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Weg der Versöhnung ist keine Träumerei, sondern "effektiver" als Blutvergießen.

Angehörige von Israelis und Palästinensern, die im Konflikt getötet wurden, trauern gemeinsam – nicht alle sind damit einverstanden.

Es gibt keinen jüdischen Israeli, der nicht wenigstens eine Person kannte, die in Kriegen oder bei Terrorakten zu Tode kam. Wenn am Mittwoch um 11 Uhr für zwei Minuten lang die Sirenen heulen, kommt alles zum Stillstand.


Niv Sarig denkt dann an Guy, seinen Bruder. Guy überlebte den Militärdienst nicht. Zwei Monate vor seiner Entlassung aus der Armee wurde er in der Stadt Tulkarem im Westjordanland von einem palästinensischen Scharfschützen erschossen. Das ist 26 Jahre her, aber immer noch genauso präsent. Trotzdem hält Sarig wenig von den offiziellen Gedenkfeiern am Jom Ha Zikaron. "Zu viele blinde Flecken" gebe es dort, sagt der 45-Jährige. Er gedenkt stattdessen im eigenen Kreis, gemeinsam mit anderen Israelis, aber auch mit Palästinensern und Palästinenserinnen, die ihrerseits Angehörige im Konflikt verloren haben. "Elternzirkel-Familienforum" nennt sich die Initiative, die diese Zeremonien jährlich zum Jom Ha Zikaron in Israel, Palästina und online begeht.

Zorn auf Israelis, dieses Gefühl kennt auch Layla Sheikh nur zu gut. Die 44-jährige Palästinenserin aus Battir nahe Betlehem hat ihr zweites Kind im Arm gehalten, als es mit dem Tod rang. Sechs Monate war Qusay alt, als das israelische Militär in Battir Tränengas einsetzte, das bei dem Baby Atemnot auslöste. Es war der Höhepunkt der Zweiten Intifada, die israelische Armee hatte überall Straßenblockaden errichtet.

Alle rund 600 Angehörigen, die Teil des Forums sind, sind Angriffen ausgesetzt, in besonderem Maße die palästinensischen Mitglieder. Sie hören den Vorwurf, dass sie durch ihre Beziehungen mit Israelis die israelische Besatzung "normalisieren". Auf israelischer Seite wird den jüdischen Mitgliedern vorgeworfen, naiv zu sein angesichts der Terrorgefahr.

Sarig hält dieser Kritik entgegen, dass jüdischen und arabischen Menschen gar nichts anderes übrig bleibe, als ein Leben in Koexistenz zu lernen. "Ob sie es wollen oder nicht, sie leben nun einmal beide hier. Die Frage ist nicht, ob sie zusammenleben, sondern nur, wie hoch der Preis ist, den wir dafür bezahlen. Den Weg der Versöhnung hält Sarig nicht für Träumerei, sondern für "effektiver" als Blutvergießen.


Sowohl Sarig als auch Sheikh wissen, dass sie eine kleine Minderheit sind. "In der Geschichte hat aber jede große Veränderung klein begonnen", sagt Sheikh. "Wir warten seit 74 Jahren, dass unsere Regierungen eine Veränderung bringen, aber sie machen es nur schlimmer." Der Wandel müsse aus der Zivilgesellschaft kommen.

Sowohl in Israel als auch in Palästina sind die Ideale, die das Forum antreiben, nicht mehrheitsfähig. "Das liegt aber daran, dass die Mehrheit der Palästinenser und Palästinenserinnen und der Juden und Jüdinnen nie die Chance hatte, die andere Seite kennenzulernen", glaubt Sarig.

Seinem Sohn will er dieses Schicksal ersparen, er geht in eine bikulturelle Schule, eine der wenigen in Israel. Diese Woche sind dort Schulferien: Muslime feiern den Eid Al-Fitr, jüdische Israelis den Unabhängigkeitstag. Und Niv Sarig gedenkt mit der Familie jenes Onkels, den die Kinder nie kennenlernen durften.

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