenn Badiou, der bei einem Bekannten in Schöneberg übernachtete, beim Interview noch Morgenmantel trägt, ist er genauso hellwach und streitbar wie erwartet. der Freitag: Herr Badiou, in Ihrer Theorie spielt der Begriff des Ereignisses eine zentrale Rolle. Er beschreibt das abrupte Einbrechen des Neuen, einen radikalen Riss in der bisherigen Ordnung. Erleben wir das gerade mit der Flüchtlingskrise? Alain Badiou: Absolut. Es gibt natürlich eine lange Geschichte der Einwanderung, in Frankreich leben mittlerweile Millionen von Menschen, die einst aus Afrika oder anderen Kontinenten kamen. Aktuell gibt es jedoch einen zweifachen Unterschied. Der erste betrifft den Grund: Es geht hier vorrangig nicht um klassische Arbeitsmigration, sondern um die Folgen der Verheerungen im Nahen Osten und in Afrika. Der zweite betrifft die Form: Es ist kein langwieriger Prozess, sondern eben ein abruptes Ereignis. Der mit ihnen befreundete Philosoph Slavoj Žižek hat in jüngster Zeit immer wieder betont, dass die Flüchtlingskrise auch das Ergebnis des globalen Kapitalismus sei. Sehen sie es ähnlich? Ja, die Rolle des globalen Kapitalismus ist hier zentral. Er offenbart eine neue Form des Imperialismus, eine neue Form des Kampfes um Rohstoffe und Ressourcen. Das heißt, es ist nicht mehr der klassische Kolonialismus, in dessen Zuge ganze Staaten unterworfen wurden, sondern das, was man im Französischen „zonage“ nennt: die Akzeptanz zersplitterter, anarchischer Räume, in denen keine staatlichen Strukturen mehr herrschen, sondern kriminelle Gangs regieren. Der Westen beteuert etwa permanent, dass er die Terromiliz „Islamischer Staat“ bekämpfe, gleichzeitig hält er sie aber auch am Leben. Denn der IS ist mittlerweile ein ökonomischer Faktor, er handelt mit Kulturschätzen und Öl. Der IS ist aus Ihrer Sicht also bereits in den globalen Kapitalismus integriert? Exakt. In Afrika und dem Nahen Osten zeigt sich eine neue Form des imperialistischen Widerspruchs, dessen Konsequenz darin besteht, dass in vielen Regionen kein normales Leben mehr möglich ist. Man zerstört den Staat, kreiert eine anarchische Situation, unterstützt dann, je nach den eigenen Interessen, die eine oder andere politische Kraft. Das Ergebnis ist für die Zivilbevölkerung fürchterlich. Die Menschen können nicht mehr in ihrem Land bleiben. Zur Person Alain Badiou, 1937 in Rabat, Marokko, geboren, ist Philosoph, Mathematiker, Romancier und einer der wichtigsten Intellektuellen Frankreichs. Er gilt als führender Vertreter des Neo-Kommunismus. Nach Lob der Liebe (2015) geht es ihm aktuell um eine Philosophie des Glücks Foto: Keffieh67/Wikipedia Also kommen sie nach Europa. Und Europa hätte die Mittel, Millionen Menschen aufzunehmen. Aber viele sehen in den Flüchtlingen eine Bedrohung ihrer Privilegien. Nun stimmt es, dass es gewisse kulturelle Unterschiede zwischen islamischen Ländern und Europa gibt, etwa im Hinblick auf die Rolle der Familie. Aber das ist natürlich nicht der Grund für die Situation im Nahen Osten. Diese wurde gewissermaßen künstlich herbeigeführt, durch die Zerstörung staatlicher Strukturen. Folglich müssen die Bevölkerungen in Deutschland, Frankreich und anderen europäischen Ländern die Flüchtlinge sozusagen als Quittung akzeptieren. Dafür, dass sie nichts gegen die Verwüstungen im Nahen Osten unternommen, ja diese teilweise erst geschaffen haben. Die Briten waren im Irak, die Amerikaner ebenso. Frankreich hat wiederum in Saudi-Arabien, dem wohl reaktionärsten Land in der Region, seine Interessen, etwa den Verkauf von Rafale-Jets. Ihrer Meinung nach entstehen Ressentiments gegenüber Migranten also auch aus der Verkennung des geopolitischen Kontexts? Ähnliches gab es früher auch. Viele Franzosen haben auf die Einwanderung von Menschen aus dem Maghreb mit Rassismus reagiert. Dabei ignorierten sie die Zusammenhänge. Denn der Grund für die Migration lag in der Entwicklung des französischen Kapitalismus. Die Einwanderer haben etwa in den Fabriken von Renault und Citroën gearbeitet. Die Mittelschichten kauften dann die Autos, ohne sich bewusst zu machen, dass sie das Ergebnis dieser Arbeiter sind. Die Entstehung reaktionären Positionen folgt also oft aus der Ignoranz gegenüber den Entwicklungsgesetzen des globalen Kapitalismus. Die Leute wollen nur die Produkte, aber sie vergessen die Gesetzmäßigkeiten dahinter. Sprich: die anarchische und gewaltsame Entwicklung des Kapitalismus. Dennoch nimmt der Rechtspopulismus in Europa zu. In Deutschland reüssiert die AfD, in Frankreich bekommt Marine Le Pen immer mehr Zuspruch, in Osteuropa regieren rechtspopulistische Parteien. Was tun? Kommt man der extremen Rechten entgegen, verstärkt man die Angst vor Flüchtlingen nur. Wenn die europäischen Regierungen sagen, dass sie nicht in der Lage seien, die Fluchtursachen zu bekämpfen, dann müssen sie mit den Konsequenzen leben und ihren Bevölkerungen klarmachen, dass Flüchtlingsströme unabwendbar sein werden. Denn Millionen Menschen fliehen aus ihren Ländern, weil sie dort einfach nicht mehr leben können. Und wir sind Teil dieser Entwicklung. Zumal der Westen, wie gesagt, zum Zwecke seiner eigenen Interessen die Existenz zerstörter Regionen akzeptiert. Aber da machen Sie es sich doch zu einfach. Die Konflikte in Afrika und dem Nahen Osten sind doch nicht monokausal auf den Westen zurückzuführen, sondern entspringen ebenso der dortigen Unterdrückung, der Misswirtschaft, der Korruption. Das auch, natürlich. Aber in Afrika gibt es heute praktisch keinen wirklich freien Staat. Es herrschen oftmals korrupte Eliten, die Teil des Systems des globalen Kapitalismus sind, keine Frage. Bedenken wir jedoch nur, was mit jenen passierte, die ihre Länder einst wirklich befreien wollten: Patrice Lumumba, Amílcar Cabral und Ruben Um Nyobé wurden ermordet, Kwame Nkrumah aus dem Amt geputscht. Zudem hat allein Frankreich innerhalb von 40 Jahren rund 50 Militärinterventionen in Afrika durchgeführt. Das ist eine Art permanenter Krieg. Und nun wird Afrika zur Ausplünderung freigegeben. Sei es durch französische, britische, amerikanische oder chinesische Großkonzerne. Und schließlich: Gruppierungen wie der IS oder Boko Haram existieren vor allem in Ländern, wo es Öl gibt. Deshalb könnte man zugespitzt sagen: Am Ende geht es weniger um die Frage des Islamismus als um die des Öls.
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