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AutorenbildWolfgang Lieberknecht

"Karl Polanyi-Von der entfesselten Wirtschaft zur solidarischen Gesellschaft"


Frühes Plädoyer gegen den Wirtschaftsliberalismus

Als im Zuge der Finanzkrise von 2008 vermehrt die entfesselte Globalisierung und die verselbstständigten Finanzmärkte in die Kritik gerieten, waren plötzlich die Thesen des österreichisch-ungarischen Wirtschaftshistorikers und Soziologen Karl Polanyi wieder aktuell. Bereits während des Zweiten Weltkriegs hatte Polanyi in seinem Hauptwerk The Great Transformation den Kampf zwischen Gesellschaft und Marktsystem untersucht. Der historischen Entstehung der liberalen Marktwirtschaft im 19. Jahrhundert folgend, zeichnet er die zunehmende Verselbstständigung der Wirtschaft gegenüber der Gesellschaft nach. Vor dem Hintergrund einer humanistisch-sozialistischen Weltsicht fordert er die Reintegration des Marktes in eine freie und selbstbestimmte Gesellschaft. Die Idee eines sich selbst regulierenden Marktes ist für ihn notwendig zum Scheitern verurteilt, da sie nur zur völligen Ausbeutung von Mensch und Natur sowie zur Zerstörung von Demokratie und Freiheit führe. Angesichts der politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, aber auch der aktuellen ökologischen Krisen ist Polanyis Hauptwerk eine überraschend aktuelle, spannende und anregende Lektüre über Gesellschaft und Ökonomie.

Take-aways

  • The Great Transformation ist ein überraschend aktueller Klassiker der Soziologie.

  • Inhalt: Im 19. Jahrhundert wurde, von England ausgehend, die Idee eines freien, sich selbst regulierenden Marktes geschaffen und global umgesetzt. Damit entkoppelte sich erstmals in der Geschichte die Wirtschaft von der Gesellschaft, was sich verheerend auf das soziale und kulturelle Leben auswirkte und letztlich zum Aufstieg des Faschismus und zum Niedergang der Demokratie beitrug.

  • Polanyis Theorie basiert auf einer historischen Analyse der Entwicklung der Marktwirtschaft.

  • Die große Transformation, die das Buch beschreibt, besteht in der Verselbstständigung und Vormachtstellung des Marktes gegenüber der Gesellschaft.

  • Polanyi fordert eine Reintegration der Wirtschaft in die Gesellschaft. Nicht die Interessen der Wirtschaft sollen die Gesellschaft bestimmen, sondern die Menschen sollen die Wirtschaft zu ihren Zwecken gebrauchen.

  • Polanyi zeigt sich als eigenständiger Denker, der sowohl die klassische Nationalökonomie als auch den Marxismus kritisiert.

  • Das Buch entstand während des Zweiten Weltkriegs in den USA.

  • Trotz seines Charakters als wissenschaftliche Abhandlung ist es leicht verständlich geschrieben.

  • Seit der Finanzkrise 2008 wird Polanyis Kritik wieder verstärkt wahrgenommen.

  • Zitat: „Das Ende der Marktwirtschaft könnte den Anfang einer Ära nie da gewesener Freiheit bedeuten.“

Zusammenfassung Die große Katastrophe Der Zusammenbruch der Welt des 19. Jahrhunderts hat die Weltkriege und Wirtschaftskrisen des 20. Jahrhunderts ausgelöst. Die politischen und wirtschaftlichen Ursachen dieser folgenschweren Transformation gilt es, zu untersuchen. Ihr Kern liegt im Versagen der Utopie eines freien und sich selbst regulierenden Marktes. Diese Utopie war die eigentliche Revolution des 19. Jahrhunderts, die industrielle Revolution lediglich ihr Symptom. Das Doppelwesen dieser Revolution bestand darin, dass ein gewaltiger Anstieg der Produktionsleistung von einer unvorstellbaren Verelendung des sozialen Lebens begleitet wurde. Aufstieg und Fall des Internationalismus Die Welt des 19. Jahrhunderts kann durch vier Eigenschaften definiert werden: das politische System eines internationalen Kräftegleichgewichts, das einen bis da ungekannt langen Zeitraum des Friedens ermöglichte; das wirtschaftliche System eines freien Marktes, der immensen Wohlstand produzierte; den Goldstandard und den liberalen Staat. Es war der Niedergang des Goldstandards, der die Katastrophe im frühen 20. Jahrhundert verursachte. Das Funktionieren der Welt des 19. Jahrhunderts kann hingegen mit der Idee des freien Marktes erklärt werden. „Die Welt des 19. Jahrhunderts ist zusammengebrochen. Das vorliegende Werk befasst sich mit den politischen und wirtschaftlichen Ursachen dieses Geschehens sowie mit der großen Transformation, die es einleitete.“ (S. 19) In der Folge der Französischen Revolution trat in Europa ein bis da völlig unbekanntes Interesse an Frieden auf die politische Tagesordnung. Der Friede wurde zunächst durch die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Monarchien der Heiligen Allianz, dann über die Vernetzung der Nationalstaaten durch die Hochfinanz gesichert. Letztere bildete in den letzten 30 Jahren des 19. und den ersten 30 Jahren des 20. Jahrhunderts die Verbindung zwischen Gesellschaft und Markt. Da sie an Gewinn orientiert war, musste sie größere Kriege verhindern und wurde dadurch zur vermittelnden und ausgleichenden Instanz zwischen den widerstrebenden Nationalstaaten. Die Wirtschaft veränderte nach und nach internationales Recht, um das internationale Geschäftssystem von politischen Konflikten unabhängig zu machen. Gleichzeitig wurde sie zur materiellen Lebensgrundlage der gesamten Welt, wodurch die Politik immer mehr Rücksicht auf sie nehmen musste. Dieser ökonomische Einfluss auf die Gesellschaft, der etwa 100 Jahre lang den Frieden sicherte, erreichte um 1890 seinen Höhepunkt und begann danach, überraschend schnell zu zerbrechen. „Das Vertrauen in den Goldstandard war das Glaubensbekenntnis dieser Ära.“ (S. 47) Der Niedergang der Weltwirtschaft ab 1900 löste die tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen der 1930er-Jahre aus. Der Erste Weltkrieg und die Nachkriegszeit waren noch Teil der Welt des 19. Jahrhunderts. Mehr noch, die Politik der 1920er-Jahre, die oft als revolutionär gilt, muss als konservativ erkannt werden, denn sie versuchte erfolglos, das System der Weltwirtschaft aus dem 19. Jahrhundert wiederherzustellen. Während Entwaffnung und Verschuldung der Verlierermächte die Wiederherstellung eines ausgeglichenen politischen Kräfteverhältnisses unmöglich machten, löste sich auch der Kern des freien Marktes, das internationale Finanzsystem, in einer Serie von Währungskrisen auf. Der Glaube des 19. Jahrhunderts, der alle Religions- und Klassenunterschiede überspannte, war das Vertrauen in den Goldstandard: Geld galt als sicher, da es Gold repräsentierte. Als in den 1930er-Jahren die internationale Marktwirtschaft trotz aller Rettungsversuche auseinanderbrach, war auch das politische System des internationalen Kräftegleichgewichts, der Völkerbund, am Ende. Eine Zeit umfassender Revolutionen stand an: Der liberale Staat wurde vom totalitären abgelöst, der freie Markt durch autarke Volkswirtschaften ersetzt, und der Kampf zwischen Sozialismus und Faschismus dominierte die Politik. Die ökonomische Gesellschaft Der Niedergang des Internationalismus des 19. Jahrhunderts kann zwar erklären, was die Große Transformation auslöste, aber nicht, weshalb sie so heftig und so tief greifend ausfiel. Dazu muss man die Ursprünge des Wirtschaftsliberalismus im England des 19. Jahrhunderts untersuchen und ihn als radikal neue Form von Gesellschaft verstehen. „Der Mechanismus, der durch das Gewinnstreben in Gang gesetzt wurde, war in seiner Wirksamkeit nur mit wildesten Ausbrüchen religiösen Eifers in der Geschichte zu vergleichen.“ (S. 54) Ende des 18. Jahrhunderts entstand zum ersten Mal in der Geschichte eine Form der Wirtschaft, die vom Markt und vom Gewinnstreben reguliert wurde. Im Gegensatz zur landläufigen Lehre vom Homo oeconomicus, nach der alles menschliche Tun seit jeher wirtschaftlich motiviert ist, muss die Existenz einer im spezifischen Sinn ökonomischen Gesellschaft als einzigartiges und historisch relativ junges Ereignis begriffen werden. Weder in den Ökonomien der primitiven Völker oder der antiken Hochkulturen noch in denen des europäischen Feudalismus und Merkantilismus gab es die Idee eines von der Politik unabhängigen Marktes. Bis zum 19. Jahrhundert war das ökonomische Handeln jeder Gesellschaft stets in die soziale, kulturelle und religiöse Struktur dieser Gesellschaft eingebettet. Die Menschen handelten miteinander nicht aus Profitstreben, sondern um ihren jeweiligen Platz in der Gesellschaft zu bestätigen. Industrielle Revolution und fiktive Waren Die Idee eines sich selbst regulierenden Marktes verlangt eine Trennung der Gesellschaft in Politik und Wirtschaft – und impliziert die Unterordnung der Politik unter die Wirtschaft. Neu an der Marktwirtschaft war, dass sie die Produktion in den ökonomischen Kreislauf von Kauf und Verkauf einband. Ausschlaggebend hierfür war die Einführung von Maschinen in die Produktion. Sie führte dazu, dass die industrielle Produktion immer komplexer wurde, wodurch das Vorhandensein von immer mehr Faktoren gesichert werden musste – insbesondere der Faktoren Arbeitskraft, Boden und Geld. Deren Verfügbarkeit kann aber nur dadurch gesichert werden, dass man sie käuflich, also zur Ware macht. Somit wird der Markt total, denn das gesamte soziale und natürliche Sein wird den Gesetzen der Ökonomie unterstellt. Dabei fällt auf, dass weder Arbeit – also menschliche Tätigkeit – noch Boden – also die Natur – noch Geld – ein konventionelles Wertsymbol – im eigentlichen Sinn Waren sind. Keines der drei Elemente wird für den Verkauf produziert, ja die Natur wird sogar überhaupt nicht vom Menschen produziert. Somit sind Arbeit, Boden und Geld nichts anderes als „fiktive“ Waren. Doch diese Warenfiktion hat einen tief greifenden Einfluss auf die Gesellschaft, denn wenn Arbeit zur Ware wird, dann ist der Mensch und seine alltägliche Lebensform selbst zur Ware geworden. Die gesamte Gesellschaft muss sich neu organisieren und den Einzelnen und den Staat an die Warenfiktion der Wirtschaft anpassen. Das 19. Jahrhundert: eine Doppelbewegung Dieser Schritt – Arbeit, Boden und Geld zu Waren zu machen – vollzog sich zuerst in England, jedoch unter erheblichem Widerstand der Gesellschaft. Der praktischen Selbstregulierung des Marktes standen stets protektionistische und interventionistische Eingriffe der Politik im Weg, die die desaströsen Auswirkungen des Wirtschaftsliberalismus auf das soziale Leben abzumildern versuchte. Es entstanden Gewerkschaften, eine Sozialgesetzgebung, Auflagen und Regularien für die Industrie, Arbeitslosenversicherungen und nicht zuletzt diverse sozialistische Bewegungen und Parteien, die die Interessen der Arbeiterklasse vertraten. „Die maschinelle Produktion in einer kommerziellen Gesellschaft bedeutet letztlich nichts Geringeres als die Transformation der natürlichen und menschlichen Substanz der Gesellschaft in Waren.“ (S. 70) Diese Doppelbewegung zwischen den liberalen Forderungen eines radikal freien Marktes und den restriktiven Interventionen der Politik bestimmt die gesamte Geschichte der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Dabei lautet die entscheidende Frage: Wie interpretiert man diese Eingriffe? Für den Wirtschaftsliberalismus verhindert der Protektionismus die Entfaltung eines tatsächlich freien Marktes und damit die Lösung aller sozialen Probleme. Doch in Wahrheit sind diese Eingriffe als Schutzmaßnahmen der Gesellschaft absolut notwendig, da ein unregulierter Markt zur völligen Ausbeutung und Zerstörung der Natur führen würde sowie zur Verelendung der arbeitenden Masse. „Die Wirtschaft ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet.“ (S. 88 f.) Exemplarisch für diesen Streit sind das Speenhamland-System und die Nationalökonomie: Im Mai 1795 beschlossen die Friedensrichter im britischen Speenhamland angesichts der immer stärker werdenden Dynamik der industriellen Revolution, ein Zuschusssystem einzuführen. Es sollte ein Recht auf Lebensunterhalt gewährleisten, indem es den Ärmsten, unabhängig von ihrem Einkommen, durch Zusatzzahlungen einen minimalen Lebensstandard sicherte. Dies war effektiv ein Versuch, den Menschen aus dem Kapitalismus herauszuhalten und die Entstehung eines Arbeitsmarktes zu unterbinden. Tatsächlich aber führte es zu einer Pauperisierung der Arbeiter, da die Löhne völlig einbrachen. 1834 kam das Bürgertum an die Macht – und schaffte zuallererst das Speenhamland-System ab. Das bedeutete einerseits den Beginn des modernen Kapitalismus durch die Schaffung eines wettbewerbsorientierten Marktes für Arbeit – und andererseits das Entstehen der Arbeiterklasse, die durch Lohnverfall und Zuschüsse völlig abhängig geworden war und nun, ohne das sichernde Speenhamland-System, der Verarmung übergeben wurde. „Ein selbst regulierender Markt erfordert nicht weniger als die institutionelle Trennung der Gesellschaft in eine wirtschaftliche und eine politische Sphäre.“ (S. 106) Etwa zu dieser Zeit begann sich das gerade erst entstehende System der ökonomischen Gesellschaft im Denken der Nationalökonomie auszudrücken. Autoren wie Jeremy Bentham, John Stuart Mill oder David Ricardo entdeckten, dass es da eine Gesellschaft gab, die ihren eigenen unverrückbaren Gesetzen gehorchte, Gesetzen, die nicht vom Staat oder der Politik abhingen, sondern vielmehr den Staat und das Leben jedes Einzelnen bestimmten. Sie begründeten diese Gesetze mit einem rigorosen Naturalismus: Der Mensch sei ein Tier und die Gesetze, nach denen er handle, seien jene der Natur. Not macht erfinderisch, Hunger macht produktiv, und Angebot und Nachfrage pendeln sich von selbst in ein Gleichgewicht ein, lauteten ihre Glaubenssätze. Somit war das liberale Dogma geschaffen, dass eine staatliche Gesetzgebung die natürliche Entfaltung der Marktgesetze nur hemmen kann. Das Gesetz des Dschungels wurde zum Naturgesetz der ökonomischen Gesellschaft ausgerufen. „Indessen sind Arbeit, Boden und Geld ganz offensichtlich keine Waren: Die Behauptung, dass alles, was gekauft und verkauft wird, zum Zwecke des Verkaufs produziert werden musste, ist in Bezug auf diese Faktoren eindeutig falsch.“ (S. 107) Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurden diese theoretischen Annahmen über die Natur des Menschen und des Marktes in die Wirklichkeit umgesetzt. Dabei offenbarte der wirtschaftsliberale Glaube tiefe Mängel: Der freie Markt entstand weder von selbst, noch konnte er sich selbst aufrechterhalten. Er musste durch politische Entscheidungen und Eingriffe eingeführt und immer wieder vor sich selbst geschützt werden. In der Krise der 1920er-Jahre forderten sogar liberale Ökonomen die Aufhebung der Freiheit des Marktes zugunsten autoritärer staatlicher Intervention. Damit trugen sie entscheidend zur Schwächung der demokratischen Kräfte und zum Aufstieg des Faschismus bei. Faschismus oder Freiheit Der Grund für den Erfolg des Faschismus waren die ungelösten Probleme der Utopie des Wirtschaftsliberalismus. Die Spannung zwischen Politik und Wirtschaft materialisierte sich ab den 1920er-Jahren im sich immer stärker zuspitzenden Konflikt der Klassen. Während sozialdemokratische Parteien der Arbeiterschaft überall in Europa starken Einfluss in der Politik errangen, bauten die Kapitalisten die Freiheit der Industrie immer stärker auf Kosten der Demokratie aus. Während die Arbeiterschaft, also der Großteil der Bevölkerung, die Kontrolle über die Politik erlangte, wurde ihre Abhängigkeit von den ökonomischen Institutionen immer deutlicher. Wirtschaft und Politik lähmten sich gegenseitig. In dieser Unsicherheit fielen die einfachen Lösungen des Faschismus auf fruchtbaren Boden. „Nichts war natürlich an der Praxis des Laissez-faire; freie Märkte wären niemals bloß dadurch entstanden, dass man den Dingen ihren Lauf ließ. So wie die Baumwollfabriken (…) mithilfe von Schutzzöllen, Exportprämien und indirekten Lohnsubventionen geschaffen wurden, wurde sogar der Grundsatz des Laissez-faire selbst vom Staat durchgesetzt.“ (S. 192) Man versteht den Faschismus nicht, wenn man ihn als Resultat einer lokalen Volksbewegung beschreibt. Vielmehr war er die plausibelste politische Lösung jener globalen Krisensituation, in der sich der liberale Kapitalismus in den 1930er-Jahren befand. Der Faschismus reformierte die Marktwirtschaft, indem er die demokratischen Institutionen auflöste und die Individuen aller Bedeutung und Freiheit beraubte. Als er in Japan, Deutschland und Italien die Macht übernahm, begann er sofort damit, den schwer angeschlagenen Internationalismus auf politischer, wirtschaftlicher und ethischer Ebene aktiv zu zerstören. „(…) das endgültige Scheitern des Goldstandards war auch das endgültige Scheitern der Marktwirtschaft.“ (S. 270) Die Ideologie des Liberalismus ist gescheitert. Die theoretischen Annahmen der Nationalökonomie vom natürlichen Wesen des Menschen und den Marktgesetzen erwiesen sich in der Geschichte als völlig falsch. Nun geht es darum, eine neue Form der Industriegesellschaft jenseits der Marktwirtschaft zu gestalten. Ein erster Schritt in diese Richtung wird darin bestehen, Arbeit, Boden und Geld dem Markt wieder zu entziehen. Ein weiterer ist die Einsicht, dass wirkliche Freiheit nicht im Fehlen aller Beschränkungen bestehen kann und dass der menschliche Wille in einer komplexen Gesellschaft stets einem Maß an Macht und institutioneller Realität ausgesetzt sein wird. Freiheit bedeutet deshalb, trotz dieser gesellschaftlichen Realität für die Interessen einer aufgeklärten Menschheit, für Frieden, Gerechtigkeit und die Erweiterung der Freiheit einzutreten. Zum Text Aufbau und Stil Sowohl seiner Form als auch seinem Stil nach ist das Buch eine wissenschaftliche Abhandlung. Es ist in drei Teile gegliedert: Der erste, relativ kurze Abschnitt gibt einen Überblick zur historischen Entwicklung der Weltpolitik und -wirtschaft vom 19. Jahrhundert bis in die 1930er-Jahre. Bereits in diesem Abschnitt breitet Polanyi seine Hauptthesen aus, die der zweite Teil belegen soll. Dieser nimmt den Löwenanteil des Buches ein. Er widmet sich einer detaillierten historischen und systematischen Untersuchung der Entstehung der Marktwirtschaft in England und ihrer fortschreitenden Ausdehnung zum globalen System. Dabei nimmt die erste Hälfte dieses Teils die Marktwirtschaft in den Blick, während die zweite Hälfte die gesellschaftlichen Schutzreaktionen gegen sie beleuchtet. Im dritten Teil erweitert Polanyi seine historischen Ausführungen bis in die Schreibgegenwart. Hier stellt er seine Analyse des Faschismus ebenso vor wie konkrete Möglichkeiten, eine aufgeklärte Form des Industrialismus im Zeichen der Freiheit zu entwickeln. Dieser kurze Schlussabschnitt, der viele politische und anthropologische Grundideen Polanyis impliziert, ist teilweise etwas schwer verständlich. Für das Buch im Ganzen ist das jedoch keineswegs typisch. Vielmehr schlägt sich Polanyis langjährige Lehrtätigkeit, nicht zuletzt in der Vermittlung politischer und wirtschaftlicher Themen für ein nichtakademisches Publikum, sehr positiv auf seinen Schreibstil nieder. Das Buch ist verständlich geschrieben und spannend, zu lesen. Interpretationsansätze

  • Das Denken Polanyis lässt sich am besten als kritische Wirtschaftstheorie kategorisieren. Es ist durchaus eigenständig und steht sowohl den kanonischen Theorien der klassischen Nationalökonomie als auch ihren traditionellen Gegnern, den an Marx orientierten Ökonomen, kritisch gegenüber.

  • Polanyis Zugang zur ökonomischen Theorie ist von der historischen Analyse geprägt, also von einer retrospektiven Untersuchung der Entwicklungen der Marktwirtschaft. Auch darin unterscheidet er sich von der herkömmlichen Ökonomie, deren Hauptinteresse der Prognose zukünftiger Entwicklungen gilt.

  • In jüngster Zeit betont die Forschung, dass Polanyis ökonomische Theorie in eine sozialistische Sozialphilosophie eingebettet ist. Dabei steht er aber weniger dem revolutionären Marxismus nahe als der Reformbewegung eines Robert Owen, auf die er sich im Buch immer wieder bezieht.

  • Polanyis Unterscheidung zwischen Wirtschaft und Gesellschaft liegt die zwischen Determinismus und Freiheit zugrunde: Während die Marktwirtschaft sich das Leben des Einzelnen wie der gesamten Kultur unterwirft und sie dominiert, bietet die soziale Sphäre die Hoffnung auf ein selbstbestimmtes und freies Leben.

  • Polanyi leitet aus seinen Untersuchungen die Forderung ab, die Wirtschaft müsse in die Gesellschaft reintegriert werden. Die Interessen der Wirtschaft sollen nicht mehr diejenigen der Gesellschaft dominieren. Vielmehr sollen die Menschen die Wirtschaft zu ihren Zwecken gebrauchen.

  • Für Polanyi hat die sozioökonomische Entwicklung der Gesellschaft eine starke theologische Dimension. So ist der Wirtschaftsliberalismus für ihn vor allem eine dogmatische Idee, ein regelrechter Glaube. Sein Gegenkonzept einer freien Gesellschaft leitet Polanyi explizit aus dem Christentum und der christlichen Linken ab.

Historischer Hintergrund Der Aufstieg des Faschismus Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war geprägt von ökonomischen und politischen Krisen der neu entstandenen demokratischen Nationalstaaten. Um 1920 erlebten die Sowjetunion, das Deutsche Reich sowie Österreich und Ungarn eine Hyperinflation. Ab 1929 kam die Weltwirtschaftskrise dazu, die nicht nur einen Zusammenbruch des internationalen Handels und Kreditwesens, sondern auch massenhafte Arbeitslosigkeit und den Kollaps der meisten nationalen Volkswirtschaften bedeutete. Diese Situation verschärfte die politischen Spannungen innerhalb und zwischen den Nationalstaaten. Zwischen vielen Ländern gab es Auseinandersetzungen um Grenzverläufe. In den meisten europäischen Ländern formierten sich faschistische Parteien. Sie waren gekennzeichnet durch einen starken Personenkult, ein autoritäres und nationalistisches Politikverständnis sowie die Ablehnung von Liberalismus, Sozialismus und Demokratie. Das politische Klima radikalisierte sich, häufig bildeten die faschistischen Parteien und ihre sozialistischen Widersacher paramilitärische Milizen. Mit der Ernennung von Benito Mussolini zum Ministerpräsidenten Italiens, übernahm 1922 erstmals eine offen faschistische Partei die Macht in einem europäischen Staat. Bis 1925 baute er Italien in eine totalitäre Diktatur um, Bürgerrechte und Pressefreiheit wurden aufgehoben, Oppositionsparteien verboten und verfolgt. Dasselbe wiederholte sich 1933 in Deutschland und Österreich mit der Machtübernahme der NSDAP unter Adolf Hitler sowie der Ausschaltung des Parlaments durch Engelbert Dollfuß. In Spanien errichtete Francisco Franco 1937 ebenfalls eine faschistische Diktatur. Mit der aggressiven Expansionspolitik Deutschlands und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 war die erste Generation demokratischer Nationalstaaten endgültig gescheitert. Entstehung Karl Polanyi war bereits in seinen 50ern angelangt, als er sich in den späten 1930er-Jahren in England mit Wirtschaftsgeschichte auseinanderzusetzen begann. Er eröffnete sich damit nicht nur ein völlig neues Forschungsfeld, sondern auch eine neue Karriere. Bis dahin sah er seine Berufung in seiner Tätigkeit als Lehrer. Ein lebhaftes Interesse an Wissenschaft, Literatur, Ökonomie und Religion hatte bereits seine Zeit in Budapest und Wien bestimmt. In der Emigration in England arbeitete er als Lehrer für die Workersʼ Educational Association (WEA), einem außeruniversitären Bildungsprogrammen der Universitäten London und Oxford. Immer wieder flog er auch in die USA, um dort Vorträge zu halten. Während all dieser Stationen entwickelte er eine eigenständige, sozialistisch orientierte Gesellschaftsphilosophie und analysierte die politischen Entwicklungen der Gegenwart. Angeregt durch sein intensives Studium der ökonomischen Geschichte Englands, fand Polanyi zu einer neuen Berufung: Buchautor. In seinen Seminaren für die WEA im Wintersemester 1939/40 entwickelte er die zentralen Thesen und Perspektiven des Buches und schärfte sie durch neuerliches, intensives Studium der Marx’schen Schriften sowie ausführliche Diskussionen mit der christlichen Linken. Dank eines Stipendiums der Rockefeller-Stiftung wurde es ihm schließlich möglich, zwischen 1941 und 1943 das umfangreiche Material, das sich bis dahin angesammelt hatte, zu einem Buch zu formen. Er arbeitete am Bennington College in Vermont und diskutierte die Inhalte des Buches in Vorträgen und Seminaren. Die wichtigste Mitarbeiterin und Kritikerin war jedoch seine Frau Ilona Duczynska; ihr widmete Polanyi das fertige Buch. Wirkungsgeschichte The Great Transformation erschien 1944 zuerst in den USA. Ein Jahr darauf wurde es auch in England publiziert, allerdings unter dem Titel The Origins of Our Time. Die deutsche Übersetzung wurde 1978 erstmals veröffentlicht und seither kontinuierlich neu aufgelegt. Besonders ab den 1970er-Jahren wurde The Great Transformation stark und positiv rezipiert, etwa in der Institutionen- und der Sozioökonomie oder in der Wirtschaftsgeschichte und -anthropologie. Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften wie Douglass North oder Joseph E. Stiglitz bezogen sich positiv auf Polanyi. Da dessen Auffassung von Wirtschaft die systemischen und anthropologischen Grundsätze der kanonischen Theorien infrage stellen, wurde er von liberalen Ökonomen, aber auch von Soziologen wie Talcott Parsons oder Mark Granovetter heftig kritisiert. Auch außerhalb der Wirtschaftswissenschaften sorgte Polanyi für Aufsehen. In der Anthropologie und Ethnologie erlangten seine – über das Buch The Great Transformation hinausgehenden – Forschungen zu Formen der sozial eingebetteten Ökonomie in sogenannten primitiven Gesellschaften großen Einfluss. Vor dem Hintergrund der Finanzkrise 2008 und der daraus resultierenden Kritik am Neoliberalismus stand Polanyi auch in der jüngeren Vergangenheit immer wieder im Mittelpunkt wissenschaftlicher Publikationen und Konferenzen sowie feuilletonistischer Artikel.


Über den Autor

Karl Polanyi wird am 21. Oktober 1886 in Wien geboren, wächst allerdings in Budapest auf. Die Familie zählt zum liberalen Judentum und wohlhabenden Bürgertum. Sein Vater ist Eisenbahningenieur und bis 1900 Besitzer einer eigenen Eisenbahnlinie. Die Mutter betreibt intellektuelle Salons in Budapest. Bildung ist der Familie wichtig, die fünf Kinder werden von Privatlehrern aus aller Welt erzogen. Polanyi studiert Jura und Philosophie und engagiert sich in der Arbeiterbildung. 1908 gründet er den Galilei-Kreis, einen Zusammenschluss linksliberaler Intellektueller. Im Ersten Weltkrieg dient er als Leutnant, bis er 1917 zum Invaliden wird. 1919 zieht er nach Wien, wo er an Volkshochschulen und als Redakteur wirtschaftlicher Zeitschriften arbeitet. 1934 reist seine Frau Ilona mit der gemeinsamen Tochter Kari nach Großbritannien aus. Als Polanyi im Jahr darauf seine Anstellung verliert, emigriert er angesichts des immer stärker werdenden Faschismus ebenfalls. In Großbritannien hält er Vorträge und engagiert sich im Rahmen des außeruniversitären Bildungsprogramms der Universitäten London und Oxford in der Arbeiterbildung. 1940 siedelt die Familie in die USA über. Von 1941 bis 1943 vollendet Polanyi dort, unterstützt durch ein Forschungsstipendium der Rockefeller-Stiftung, sein wirtschaftstheoretisches Hauptwerk The Great Transformation. Von 1947 bis 1953 hält er eine Gastprofessur an der Columbia University. Bis 1958 ist er Co-Leiter eines Forschungsprojekts zur ökonomischen Dimension gesellschaftlicher Institutionen. Im Rahmen dieses Projekts entsteht Trade and Market in the Early Empires (1957). Da seine Frau als sozialistische Aktivistin kein Visum für die USA bekommt, zieht die Familie schließlich nach Kanada. Dort wendet Polanyi sich immer stärker der Anthropologie zu. Am 23. April 1964 stirbt er in Pickering, Ontario.

Karl Polanyi attestiert der westlichen Kultur eine tief greifende Krise. Die Auseinandersetzung mit Polanyis Arbeiten kann zu einem tieferen Verständnis der Herausforderungen einer technisch-wissenschaftlichen Zivilisation beitragen. Doch was folgt aus seiner Analyse für die Gestaltung einer großen Transformation?



Damit der Kapitalismus funktioniert, ist er auf einen Arbeitsmarkt angewiesen, denn auch die Arbeitskraft ist eine Ware. Heute ist das eine Selbstverständlichkeit, doch in den Anfängen des kapitalistischen Systems war dies keineswegs der Fall: Während Ende des 18. Jahrhunderts in England die Industrialisierung bereits rasant wuchs und ein bürgerliches Unternehmertum entstand, sorgte ein Armengesetz dafür, dass kein freier Arbeitsmarkt sich etablieren konnte. Es gab eine verwunderliche Gleichzeitigkeit von Fortschritt und Rückschritt zu beobachten, als 1795 Friedensrichter in Speenhamland in Berkshire ein Aufstockermodell ins Leben riefen, das die Landarbeiter vor Verarmung beschützen sollte. Dieses aus gutem Ansinnen erdachte System war ein letzter Ausläufer des feudalen Paternalismus, der gleichzeitig im krassen Gegensatz zu den allgemeinen Entwicklungen in den Städten und im Welthandel stand – denn die moderne Wirtschaftswelt gierte nach Arbeitskräften. Unternehmer suchten dringend Menschen, die ihre Subsistenzwirtschaft hinter sich ließen, um möglichst viel in Fabriken zu schuften. Das ging nur mit Zuckerbrot und Peitsche. Dem aber stand das Speenhamland-System im Wege, das noch bis 1834 galt. In der neuen Folge von „Wohlstand für Alle“ ergründen Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt die Entstehung des modernen Arbeitsmarkts.




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