aus NZZ: In Tigray braucht es dringend einen Dialog – die Alternative ist das Chaos
Im Tigray-Krieg hat sich das Blatt gewendet. Das kann ein gutes Zeichen sein – oder es kann ins Desaster führen. Vieles hängt davon ab, ob es gelingt, die Parteien an einen Tisch zu bringen.
Die Rebellen in Tigray haben die äthiopische Armee weitgehend aus der Region vertrieben und wichtige Städte zurückerobert, unter anderem die Hauptstadt Mekele. Dort wurden die Kämpfer der Tigray Defense Forces (TDF) von der Bevölkerung auf Händen getragen, beklatscht und mit Sprechchören gefeiert.
Damit tritt der Krieg in Tigray, der zwei Millionen Menschen vertrieben und Hunderttausende an den Rand des Hungertods gebracht hat, plötzlich in eine neue Phase. Es ist eine Phase, die Chancen öffnet – aber auch komplett ins Chaos führen kann. Alles hängt davon ab, ob es gelingt, die Kriegsparteien möglichst bald zu Gesprächen zu bewegen. Wenig deutet zurzeit darauf hin.
Nach dem Abzug ihrer Truppen aus Mekele veröffentlichte die äthiopische Regierung eine Erklärung, die zynisch wirkt: Sie erklärte eine Waffenruhe. Hilfsorganisationen und Diplomaten hatten seit Monaten einen Waffenstillstand gefordert, damit humanitäre Hilfe zu der notleidenden Zivilbevölkerung gelangen kann. Die Regierung ignorierte die Rufe, solange sie glaubte, der Sieg sei nahe. Erst als ihre Truppen aus Mekele vertrieben waren, hatte sie nichts mehr dagegen, die Waffen schweigen zu lassen.
Ein Sprecher der Rebellen bezeichnete die Waffenruhe gegenüber der Nachrichtenagentur AFP als Witz. Die TDF, sagte er weiter, würden bis nach Addis Abeba oder in die eritreische Hauptstadt Asmara marschieren, wenn das nötig sei, um Tigray zu verteidigen.
So viel ist bisher an gutem Willen und Dialogbereitschaft da: so gut wie nichts.
Der Mann, der das am ehesten ändern könnte, ist Ministerpräsident Abiy Ahmed. Abiy, der nach seinem Amtsantritt 2018 versprochen hatte, das ethnisch fragmentierte Äthiopien zu einen, hat das Land stattdessen an den Rand des Zusammenbruchs geführt. Es brennt nicht nur in Tigray, sondern zum Beispiel auch in Abiys Herkunftsregion Oromia. Dort bekämpfen Rebellen einen Zentralstaat, den sie als überheblich und autoritär wahrnehmen. Doch den Dialog zu suchen, wäre untypisch für den charismatischen Ministerpräsidenten, dem nachgesagt wird, er sei zu sehr von sich selber eingenommen, als dass er seinen Handlungsspielraum realistisch einschätzen könnte.
Den Dialog zu suchen, wäre auch untypisch für die Rebellen in Tigray, deren Anführer die äthiopische Politik während dreier Jahrzehnte mit wachsender Arroganz dominiert hatten. Als Abiy an die Macht gelangte, zogen sie sich beleidigt in ihre Herkunftsregion zurück.
Dialogbereitschaft wäre auch untypisch für Äthiopien – ein Land, in dem die meisten Politiker entlang ethnischer Linien politisieren und nie so etwas wie eine Kompromisskultur ausgebildet haben. Und doch wird es Dialog brauchen. Wenn er nicht durch die Einsicht der Konfliktparteien herbeigeführt wird, dann vielleicht dadurch, dass die Situation zuerst noch viel schlimmer wird.
Es führt kein Weg vorbei am Dialog – die Alternative ist das Chaos. Die beste Art, ein Einsehen der Konfliktparteien zu beschleunigen, ist internationaler Druck. Diese Woche noch soll der Sicherheitsrat über Tigray beraten. Ein starkes Statement des Gremiums, das sich selten auf starke Statements verständigen kann, wäre höchst willkommen.
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