Gletscher in den Alpen schmelzen schneller als je zuvor - und 2022 war ihr bisher schlimmster Sommer


Autor Neil Entwistle
Professor für Flusswissenschaft und Klimaresilienz, Universität Salford
Nach dem wohl schlimmsten Sommer aller Zeiten für die Gletscher hat es in den europäischen Alpen endlich zu schneien begonnen. Das ist auch bitter nötig. In den 19 Jahren, in denen ich die Gletscher in der Schweiz besucht und studiert habe, habe ich noch nie einen Sommer wie 2022 erlebt. Das Ausmaß der Veränderungen ist atemberaubend.
Glaziologen wie ich haben früher das Wort "extrem" verwendet, um einen jährlichen Eisverlust von etwa 2 % des Gesamtvolumens eines Gletschers zu beschreiben. In diesem Jahr haben die Schweizer Gletscher im Durchschnitt 6,2 % ihres Eises verloren - in der Tat extrem.
Das neue Schneegestöber bildet eine schützende Decke, die 90 % der Sonneneinstrahlung zurück in die Atmosphäre reflektiert und die Erwärmung und das Schmelzen des darunter liegenden Eises begrenzt. Wenn der Schnee im Winter fällt und im Sommer nicht schmilzt, erhöht er die Masse eines Gletschers. Im Laufe einiger ähnlicher Jahre würde sich die Schwerkraft durchsetzen und die Gletscher würden beginnen, bergab zu wandern.
Im letzten Jahrhundert war dies jedoch nicht der Fall. Die schützenden Schneeschichten waren nicht dick genug, um die Erwärmung der Sommertemperaturen auszugleichen, und im Durchschnitt schwinden die Gletscher weltweit seit dem Ende der kleinen Eiszeit Mitte/Ende des 19.
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Saharasand und eine große Hitzewelle
Zurück zu diesem Sommer. In den Alpen war der vorangegangene Winter sehr schneearm und die Gletscher waren daher nicht gut gegen die bevorstehende Sommerschmelze isoliert.
Der Frühling war besonders hart, da natürliche atmosphärische Wettermuster Saharastaub nach Europa trugen und die Alpenlandschaft bedeckten. Da Staub mehr Sonnenenergie absorbiert als Schnee (der weiß ist und daher besser reflektiert), schmolz der nun orange gefärbte Schnee schneller als je zuvor.
Dann brach eine große Hitzewelle in ganz Europa die Temperaturrekorde, und Teile des Vereinigten Königreichs erreichten zum ersten Mal 40 °C. Auch die Alpen blieben nicht verschont. So wurden in Zermatt, einem berühmten autofreien Schweizer Dorf im Schatten des Matterhorns, Temperaturen von bis zu 33°C gemessen, obwohl es 1.620 Meter über dem Meeresspiegel liegt.
Vor allem die Gletscher wurden stark in Mitleidenschaft gezogen. Im Juli sahen die Alpen so aus, wie sie normalerweise im September aussehen: schneefrei, mit schnee- und eisgespeisten Flüssen, die auf ihrem Höhepunkt fließen. Das war nicht normal.
Das letzte Mal, dass die Gletscher eine extreme Schmelzsaison erlebten, war 2003, als die Temperaturen in ganz Europa ebenfalls sehr hoch waren und eine Hitzewelle mindestens 30 000 Menschen tötete (mehr als 14 000 allein in Frankreich). In jenem Kalenderjahr schmolzen in der Schweiz 3,8 % des Gletschereises.
In diesem Jahr wurde in Zermatt zum ersten Mal der Sommerskibetrieb eingestellt. Bergführer führten keine Hochgebirgsexpeditionen mehr durch, da der Permafrost - der gefrorene Boden, der die Felsen zusammenhält - auftaut und fast ständig Felsstürze verursacht. Der Mont Blanc war geschlossen.
50 Jahre Daten
Dass wir dies in einen historischen Kontext stellen können, verdanken wir zum Teil der Arbeit der gemeinnützigen Organisation Alpine Glacier Project, die 1972 gegründet wurde und zusammen mit der Universität Salford, an der ich arbeite, seit 50 Jahren jeden Sommer wissenschaftliche Expeditionen zu den Gletschern in der Nähe von Zermatt durchführt.
Zahlreiche Studenten haben dazu beigetragen, die Auswirkungen der Klimaerwärmung zu beobachten, indem sie die Veränderungen des Schmelzwassers chemisch überwachten, die Landschaft topografisch vermaßen und über die Jahre hinweg von derselben Position aus Fotos machten. In den fünf Jahrzehnten des Projekts haben sich der Gornergletscher und der Findelgletscher um 1.385 Meter bzw. 1.655 Meter zurückgezogen.
Drei Fotos der Bergkette mit dem immer kleiner werdenden Gletscher
Gleiche Ansicht des Gornergletschers bei Zermatt in den Jahren 1920, 1972 und 2022. Projekt Alpengletscher, David Collins, Neil Entwistle
Zwei Fotos eines Bergtals mit grösserem und kleinerem Gletscher
Links: Studenten der University of Salford bei einem Besuch auf einem Alpengletscher im Jahr 2009 mit Blick auf die Zunge des Gornergletschers. Rechts die gleiche Ansicht im Jahr 2022. Neil Entwistle
In der Schweiz wird das Schmelzwasser der Gletscher für die Wasserkraft genutzt. Tatsächlich durchläuft das Wasser, das auf 93 % der Fläche der Schweiz fällt, mindestens ein Elektrizitätswerk, bevor es das Land überhaupt verlässt. Eine Folge davon ist, dass die schmelzenden Gletscher dazu beitragen, die geringen Niederschläge in Dürrezeiten auszugleichen, indem sie Stauseen füllen und so die Energieversorgung des Landes sicherstellen.
Man könnte argumentieren, dass nicht alle Gletscher gleichermaßen von dem katastrophalen Rückzug und Eisverlust dieses Sommers betroffen waren. Zum Teil ist das auch richtig. Das Ausmaß, in dem ein Gletscher geschmolzen ist, hängt von der Höhe ab, in der er sich befindet, wie steil die Gletscherzunge ist und wie stark sie mit Schutt bedeckt ist. Auch lokale Klimafaktoren können eine Rolle spielen.
Eine soeben veröffentlichte Studie zeigt jedoch, dass auch die österreichischen Gletscher im Jahr 2022 mehr Gletschereis verloren haben als in den letzten 70 Jahren, in denen sie beobachtet wurden.
Der Besuch und die Betrachtung von Hochgebirgslandschaften ist ein atemberaubendes Erlebnis, aber ich befürchte, dass die anhaltende Eisschmelze und die extremen Temperaturen in diesem Jahr keine Anomalie sind. Viele weitere Gletscher könnten innerhalb einer Generation völlig verschwunden sein.
übersetzt aus: Glaciers in the Alps are melting faster than ever – and 2022 was their worst summer yet (theconversation.com)