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Frankreichs Polizei ermordete vor 60 Jahren in Paris 200 Algerier: Gefesselt in die Seine geworfen

Aktualisiert: 18. Okt. 2021

Bis in die neunziger Jahre hat man in Frankreich kaum über die ermordeten algerischstämmigen Demonstranten vom 17. Oktober 1961 in Paris gesprochen. Präsident Macron hat nun erstmals an einer Gedenkveranstaltung für sie teilgenommen.

Der Pont de Bezons westlich von Paris ist eine der Brücken, über die am Abend des 17. Oktober 1961 Tausende von Algeriern aus den Elendsvierteln im Umfeld der französischen Hauptstadt Richtung Stadtzentrum marschierten. Sie wollten dort gegen die nächtliche Ausgangssperre demonstrieren, welche die französische Regierung ihnen auferlegt hatte – nur ihnen, den «Franzosen muslimischen Glaubens». Algerien war damals französische Kolonie, in der allerdings seit sieben Jahren ein blutiger Unabhängigkeitskrieg wütete.


Der Front de libération nationale (FLN), der bewaffnete Arm der Unabhängigkeitsbewegung, mobilisierte auch in Frankreich: an jenem Abend gegen diese diskriminierende Massnahme. Einige Stunden später wurden, ebenfalls am Pont de Bezons, Leichen aus der Seine gefischt. Die nicht bewilligte Demonstration war von der französischen Polizei brutal niedergeschlagen worden. Einige der Opfer warfen die Sicherheitskräfte in den Fluss, der die Stadt im Westen in Richtung Meer verlässt.

Was an jenem Abend genau passierte und wie viele Todesopfer es gab, weiss man bis heute nicht. Schätzungsweise 12 000 Personen wurden festgenommen, geschlagen und misshandelt. Rund 200 erlagen ihren Verletzungen oder ertranken in der Seine. Der Staat war lange bemüht, die Vorkommnisse zu kaschieren. Sie ereigneten sich in einem für Frankreich heiklen Moment: In Paris ahnte man, dass man die Kolonie in Nordafrika verlieren würde. Dem FLN, der auch in Frankreich Anschläge auf die Sicherheitskräfte verübte, wollte man keine Bühne bieten. Die Toten wurden als Opfer FLN-interner Abrechnungen dargestellt. Angehörige trauten sich kaum, Aufklärung zu verlangen.


Algerien als Schwerpunkt

Ins öffentliche Bewusstsein kamen die Ereignisse dieses Abends erst in den 1990er Jahren. Damals veröffentlichte der Laienhistoriker Jean-Luc Einaudi ein Buch über das «Massaker» des 17. Oktober 1961. Doch auch wenn der Wille zur Aufarbeitung langsam erwachte, ist sie bis heute ein schwieriges Unterfangen. Entscheidendes Archivmaterial ist verschwunden oder bleibt hinter verschlossenen Türen.


Macron ist nun der erste Präsident, der an einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des blutigen Polizeieinsatzes teilnahm. Er legte am Pont de Bezons einen Blumenkranz nieder, äusserte sich aber nicht direkt. In einem Communiqué bezeichnete der Präsident später die Verbrechen, die in jener Nacht unter der Verantwortung des damaligen Polizeipräfekten Maurice Papon verübt wurden, als unverzeihlich für die Republik. Auch der aktuelle Pariser Polizeipräfekt gedachte am Sonntag zum ersten Mal der Ereignisse vor 60 Jahren.


Mit dieser Geste setzt Macron seinen Anspruch um, der Geschichte Frankreichs ins Antlitz zu schauen und die verschiedenen Erinnerungswelten, die sich aus den Konflikten der Vergangenheit ergeben haben, zu versöhnen. Macron hat dabei vor allem Algerien im Blick. Im Frühjahr jährt sich das Ende des Unabhängigkeitskriegs zum 60. Mal. Schon vor zwei Jahren hatte er anerkannt, dass die französische Armee dort systematische Greueltaten begangen hat.


Hohe Erwartungen und diplomatische Verstimmungen

Auf Empfehlung eines algerischstämmigen Historikers hat der Präsident verschiedene Schritte zur Aufarbeitung der Geschichte und zur Versöhnung unternommen. So hat er anerkannt, dass der algerische FLN-Aktivist Ali Boumendjel von der französischen Armee gefoltert und ermordet wurde. Im September entschuldigte er sich bei den Harkis, den algerischstämmigen Hilfssoldaten, dafür, dass sie von Frankreich im Stich gelassen und diskriminiert worden waren.


Die Versöhnung ist aber ein schwieriges Unterfangen. Über die Jahre sind die Erwartungen bei den verschiedenen Interessengruppen nur gestiegen. So gab es auch nach Macrons Teilnahme an der Gedenkveranstaltung vom Wochenende Kritik von Opfervereinigungen. Sie erwarten, dass die Regierung die Ereignisse als Verbrechen des französischen Staates anerkennt.

Macrons Aktivismus hat zudem jüngst die Beziehungen zu Algerien belastet. Bei einem Treffen Ende September mit Nachkommen verschiedener in den Algerienkrieg involvierter Gruppen sprach er von einer «müden» algerischen Führung, die ihre Legitimität aus dem Hass auf Frankreich ziehe. Zudem stellte er die Frage, ob es vor der französischen Kolonisation überhaupt eine algerische Nation gegeben habe. Algier rief daraufhin seinen Botschafter zu Konsultationen zurück. Auch in der Versöhnung zwischen Frankreich und Algerien bleibt noch einiges zu tun.






De Gaulle war Präsident, ein gewisser Maurice Papon, vormals Nazi-Kollaborateur, Polizeipräfekt von Paris. 1961. Die FLN, die algerische Nationale Befreiungsfront, hatte zur Demonstration aufgerufen gegen die Sperrstunde, die der Präfekt erlassen hatte. Zehntausende folgten dem Aufruf.


„Oktober 1961, Das Massaker von Paris“, hat Jean-Luc Einaudi sein Buch betitelt, das bei Pluriel erschienen ist. Was war die Ausgangslage für diesen Tag, den Abend, der blutig enden sollte? Es war die Zeit, da der sogenannte Algerienkrieg gleichsam nach Frankreich zurückkehrte, sagte Einaudi im französischen Rundfunk.


Die Verhandlungen, die zwischen der französischen Regierung und der provisorischen Regierung Algeriens begonnen hatten, waren wegen des Streits um die Zukunft der Sahara abgebrochen. Die Fronten waren verhärtet, es gab zunehmend Repressionen gegen die Algerier in der Region Paris, nicht zuletzt, weil Ende August 1961 die Gruppen der FLN eine neue Serie von Attentaten gegen Polizeikräfte begonnen hatten, aufseiten der Polizei hatte es elf Tote gegeben. Von Anfang September an, sagt der Historiker, seien dann Leichen aufgetaucht, in der Seine, in den Kanälen rund um Paris.


Man wisse inzwischen, schildert Jean-Luc Einaudi, und auch damals schon habe es Zeugen gegeben, die nur nicht gehört wurden, dass die Menschen zusammengetrieben wurden, an die Kanäle gebracht, gefesselt und ins Wasser gestoßen wurden.


Die Polizei schießt in die Menge, die gegen den Erlass der Sperrstunde an jenem Abend auf die Straße gegangen ist. Demonstranten werden in die Seine geworfen. Offiziell ist zunächst von drei Toten die Rede, eine juristische Untersuchung gibt es nicht. 1997 erst erscheint ein offizieller Bericht, der die Zahl der Toten auf 31 nach oben korrigiert, ohne korrekt zu sein, wie der Historiker Jean-Luc Einaudi in seinem Buch schreibt.


Nehme man alle Opfer zusammen, die des 17. Oktober und alle Toten, die schon zuvor in den Gewässern rund um Paris gefunden wurden, dann stünden auf seiner Liste 384 Opfer, aber die Zahl sei vermutlich höher, es gebe ungeklärte Fälle und Vermisste, bis heute.


In Frankreich und in Algerien wird heute der Opfer gedacht. Die Demonstranten fordern, dass der französische Staat die Tat offiziell einräume, sich entschuldige. Leider, so sagt der Historiker Einaudi, folge der Staat bis heute den Lügen eines Maurice Papon.

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