General von Trotta: «Ich glaube, dass die Nation als solche vernichtet werden muss»
Aktualisiert: 29. Mai 2021
Es ist doch erstaunlich, dass das deutsche Militär innerhalb von 40 Jahren zwei Mal einen Genozid verübt hat. Ich denke, dass der Genozid an den Herero und Nama bereits auf vieles verweist, was im Zweiten Weltkrieg beim Vernichtungskrieg in Osteuropa sowie beim Holocaust ganz massiv zutage trat.Für die deutschen Soldaten war es möglich, ihr Verhalten als ein ganz normales Verhalten in kolonialen Territorien, denn als solches sahen sie Osteuropa an, zu sehen und zu rechtfertigen. Der "Generalplan Ost" beispielsweise sah vor, Millionen Menschen aus Polen und der westlichen Sowjetunion nach Sibirien zu deportieren, wissend, daß die meisten zugrunde gehen würden - ganz so hatte man es mit den Herero in der Omaheke gemacht. In beiden Fällen ging es darum, Völker zu vernichten.
Denkmal zur Erinnerung an den von deutschen Kolonialtruppen begangenen Völkermord an den Herero und Nama (etwas 1904-1907) im Zentrum der namibischen Hauptstadt Windhoek. Die Inschrift laut übersetzt etwa: "Ihr Blut nährt unsere Freiheit".

Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen hat die Kolonialzeit relativ wenig Spuren hinterlassen.
Während Briten, Franzosen, Spanier oder Niederländer immer wieder intensiv darüber diskutierten, was ihre Vorfahren in ihren überseeischen Besitzungen taten, interessierten sich in Deutschland lange Zeit nur wenige für derartige Fragen. Zwischen 1904 und 1908 schlugen
deutsche Truppen im heutigen Namibia Aufstände der Herero und der Nama nieder. Insgesamt wurden 65 000 Herero und 10 000 Nama getötet; damit wurden über 80 Prozent der Herero und rund die Hälfte der Nama getötet. «Ich glaube, dass die Nation als solche vernichtet werden muss», schrieb der deutsche Generalleutnant Lothar von Trotha über die Herero. Historiker sprechen vom ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts.
Historiker sprechen vom ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts.
Dieser Sichtweise hat sich die deutsche Regierung nun angeschlossen. «Wir werden die Ereignisse jetzt auch offiziell als das bezeichnen, was sie aus heutiger Perspektive waren: ein Völkermord», sagte der deutsche Aussenminister Heiko Maas am Freitag. Berlin werde «Namibia und die Nachkommen der Opfer mit einem substanziellen Programm in Höhe von 1,1 Milliarden Euro zum Wiederaufbau und zur Entwicklung unterstützen», kündigte Maas an. Zudem soll Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier noch dieses Jahr bei einem Staatsakt im namibischen Parlament um Vergebung bitten. Der Einigung zwischen Berlin und Windhoek, die zu diesen Schritten führte, waren über fünf Jahre Verhandlungen vorausgegangen, die am 15. Mai endeten.
Dass die Verhandlungen so viel Zeit in Anspruch nahmen, führt Polenz neben Corona auch auf eine Klage in New York zurück, die verzögernd gewirkt habe: 2017 reichten Vertreter der Herero und der Nama vor einem dortigen Bezirksgericht eine Sammelklage ein, um Schadensersatz in Milliardenhöhe zu erstreiten. Das Deutsche Reich habe mit Geldern aus dem Landraub an den Herero und den Nama Immobilien in New York erworben, darunter das Gebäude, in dem sich heute die Botschaft der Bundesrepublik bei der Uno befinde, argumentierten die Beschwerdeführer. Ihre Klage wurde 2019 abgelehnt.
Mit dem Geld, das nun von Deutschland nach Namibia fliessen wird, sollen vor allem Projekte in den Regionen gefördert werden, in denen Herero und Nama ansässig sind, etwa im Bereich der Landwirtschaft, beim Ausbau der Infrastruktur, bei der Wasserversorgung und der Berufsbildung. Aus der Anerkennung des Genozids ergäben sich keine rechtlichen Ansprüche auf Entschädigung, betonte der deutsche Aussenminister Heiko Maas.
Während sich Heiko Maas «froh und dankbar» darüber zeigte, dass es gelungen sei, mit Namibia «eine Einigung über einen gemeinsamen Umgang mit dem dunkelsten Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte zu erzielen», äusserte sich die namibische Seite zurückhaltender: Dass Berlin anerkenne, dass ein Völkermord begangen worden sei, sei «der erste Schritt in die richtige Richtung», erklärte ein Sprecher des namibischen Präsidenten Hage Geingob.
Ein Interview mit Israel Kaunatjike, Aktivist für die Herero und Nama zum Begleitheft „Kolonialismus“ des Deutschen Historischen Museums.
Eine Beleidigung für Namibia?
Ganz anders klang das aus den Reihen der namibischen Opposition. Dort meinen manche, anstatt Geld an die namibische Regierung zu überweisen, solle Deutschland lieber Reparationen an die Nachkommen der Opfer zahlen. Eine Abgeordnete der grössten Oppositionspartei bezeichnete die Einigung gar als Beleidigung für Namibia. Der Oppositionsführer Mike Kavekotora warf der eigenen Regierung vor, Vertreter der Herero und der Nama von den Verhandlungen ausgeschlossen und kein gutes Ergebnis erzielt zu haben.
«Besonders laut kommt die Kritik von denen, die selbst mit am Verhandlungstisch sitzen wollten, aber von der namibischen Regierung nicht dafür ausgewählt wurden», sagt Polenz. Wie es nun zwischen Deutschen und Namibiern weitergeht, mag auch er nicht vorhersagen.
Herero lehnen Einigung ab
Nach jahrelangen Verhandlungen erkennt Deutschland die Verbrechen an Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 als Völkermord an - und verspricht als "Geste der Anerkennung" einen Milliardenbetrag. In Namibia sorgt die Einigung für gemischte Reaktionen. Präsident Hage Geingob bezeichnet die Anerkennung des Völkermords als "ersten Schritt in die richtige Richtung". Die Opposition wirft der Regierung lokalen Medien zufolge derweil Schwäche vor - mit dem nötigen Standvermögen, so die Kritik, hätte man mehr erreichen können. Auch im Herzen der namibischen Hauptstadt Windhoek hat die Einigung hohe Wellen geschlagen. Vor der Christuskirche haben sich am Freitagmorgen Vertreter der Nama und der Herero zu Protesten versammelt. Die angebotene Summe von 1,1 Milliarden Euro Aufbauhilfe über einen Zeitraum von dreißig Jahren wollen sie nicht hinnehmen. Zu den Demonstrierenden zählt auch Chief Boas Tjingaete. Er ist Pastor und zugleich das traditionelle Oberhaupt von Otjombinde, einer Gemeinde im Osten Namibias. Im Gespräch mit ntv.de spricht er über den Schmerz und die Verluste der Herero und Nama - und erklärt, warum sich die Bevölkerungsgruppen nach wie vor übergangen fühlen. ntv.de: Chief Boas Tjingaete, Sie sind heute nach Windhoek gekommen, um gegen die Einigung Namibias mit Deutschland zu protestieren. Boas Tjingaete: Ja, denn sie wurde nicht in unserem Sinne getroffen. Wir - die Herero und Nama - stimmen dem Ganzen nicht zu. In all der Zeit hat unsere Regierung nur Leute aus den eigenen Reihen mit den Verhandlungen betraut. Wir Betroffenen konnten die Gespräche nur aus der Ferne verfolgen, denn mit uns wollte sich niemand an einen Tisch setzen. Jetzt haben wir erfahren, dass die deutsche Regierung den Völkermord anerkennen will. Von deutscher Seite selbst haben wir es aber nie direkt gehört. Unsere Leute haben es nur übermittelt.
Was stört Sie besonders an der erzielten Einigung? Die deutsche Regierung spricht von Restitution und Versöhnung, uns geht es aber um Entschädigung und Wiedergutmachung. Das sind zwei völlig unterschiedliche Sachen. Entschädigungen werden international anerkannt. Das ist der Weg, den gehen wir wollen. Nicht den durch die Hintertür.
Deutschland will Namibia in den nächsten dreißig Jahren 1,1 Milliarden Euro Aufbauhilfe zahlen. Viele Betroffene betrachten diese Summe als "Ausverkauf", wie bei den Protesten zu hören war. Was fordern Sie stattdessen? Die Summe, über die wir jetzt sprechen, ist bei weitem nicht genug. Dazu kommt, dass wir nicht wissen, wer das Geld schlussendlich bekommen wird. Die deutsche Regierung hat Namibia in den vergangenen Jahren Zuschüsse gegeben, und unsere Regierung hat sie immer wieder hinter ihrem Rücken verschwinden lassen. Wir haben keinen blassen Schimmer, was mit dem Geld passiert ist.
Wie würden sie die Situation der Nama und Herero heute beschreiben? Wir haben in Folge des Völkermordes sehr viel verloren, zunächst einmal unser Land. Wir wurden in Reservate vertrieben, wo wir nun zusammenleben. Auch unser Besitz wurde uns genommen. Als die Deutschen im heutigen Namibia an die Macht kamen, haben sie uns unsere Rinder und Tiere genommen, ohne auch nur einen Cent zu bezahlen. Sie haben uns in die Armut getrieben. Aber nicht nur Menschen in Namibia sind betroffen. Viele unserer Verwandten sind in die Nachbarländer gezogen. Der Großteil meiner Familie mütterlicherseits lebt in Botswana. Ihre Lebensbedingungen sind grauenhaft. Sie haben ihre gesamte Kultur verloren. Schließlich haben sie ihre Eltern oder Großeltern nie kennengelernt. Sie singen Herero-Lieder, verstehen aber kein einziges Wort - wir müssen uns auf Englisch verständigen. Was soll aus ihnen werden? Auch sie müssen entschädigt werden. Unsere Regierung kümmert sich kein bisschen um sie. Außerdem, und das ist der wichtigste Punkt: Wir haben unzählige Leben verloren. Die Leben derer, die brutal ermordet worden sind. Gerne würde ich der deutschen Regierung heute sagen: Ihr müsst nichts zahlen, ihr müsst mich nicht entschädigen - bringt einfach nur meine Leute zurück. Wir könnten 70 Milliarden Euro fordern - selbst das wäre immer noch nicht genug für all die verlorenen Leben, die Ländereien und Tiere, die Kultur. Wir erheben unsere Stimmen und protestieren, aber innerlich weinen wir. Es ist schmerzhaft, wirklich schmerzhaft. Wir wollen, dass die Welt uns zuhört, dass sie von unserem Schmerz weiß - und versteht, warum wir eine angemessene Entschädigung fordern. Mit Boas Tjingaete sprach Annika Brohm
Quelle: ntv.de
https://www.n-tv.de/politik/Es-ist-schmerzhaft-wirklich-schmerzhaft-article22583813.html
Verein Berlin Postkolonial kritisiert Abkommen mit Namibia
In Deutschland erklärte die Aktivistenvereinigung „Berlin Postkolonial“, die sich für die Aufarbeitung deutscher Kolonialverbrechen einsetzt, die Vereinbarung werde keine Versöhnung stiften, sondern „Frustration und Unfrieden“. Nach wie vor erkenne Deutschland den Völkermord in Namibia nicht völkerrechtlich – also mit einer Wiedergutmachungspflicht – an, „vielmehr stellt es seine Leistungen gegenüber Namibia als freiwillige Hilfsaktion dar“.
"Fatal" sei zum einen der Ausschluss der regierungsunabhängigen Opferverbände in Namibia und der deutschen Zivilgesellschaft aus dem Verhandlungsprozess. Die von den bilateralen Gesprächen ausgeschlossenen Vertretungen der Nachfahren der damals am meisten betroffenen Bevölkerungsgruppen dürften im Versöhnungsprozess nicht ignoriert werden. "Ohne sie ist eine Versöhnung - die sich nicht erzwingen lässt - undenkbar!".
Zudem protestierte der Verein "gegen die anhaltende Nichtanerkennung des Genozids im völkerrechtlichen Sinne und die fortdauernde Verweigerung von Reparationsleistungen" durch Deutschland.
Die Kritik des Vereins bezieht sich auch darauf, dass die Vereinbarung trotz finanzieller Unterstützungsleistungen für die Herero und Nama in Milliardenhöhe vor allem ein symbolischer Akt ist: Zwar bittet die Bundesregierung nach jahrelangen Verhandlungen mit Windhoek für die Gräueltaten der Jahre 1904 bis 1908 um Entschuldigung. Zudem stellt sie ein Hilfsprogramm für Namibia in Höhe von 1,1 Milliarden Euro bereit. Doch die Bundesregierung betont zugleich, dass sich aus ihrer Anerkennung des Völkermords und der Gründung des Hilfsfonds keine rechtlichen Ansprüche auf Entschädigung ergeben. Es sind also keine Reparationsleistungen.
Deutschland erkenne keine Wiedergutmachungspflicht an, vielmehr stelle es seine Leistungen gegenüber Namibia "als freiwillige Hilfsaktion dar", kritisierte entsprechend Berlin Postkolonial. So erkläre sich die Bundesregierung lediglich zur finanziellen Unterstützung von sozialen Projekten in den vom Völkermord besonders betroffenen Regionen bereit. Die in einer finanziellen Notlage steckende namibische Regierung habe die von ihr verkündeten Ziele einer vollumfänglichen, also auch völkerrechtlichen Anerkennung des Genozids, einer offiziellen Entschuldigung von deutscher Seite sowie von Reparationsleistungen durch Deutschland nicht durchsetzen können, stellte der Verein fest.
Auch in Namibia wurde die Ankündigung teils mit deutlicher Kritik aufgenommen. In der Hauptstadt Windhuk kam es unter anderem vor der deutschen Botschaft zu Protesten.
Berliner Herero-Aktivist zur Einigung mit Namibia: „Heiko Maas hat keine Ahnung“
Israel Kaunatjike kämpft schon lange für die Anerkennung des Genozids an Herero und Nama durch Deutsche. Doch die Einigung mit Namibia nennt er einen Skandal.
Berliner Zeitung: Herr Kaunatjike, ist das für Sie ein guter Tag?
Israel Kaunatjike: Nein. Und nicht nur ich bin nicht zufrieden, sondern auch die Verbände in Namibia, die die Mehrheit der Herero und Nama vertreten. Die waren nicht in die Gespräche involviert. Die Bundesrepublik Deutschland schließt einen Vertrag mit der namibischen Regierung. Und diese ist nicht dazu autorisiert, über unsere Geschichte zu verhandeln. Man muss doch mit den Leuten reden, die von der Vernichtung betroffen waren. Und das in Aussicht gestellte Hilfsprogramm für Namibia in Höhe von 1,1 Milliarden Euro ist Entwicklungshilfe und hat mit Reparationen überhaupt nichts zu tun. Das Wort wird auch nicht mehr in den Mund genommen, denn die deutsche Regierung hat Angst, einen Präzedenzfall zu schaffen.
KolonialismusDie Anerkennung des Völkermords ist eine geschichtspolitische Zäsur
Wer ist denn die namibische Regierung?
Diese Regierung ist korrupt. Das sind Diebe.
Sind Angehörige der Herero und Nama in dieser Regierung?
Nein. Die Regierung besteht aus Mitgliedern der Swapo-Partei. Das sind Ovambo, eine Volksgruppe aus dem Norden, die gar nicht von dem Völkermord betroffen war und die sich nie für das Thema interessiert hat. Die namibische Regierung interessiert sich nur für das Geld, sie ist nämlich pleite. Und Deutschland hat das noch nicht kapiert. Trotz all der Entwicklungshilfe, die Deutschland in das Land gepumpt hat, ist Namibia noch ärmer geworden. Auch die Herero und Nama sind ärmer geworden. Willy Brandt war das gute Vorbild. Er ist in Warschau auf die Knie gegangen. Warum geht Herr Steinmeier nicht an die Orte, an denen die Herero und Nama vernichtet worden sind?
KolonialismusDeutschland erkennt Verbrechen in Namibia als Völkermord an
Krieg in Südwestafrika Der erste deutsche Völkermord
Der Bundestag hat einen Antrag der Linksfraktion abgelehnt, in dem diese fordert, das Parlament möge den Krieg gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika als Völkermord anerkennen. Bislang weigert sich die Bundesregierung strikt, das Vorgehen der deutschen Kolonialtruppen im heutigen Namibia zwischen 1904 und 1908 so zu bezeichnen. Unter Historikern ist die Debatte längst weiter: Sie diskutieren, inwieweit es eine Kontinuität zwischen dem Völkermord an den Herero und Nama und dem Holocaust sowie dem Zweiten Weltkrieg in Osteuropa gibt. n-tv.de: Lassen Sie uns zunächst klären, warum das Vorgehen der Deutschen gegen die Herero und Nama ein Völkermord war. KRIEG UND VÖLKERMORD, 1904 BIS 1908
Das heutige Namibia war von 1884 bis 1915 deutsche Kolonie. 1904 bekämpften die deutschen Truppen den Widerstand der Herero. Später nahmen auch die Nama, die im Süden des Landes lebten und von den Deutschen "Hottentotten" genannt wurden, den Kampf gegen die Kolonialisten auf. Die meisten Historiker werten den Krieg gegen Herero und Nama als Völkermord, da das Ziel nicht nur Sieg und Unterwerfung waren, sondern Vertreibung und Vernichtung. Gesicherte Zahlen gibt es nicht, man schätzt, dass 50 bis 70 Prozent der bis zu 100.000 Herero, die um 1900 in Südwestafrika lebten, ums Leben kamen. Von den rund 20.000 Nama kamen bis zu 50 Prozent ums Leben. Tausende starben in Konzentrationslagern, die errichtet wurden, um den Kämpfern die Unterstützung durch die Einheimischen zu entziehen. Zu den verfolgten Völkern gehörten auch die Damara und San. Offiziell wurde das Ende des Kriegs am 31. März 1907 erklärt. Erst 1908 wurden die letzten Konzentrationslager aufgelöst. Jürgen Zimmerer: Ein Genozid ist nicht nur das Ermorden von Menschen, sondern das gezielte Zerstören von Gemeinschaften und Gesellschaften. Das war hier zweifellos gegeben. Die Herero und Nama haben als Gesellschaften zwar überlebt, aber sie mussten sich nach 1908 im Untergrund teilweise neu erfinden. Auch unterdrückten die Deutschen nach dem Krieg jedes Herero-Bewusstsein. Genozid und Nachkriegszeit lassen sich nicht sauber trennen. Als Beleg für das Völkermord-Argument wird immer wieder die berüchtigte Proklamation von Generalleutnant Lothar von Trotha vom 2. Oktober 1904 zitiert, in der es heißt, innerhalb der deutschen Grenze werde "jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen". Zwei Monate später wurde dieser Befehl von Kaiser Wilhelm II. aufgehoben. Ist das nicht ein Indiz, das die Deutschen entlastet? Diese Proklamation hat den Völkermord nicht angeordnet, der war im Oktober 1904 längst im Gange. Schon seit der Flucht der Herero in die wasserlose Omaheke-Halbwüste nach der Schlacht vom Waterberg im August metzelten die deutschen Soldaten alle nieder, deren sie habhaft wurden. Die Proklamation belegt aber die Absicht, alle Herero, auch Frauen und Kinder, in die Omaheke zu treiben. Ein Todesurteil. Zum Zeitpunkt der Proklamation waren die Herero schon deutlich entkräftet, weil sie seit Wochen auf der Flucht waren. Von Trotha ließ die Omaheke absperren. Ganz gelang das nicht, aber es zeigt, dass er die Herero vollständig vernichten wollte. Dass der Vernichtungsbefehl acht Wochen nach seiner Proklamation aufgehoben wurde, war im Grunde irrelevant, denn zu diesem Zeitpunkt war der Völkermord schon in großen Teilen vollbracht. Aufgehoben wurde der Befehl auch nicht etwa, weil die Reichsregierung missbilligte, was von Trotha machte, sondern weil es im Ausland und im Reichstag kritische Stimmen gab. Außerdem band das Absperren der Omaheke Truppen, die man im Süden brauchte, denn dort hatten mittlerweile die Nama den Krieg begonnen. Kommen wir zu Ihrer These, der Völkermord an den Herero und Nama sei ein "Menetekel" gewesen "für das, was noch kommen sollte". Haben nicht auch andere europäische Nationen vergleichbare Grausamkeiten in ihren Kolonien begangen, ohne in ihren eigenen Ländern auch nur in die Nähe von Taten wie dem Holocaust zu kommen? Natürlich gab es auch andere koloniale Genozide - ein Beleg für einen deutschen "Sonderweg" ist der Völkermord von 1904 bis 1908 nicht. Aber es ist doch erstaunlich, dass das deutsche Militär innerhalb von 40 Jahren zwei Mal einen Genozid verübt hat. Ich denke, dass der Genozid an den Herero und Nama bereits auf vieles verweist, was im Zweiten Weltkrieg beim Vernichtungskrieg in Osteuropa sowie beim Holocaust ganz massiv zutage trat.
Sie meinen, es gibt eine Verbindungslinie zwischen dem ersten deutschen Genozid und dem Holocaust? Es gibt keine Kausalität, aber eine Kontinuität zwischen dem Völkermord in Südwestafrika und dem Holocaust. Die Frage ist doch, wie es dazu kommen konnte, dass so viele Deutsche sich am Holocaust und am Vernichtungskrieg in Osteuropa beteiligten. Und eine Antwort ist: Für die deutschen Soldaten war es möglich, ihr Verhalten als ein ganz normales Verhalten in kolonialen Territorien, denn als solches sahen sie Osteuropa an, zu sehen und zu rechtfertigen. Der "Generalplan Ost" beispielsweise sah vor, Millionen Menschen aus Polen und der westlichen Sowjetunion nach Sibirien zu deportieren, wissend, daß die meisten zugrunde gehen würden - ganz so hatte man es mit den Herero in der Omaheke gemacht. In beiden Fällen ging es darum, Völker zu vernichten. Um "Lebensraum" für deutsche Siedler zu erschließen. Der Begriff "Volk ohne Raum", der für die Nazis ganz zentral war, geht ja zurück auf den gleichnamigen Roman von Hans Grimm aus dem Jahr 1926, der in Südafrika und Südwestafrika spielt. Dieser Begriff wanderte gewissermaßen nach Osteuropa. Hitler sagte es ausdrücklich: Er wollte ein koloniales Empire, aber nicht jenseits der See. Schließlich war das deutsche Kolonialreich gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs von der Royal Navy isoliert worden und für den Krieg in Europa damit bedeutungslos. Aber die Vernichtung der europäischen Juden hatte mit der Schaffung von Lebensraum doch nichts zu tun. Dennoch gibt es Parallelen zwischen dem Antisemitismus und dem Kolonialrassismus - vor allem die Dehumanisierung, die Entmenschlichung von Menschen, ohne die ein solcher Massenmord nicht möglich ist. Gab es eine Besonderheit beim Völkermord in Südwestafrika im Vergleich zu anderen kolonialen Genoziden? Das Singuläre am kolonialen Völkermord der Deutschen ist der Plan, Südwestafrika zu einer Art Musterstaat zu machen. Ich nenne das den "Wahn der Planbarkeit" - als könnte man ein Land, das doppelt so groß ist wie das Deutsche Reich, auf dem Reißbrett so gestalten, dass es perfekt funktioniert, natürlich nach dem Muster einer rassistischen Privilegiengesellschaft. Eine solche Planung gibt es in anderen Kolonien nicht. Auch dabei gab es einen Transfer von Übersee nach Osteuropa: Diesen Planungsgedanken gab es beim Holocaust und beim Krieg in Osteuropa ebenfalls. Wie fanden Sie das Verhalten der Bundesregierung im vergangenen Herbst, als eine namibische Delegation 20 Schädel von Herero und Nama in Berlin in Empfang nahm, um sie nach Namibia zu bringen? Kein Minister empfing die Delegation, die Übergabe wurde nicht von der Bundesregierung, sondern von der Charité organisiert, dabei gab es nur eine kurze Ansprache von Staatsministerin Cornelia Pieper. Da hat sich die Bundesregierung blamiert, das war ein Skandal. Das ist nur dadurch erklärbar, dass man das Ausmaß und den Charakter der Gewalt in Namibia zwischen 1904 und 1908 nicht verstanden hat. Mit Jürgen Zimmerer sprach Hubertus Volmer Das Buch "Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust" von Jürgen Zimmerer jetzt im n-tv Shop bestellen.
https://www.n-tv.de/politik/Der-erste-deutsche-Voelkermord-article5822726.html
Video: Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte?
https://www.dw.com/de/aufarbeitung-ja-entsch%C3%A4digungen-nein/a-44877236
Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, von Jürgen Zimmerer
Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, von Jürgen Zimmerer. LIT-Verlag, 2011. ISBN 9783825890551 / ISBN 978-3-8258-9055-1

Aus dem Vorwort zu: Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust (Jürgen Zimmerer). 2003 veröffentlichte ich den ersten einer Reihen von Aufsätzen zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust'. Darin nahm ich Fragen auf, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges immer wieder von so unterschiedlichen Personen wie Hannah Arendt, Raphael Lemkin, Ahne Cesaire oder W. E. B. DuBois gestellt, jedoch nie ernsthaft von der historischen Fachwissenschaft diskutiert wurden.
Die Reaktionen überraschten, vor allem die Vehemenz vieler Antworten. Hatte mein Buch zur „Deutsche(n) Herrschaft über Afrikaner"2 überwiegend wohlwollende Kritik erfahren und trotz der darin nachgewiesenen deutschen Unterdrückungs- und Ausbeutungspolitik sowie der detaillierten Schilderung der Versuche der Schaffung eines totalen Herrschaftsstaates auf Grundlage einer rassenstaatlichen Ideologie keinen inhaltlichen Widerspruch erfahren, so war dies bei meinen Arbeiten zur postkolonialen Interpretation des Holocaust anders. Vor allem die Aufgeregtheit der Debatte, das sofortige Abgleiten in persönlich-diffamierende Attacken bei gleichzeitigem Fehlen jeglicher inhaltlicher Auseinandersetzung, verwundert. Meine Aufsätze hatten offenbar einen wunden Punkt getroffen. Gerade der Vergleich mit den überaus positiven internationalen Reaktionen4 auf meine Beiträge bestätigt dies. Dies legte den Verdacht nahe, dass es im Kern nicht nur um eine wissenschaftliche Frage ging, sondern auch um die deutsche nationale Identität. Wenn Verbrechen des Dritten Reiches in Traditionen standen und Vorläufer hatten, die über den Antisemitismus und die unmittelbare Vorgeschichte der Nazi-Herrschaft in der Weimarer Republik hinausgingen, dann konnten die 12 Jahre des Nazi-Herrschaft nicht mehr länger gleichsam aus der deutschen Geschichte herauspräparieren. Die strikte Scheidung der Geschichte des Dritten Reiches vom Rest der deutschen Geschichte hatte vielen geholfen, sich mit der deutschen Geschichte zu arrangieren, sie in Frage gestellt zu haben, erklärt zumindest die Emotionen, die meine Argumente weckten. Dass meine Argumente im Detail kaum von jemanden zur Kenntnis geonmen wurden, gehört ebenfalls zu den Absonderlichkeiten dieser Debatte. Viele stützen sich auf einen kurzen Artikel über den Hererokrieg Genozid in einem 2003 erstmals erschienenen Sammelband, in dem ich in nur wenigen Sätzen die mannigfaltigen Beziehungen zu den späteren Verbrechen skizzierte, nicht ohne im Apparat auf mehrere Aufsätze verweisen, welche weitere Überlegungen und Belege beinhalteten. Mit wenigen Ausnahmen wurde dies geflissentlich ignoriert. Stattdessen wurde immer wieder die fehlende Differenzierung in meiner Argumentation moniert. Bei der lückenhaften Rezeption meiner Aufsätze mag eine Rolle gespielt haben, dass sie zum einen in Zeitschriften und Sammelwerken zur deutschen, zum anderen aber auch der afrikanischen oder generell verbalen Geschichte erschienen waren: Vertreter der einen wie der anderen Region pflegen aber offenbar Organe aus dem anderen Feld einfach nicht wahr zu nehmen. Dies ist nicht unbedingt bösem Willen geschuldet, verweist jedoch auf ein strukturelles Problem einer geographisch hoch ausdifferentierten Disziplin. Aus all diesen Gründen habe ich mich entschlossen, die wichtigsten meiner Beiträge selbst in einem Band zur Verfügung zu stellen. Da es sich auch um die Belege einer Debatte handelt, habe ich bewusst auf Überarbeitungen verzichtet, auch wenn das zu einigen Redundanzen fuhren mag. Die hier versammelten Beiträge sind sicherlich nicht das letzte Wort in dieser Debatte, und wollen es auch gar nicht sein. In Zusammenschau ergeben sie jedoch ein Bild der vielfältigen Beziehungen zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus, die über Sonderwege, Kausalitäten oder rein zufällige Ähnlichkeiten hinausgehen. Sie umfassen sowohl die Kriegsführung als auch die Ausbeutungs- und Umerziehungspolitik im Nicht-Krieg sowie die ideologische Öffnung von Möglichkeitsräumen für Genozid und Vernichtungskrieg ebenso wie für die Neuordnung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft auf ,rassischer' Grundlage. [...]
Dies ist ein Auszug aus dem Vorwort zu 'Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust', von Jürgen Zimmerer.
Titel: Von Windhuk nach Auschwitz? Untertitel: Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust Reihe: Periplus Studien, Band 15 Autor: Jürgen Zimmerer Verlag: LIT-Verlag Münster, Berlin, Wien, Zürich, London, 2011 ISBN 9783825890551 / ISBN 978-3-8258-9055-1 Broschur, 16 x 23 cm, 352 Seiten
Deutsche Herrschaft über Afrikaner, von Jürgen Zimmerer
Deutsche Herrschaft über Afrikaner: Staatlicher Machtanspruch und Wirklichkeit im kolonialen Namibia, von Jürgen Zimmerer. Historische Studien, Band 10, Lit Verlag, 2000. ISBN 3825850471 / ISBN 3-8258-5047-1
Die Studie Deutsche Herrschaft über Afrikaner: Staatlicher Machtanspruch und Wirklichkeit im kolonialen Namibia legte Jürgen Zimmerer im Jahr 2000 als Dissertation an der Freiburger Universität vor.

Die Herrschaft von Europäern über Afrikaner ist ein zentrales Thema in der Geschichte der europäischen Kolonialherrschaft, bedeutet Kolonialismus doch "die Kontrolle eines Volkes über ein fremdes unter wirtschaftlicher, politischer und ideologischer Ausnutzung der Entwicklungsdifferenz zwischen beiden", wie die Definition von Wolfgang Reinhard lautet. Im modernen Kolonialstaat differenzierte sich zur Regelung dieser Beziehung innerhalb der Kolonialadministration ein eigener Politikbereich heraus, der exklusiv den Beziehungen zwischen Kolonisten und kolonisierter Bevölkerung gewidmet war: Die Eingeborenenpolitik. Diese am Beispiel der deutschen Kolonialherrschaft in Südwestafrika, dem heutigen Namibia, zu untersuchen, ist das Ziel der vorliegenden Studie. Unter Eingeborenenpolitik werden dabei alle Maßnahmen verstanden, die der koloniale Staat traf, um sein Verhältnis zur kolonisierten Bevölkerung zu regeln, sowie die von ihm erlassenen Vorschriften zum Umgang der weißen mit der ortsansässigen afrikanischen Bevölkerung. Das Verhalten von Privatpersonen gegenüber Eingeborenen gehört nur insoweit dazu, als daraus die Wirkungen bestimmter Verwaltungsmaßnahmen sichtbar oder Rückschlüsse auf die Wahrnehmung der Aufsichtspflicht der beteiligten Beamten möglich werden. Der Begriff der Eingeborenenpolitik wird jedoch weiter gefaßt als der tägliche Umgang der Verwaltung mit der indigenen Bevölkerung und schließt auch das der deutschen Politik zugrundeliegende Konzept ein, d.h. die Herrschaftsutopie, die über momentane Herrschaftsvorstellungen, also über die Regelung alltäglicher Fragen der Eingeborenenpolltik, hinausging, In Anlehnung an Trutz von Trotha meint der Begriff der Herrschaftsutopie für den Bereich der Eingeborenenpolitik die von den Beamten als Idealzustand anvisierte, dauerhafte Regelung der Verhältnisse der indigenen Bevölkerung. Einen wichtigen Platz in dieser Arbeit nimmt die Frage nach der Rolle ein, die der moderne Staat und seine Vertreter, die Beamten, in der Eingeborenenpolitik spielten, Dies ergibt sich aus der Tatsache, daß die deutsche Kolonialherrschaft zwar von relativ kurzer Dauer (1884-1915) war, die Zeit dennoch ausreichte, um die Kolonialherrschaft zu festigen, die Grundlagen für eine Siedlergesellschaft zu legen, den Großteil des afrikanischen Grundeigentums in den Besitz des kolonialen Staates zu bringen und die traditionelle Wirtschafts- und Sozialstruktur der indigenen Gesellschaften weitgehend zu zerstören. Von freien, selbständig wirtschaftenden Bewohnern ihres Landes wurde die afrikanische Bevölkerung innerhalb weniger Jahre zu besitzlosen, zu ihrem Überleben auf abhängige Arbeit angewiesenen Untertanen des Deutschen Reiches. Dieser Vorgang kolonialer Entrechtung und Unterdrückung lief in Namibia in einem Tempo ab, das nur durch die Wirksamkeit des bürokratischen Verwaltungsstaates zu erklären ist. Der zeitliche Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei auf den Jahren 1905 bis 1915, als die deutsche Verwaltung nach dem genozidalen Krieg gegen die Herero und Nama (1904-1907) mit seinen Tausenden von Opfern unter der afrikanischen Bevölkerung und der sich daraus ergebenden Veränderung der Machtverhältnisse daran gehen konnte, alle vor dem Krieg praktizierten Rücksichten fallen zu lassen und ihre direkte Herrschaft über die Afrikaner zu verwirklichen. Als Träger der Eingeborenenpolitik stehen vor allem die "kolonialen Praktiker" im Schutzgebiet, also das Gouvernement in Windhuk und die Lokalverwaltungen in den Bezirken und Distrikten, im Mittelpunkt, da sie die Eingeborenenpolitik im wesentlichen gestalteten und umsetzten, aber auch unmittelbar mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen konfrontiert waren. Allerdings schließt dies die Frage nach dem Anteil des Reichskolonialamtes an der konzeptionellen Gestaltung der Eingeborenenpolitik nicht aus. [...]
Dies ist ein Auszug aus: Deutsche Herrschaft über Afrikaner: Staatlicher Machtanspruch und Wirklichkeit im kolonialen Namibia, von Jürgen Zimmerer.
https://www.namibiana.de/namibia-information/literaturauszuege/titel/deutsche-herrschaft-ueber-afrikaner-juergen-zimmerer-3825850471-3-8258-5047-1.html