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General a. D. Kujat: Europa wankt am Rande des Abgrunds - ein Verhandlungsfrieden ist dringlich

Aktualisiert: 6. Juli 2022

Wir sind möglicherweise einer Situation wie in der Kubakrise näher als viele das für möglich halten. Mit dem Unterschied, dass das Epizentrum nicht in der Karibik, sondern in Europa läge. Es liegt also essenziell im europäischen Interesse, eine Entwicklung des Ukrainekrieges zu verhindern, die uns dieser Gefahr aussetzt. Immer häufiger betonen westliche Politiker unterdessen, dass die Waffenlieferungen „nicht nur der Verteidigung der Ukraine, sondern auch dem ukrainischen Sieg über Russland“ dienen sollen. Der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin erklärte sogar kürzlich, dass die Vereinigten Staaten „Russland so weit geschwächt sehen wollen, dass es die Dinge, die es beim Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr tun kann“. Das ist eine bedeutsame Änderung des Schwerpunktes der amerikanischen Strategie im Ukrainekrieg. „Center of Gravity“ ist nicht mehr, die Ukraine in ihrem Abwehrkampf zu unterstützen, sondern Russland als geopolitischen Rivalen zu schwächen. Denn die Strategieänderung der Vereinigten Staaten – wenn es denn eine war – zeigt, dass die Hauptakteure in diesem Krieg nicht die Ukraine und Russland, sondern die Vereinigten Staaten und Russland sind. Seit Beginn des Krieges hat es zwischen den beiden Großmächten keine Verhandlungen gegeben. Der Krieg ist an die Stelle der Diplomatie getreten. Es ist Aufgabe der Politik und ein Gebot der Vernunft, das Leiden der Ukrainer und die Zerstörung des Landes zu beenden und das Entgleiten des Krieges in eine europäische Katastrophe zu verhindern.


Ukrainekrieg

Szenarien am Rande des Abgrunds

Während die Russen den Einsatz von Atomwaffen üben, ändern die US-Amerikaner ihre strategischen Ziele in Bezug auf Russland


Harald Kujat

Auszüge aus seinem Artikel 12.06.2022


Vor einigen Tagen berichteten deutsche Medien, dass russische Streitkräfte nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums in der Oblast Kaliningrad, dem Gebiet um die frühere ostpreußische Hauptstadt Königsberg, Angriffe mit nuklearfähigen Iskander-Raketen simuliert hätten. (..) Das System ist sehr zielgenau und kann durch den Einsatz von Täuschkörpern gegnerische Abwehrsysteme durchdringen. Es können auch Marschflugköpper gestartet werden.


Atomares Säbelrasseln in Russland, aufgeladene Debatten in Deutschland

Die Nachricht des russischen Verteidigungsministeriums soll offensichtlich eine weitere Warnung sein, dass der Einsatz von Nuklearwaffen für die russischen Regierung eine realistische Option im Krieg um die Ukraine ist. (..)

Im Kern geht es darum, ob man in einem eindimensionalen Ansatz die Ukraine mit Waffenlieferungen in die Lage versetzt, einen militärischen Sieg zu erringen (zu den Kriegszielen zählt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner Botschaft zum 9. Mai auch die Rückeroberung der Krim), und das Risiko der Ausweitung des Krieges auf ganz Europa und möglicherweise eine nukleare Eskalation in Kauf nimmt oder in einem dualen Ansatz die Ukraine zwar bei der Verteidigung ihres Landes unterstützt und zugleich das Risiko eines großen europäischen Krieges und möglicherweise einer nuklearen Eskalation durch einen Verhandlungsfrieden verhindert. (..)


Die russische Regierung verfügt jedoch über eine große Bandbreite nuklearer Optionen. Und niemand weiß, ob und unter welchen Bedingungen sie Nuklearwaffen einsetzen würde. Jedenfalls sieht die russische Nuklearstrategie den Einsatz von Nuklearwaffen für den Fall einer existenziellen Bedrohung Russlands vor. Russland betrachtet die Krim als russisches Staatsgebiet. Sollte der Westen die Ukraine so stark machen, dass sie den Versuch wagen könnte, die Krim zu erobern, wäre aus russischer Sicht sicherlich eine rote Linie überschritten. (..)


Zu den zu berücksichtigenden Aspekten gehört auch, dass lediglich die Vereinigten Staaten die Fähigkeit besitzen, Russland vom Einsatz nuklearer Waffensysteme abzuschrecken. Abschreckung ist jedoch nur dann wirksam, wenn zu der Fähigkeit auch glaubwürdig der Wille kommt, nach einem nuklearen Ersteinsatz einen nuklearen Gegenangriff zu führen. (..)


Die sorgsam abgesicherte strategische Stabilität zwischen den beiden Großmächten bedeutet jedoch nicht, dass damit das Risiko eines auf Europa begrenzten Nuklearkrieges ausgeschaltet wäre. Im Gegenteil: Sollte die russische Führung der Auffassung sein, dass ein Einsatz nuklearer Kurzstreckenraketen keinen nuklearen Gegenangriff der Vereinigten Staaten auslöst, wäre das Risiko eines nuklearen Ersteinsatzes für Russland kalkulierbar. Offensichtlich ist dies der Fall. Denn der ehemalige Präsidentenberater Jelzins und Putins, Sergej Karaganow, erklärte kürzlich: „Ich weiß auch aus der Geschichte der amerikanischen Nuklearstrategie, dass die Vereinigten Staaten Europa wahrscheinlich nicht mit Nuklearwaffen verteidigen werden.“ (..)


Wir sind möglicherweise einer Situation wie in der Kubakrise näher als viele das für möglich halten. Mit dem Unterschied, dass das Epizentrum nicht in der Karibik, sondern in Europa läge. Es liegt also essenziell im europäischen Interesse, eine Entwicklung des Ukrainekrieges zu verhindern, die uns dieser Gefahr aussetzt.


Immer häufiger betonen westliche Politiker unterdessen, dass die Waffenlieferungen „nicht nur der Verteidigung der Ukraine, sondern auch dem ukrainischen Sieg über Russland“ dienen sollen. Der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin erklärte sogar kürzlich, dass die Vereinigten Staaten „Russland so weit geschwächt sehen wollen, dass es die Dinge, die es beim Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr tun kann“. Das ist eine bedeutsame Änderung des Schwerpunktes der amerikanischen Strategie im Ukrainekrieg. „Center of Gravity“ ist nicht mehr, die Ukraine in ihrem Abwehrkampf zu unterstützen, sondern Russland als geopolitischen Rivalen zu schwächen. (..)


Keine Alternative zu Verhandlungen

Denn die Strategieänderung der Vereinigten Staaten – wenn es denn eine war – zeigt, dass die Hauptakteure in diesem Krieg nicht die Ukraine und Russland, sondern die Vereinigten Staaten und Russland sind. Seit Beginn des Krieges hat es zwischen den beiden Großmächten keine Verhandlungen gegeben. Der Krieg ist an die Stelle der Diplomatie getreten. Es ist Aufgabe der Politik und ein Gebot der Vernunft, das Leiden der Ukrainer und die Zerstörung des Landes zu beenden und das Entgleiten des Krieges in eine europäische Katastrophe zu verhindern.


General a. D. Harald Kujat war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.


Ex-General Kujat: EU eskaliert unverantwortlich in Kaliningrad - Friedensverhandlungen dringlich

Ex-General Kujat: Die EU eskaliert unverantwortlich in Kaliningrad - dort geht es um Transit, nicht um Import und Export - Friedensverhandlungen sind dringlich und möglich - ich sehe keine Bemühungen, Eskalation zu einem großen Krieg und zu größerer Intensität zu verhindern; Entspannung ist dringlich. Wenn der Westen die Ukraine unterstützen würde, Donbass und die Krim zurückzuerobern, würde das ein langer Krieg sein und wäre sowieso nicht erfolgreich. Der Krieg muss jetzt so schnell wie möglich beendet werden. Und wenn Russland jetzt erklärt, dass es erreicht hat, was es will und sich damit zufrieden gibt und Friedensverhandlungen will, sollte man es tun.


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