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AutorenbildWolfgang Lieberknecht

Prof. Frank Deppe: Der neue und der alte Kalte Krieg – ein Vergleich


Göran Therborn Die Linke im 21. Jahrhundert Progressive Selbsterneuerung in aggressiven Weltverhältnissen


An meine deutschsprachigen Leserinnen und Leser Mein Essay über die Linke in der Welt von heute ist der Versuch eines Sozialwissenschaftlers, der in zwei aufeinander folgenden Jahrhunderten aktiv war und ist, die Zeiten, die er erlebt hat, aus einer ökumenischen linken politischen Perspektive zu verstehen. Es handelt sich nicht um persönliche Memoiren, sondern um ein Stück gesellschaftspolitischer Analyse im Rahmen einer vergleichenden Soziologie der Jahrhunderte in progress, ein Feld, das bisher noch wenig beackert ist. Ein wenig öffentliche Selbstreflexion mag die Lektüre erleichtern.


Als Schwede bin ich in einem friedlichen und privilegierten Land am Rande der Welt aufgewachsen, unberührt von den großen Traumata des 20. Jahrhunderts. Ohne jemals mein Glück zu bereuen, in die behagliche Mittelschichten-Sicherheit eines ländlichen und abgelegenen Fleckchens Erde hineingeboren worden zu sein, fühlte ich mich als frühreifer, intellektuell aufgeweckter Junge diesem Milieu mit seinem selbstgefälligen gesunden Menschenverstand stets entfremdet. Ich denke, das war sehr wichtig für meine kritische Neugier auf die Welt.


Meine allererste politische Diskussion hatte ich im Herbst 1950 (ich war gerade neun Jahre alt) mit meinem Vater über den Koreakrieg, und aus irgendeinem Grund, an den ich mich nicht mehr erinnere, war ich skeptisch, was die Chancen der US-amerikanischen Intervention betraf.


Mit zwölf Jahren, im Frühjahr 1954 während der Belagerung von Dien Bien Phu, war ich bereits überzeugter Antiimperialist und stand auf der Seite der Vietnames*innen in ihrem Befreiungskrieg gegen die französische Kolonialmacht. Das ist der Hintergrund des globalen Ansatzes meines Essays und meines beständigen Engagements für eine Welt ohne imperiale Herrschaft. Mit einem weltoffenen Blick kann man selbst in Skandinavien nicht über die krassen Ungleichheiten innerhalb der Menschheit hinwegsehen.


Als junger Mann habe ich mir weitgehend autodidaktisch die europäische marxistische Tradition angeeignet, also Marx – ausführliche Lektüre der in der DDR herausgegebenen vielbändigen MEW-Ausgabe – und den »westlichen Marxismus« der Nachkriegsgeneration mit den Schriften von Lukács und Gramsci bis hin zu Althusser und der New Left Review. Ich habe sie alle im Original gelesen – Gramsci in der sechsbändigen Einaudi-Ausgabe – und war Mitte der 1960er-Jahre sehr frankophil orientiert. In meiner akademischen Laufbahn stand die Soziologie im Mittelpunkt, wobei mich vor allem die US-amerikanische Soziologie von Talcott Parsons und Robert Merton und die historische Soziologie von Max Weber beeinflusst haben. Mein Schreibstil ist angelsächsisch, geprägt vom Umfeld der New Left Review und, in geringerem Maße, von der angelsächsischen Soziologie, d.h. er unterscheidet sich vom deutschen Stil sowohl der marxistischen als auch der soziologischen Literatur. Eine kühne analytische Perspektive, Systematik, empirische Fundierung und eine klare Sprache waren mir immer wichtig. Allerdings fehlt mir das erzählerische Talent der großen angelsächsischen Historiker wie Edward P. Thompson und vor allem Eric Hobsbawm. Obwohl ich, soweit es Europa betrifft, immer eher britisch und französisch als deutsch orientiert war, reichen meine Kontakte zur deutschen Linken bis in die frühen 1960er-Jahre zurück, zur Zeitschrift Neue Kritik und zu Wolfgang Abendroth und seinem Kreis. Mit der deutschen Sozialwissenschaft bin ich seit den frühen 1980er-Jahren verbunden, später unter anderem durch ein Semester am Wissenschaftszentrum in Berlin im Jahr 2004. Vor fast 40 Jahren veröffentlichte der VSA: Verlag mein Buch über Arbeitslosigkeit, eine Studie über wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Strategien und Politikansätze in den OECDLändern. Die deutsche Publikation hatte Hinrich Kuhls auf den Weg gebracht, der auch den vorliegenden Text übersetzt hat; ein guter Anlass, um eine alte Freundschaft wieder aufzufrischen – so wie ich hoffe, dass dieses Buch eine Brücke schlägt, um alte Kontakte wieder aufleben zu lassen und neue zu knüpfen. 9 Aus der Ferne habe ich das Sammlungsprojekt »DIE LINKE« mit großem Interesse verfolgt und bin nun beunruhigt sowohl über die internen selbstzerstörerischen Spaltungstendenzen als auch über die Aufrufe zur Spaltung von außen. Die westliche Linke befindet sich heute in einer ähnlich desolaten Situation wie Rosa Luxemburg im Sommer 1914 – allerdings schwebt über ihr zusätzlich die Gefahr eines atomaren Armageddon und einer apokalyptischen Klimakatastrophe, während der Globale Süden seinen Aufstieg fortsetzt. Ljungbyholm (Schweden), am 15. Februar 2023. Göran Therborn



Inhalt An meine deutschsprachigen Leserinnen und Leser ........... 7

1. Epochenwechsel statt Zeitenwende .................................. 11

2. Das dialektische Jahrhundert ............................................ 17 3. Das neoliberale Zwischenspiel ........................................... 29

4. Die Linke des neuen Jahrhunderts .................................... 33 Altermondialismus ............................................................... 35 Klimaproteste ........................................................................ 37 Sozialismus in der Neuen Welt ............................................ 39 5. Neue Formen der Politik ...................................................... 45 Soziale Basis .......................................................................... 45 Aktionsformen ...................................................................... 47 Politikmodus ......................................................................... 48 Strategie ................................................................................. 50 Repertoire .............................................................................. 51 Abstieg und Aufstieg der Sozialdemokratie ....................... 53

6. Bilanz und Herausforderungen ........................................... 57 Klimakrise ............................................................................. 61 Geopolitik ............................................................................. 65 Vormarsch Asiens ................................................................. 67 Klassenkämpfe ...................................................................... 69

7. Sozialismus: Ausblick .......................................................... 83 Literatur .....................................................................................

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