Bekanntlich hat der russische Präsident Wladimir Putin jahrzehntelang intensiv für eine Kooperation und einen einheitlichen Wirtschafts- und Kulturraum von Wladiwostok bis Lissabon geworben, zum Beispiel 2001 in seiner denkwürdigen Rede im Deutschen Bundestag. Aber jede Annäherung wurde strikt unterbunden und Russland mehr und mehr von der NATO eingekreist. Die Folgen dieser verantwortungslosen Politik, die allein den Interessen der USA dient, trägt die Bevölkerung Europas diesseits und jenseits der neu geschaffenen Frontlinie.
Geopolitik im Schatten des Unilateralismus
Veröffentlicht am: 16. Januar 2023 | Anzahl Kommentare: 2 Kommentare
Auszug aus dem Buch „Ausnahmezustand – Geopolitische Einsichten und Analysen unter Berücksichtigung des Ukraine-Konflikts” von Dr. Wolfgang Bittner Informationen zum Buch: Ausnahmezustand.Flyer-Lg.pdf Ein Meinungsbeitrag von Wolfgang Bittner. Das 1871 nach dem Deutsch-Französischen Krieg neu ausgerufene Deutsche Reich stand seit seinem Erscheinen auf der politischen Bühne im Fokus der Weltpolitik. Gehen wir in die jüngere Vergangenheit zurück, haben zwei Weltkriege die Menschen wie auch die geopolitische Position Deutschlands gravierend geprägt: Seit 1918 hat das Deutsche Reich etwa ein Drittel seines Staatsgebiets verloren, und durch die bedingungslose Kapitulation am Ende des Zweiten Weltkriegs gelang es den Siegermächten, insbesondere den USA, Deutschland zu besetzen, zu zergliedern und Restdeutschland gegen die Sowjetunion in Stellung zu bringen. Nach der Vereinigung der beiden Staatsrelikte BRD und DDR entstand dann die Bundesrepublik Deutschland in der jetzigen Form, ein Staat unter Vormundschaft der USA.
Die Teilung Europas Dass 1990 der damalige Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (ab März 1990 Staatspräsident), Michail Gorbatschow, die sogenannte Wiedervereinigung, die de facto eine Übernahme der DDR durch die BRD war, ermöglicht hat, wurde bald vergessen beziehungsweise verdrängt. Deutschland wurde nach der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts in fiktiver Souveränität von den USA endgültig zum Brückenkopf in Europa und Frontstaat gegen Russland hergerichtet. Die USA, die – nach einer kurzen Phase der Beruhigung auf dem europäischen Kontinent gegen Ende des 21. Jahrhunderts – durch die Regeneration Russlands unter Wladimir Putin erneut ihren unipolaren Anspruch gefährdet sahen, ließen den Kalten Krieg wieder aufleben. Aber nicht allein geostrategische Interessen führten zu dieser den Weltfrieden massiv gefährdenden Situation, sondern auch die ständig wachsenden Begehrlichkeiten der westlichen Wirtschafts- und Finanzeliten, die eine Öffnung Russlands zu ihren Gunsten anstrebten. In diesen Kreisen und bei den Militärs war man sich mehr oder weniger der Thesen des britischen Geografen Halford Mackinder (1861–1947), seinerzeit Präsident der Londoner Königlich Geografischen Gesellschaft, bewusst, wonach der Schlüssel zur Weltmacht in der Beherrschung des Kernlandes Eurasiens liege, das etwa dem Gebiet der späteren Sowjetunion entspricht.
Mackinder sah eine Gefährdung des auf seiner Seemacht gegründeten britischen Imperiums durch eine expansionistische Macht aus der Mitte Eurasiens voraus. Und nachdem die weltbeherrschende Position Großbritanniens durch die Vereinigten Staaten von Amerika abgelöst worden war, übernahmen deren Strategen die geopolitischen Analysen Mackinders und seiner Anhänger. Mit allen Mitteln soll seither verhindert werden, dass sich auf der größten zusammenhängenden Landmasse der Welt, bestehend aus den Kontinenten Europa, Asien und Afrika, ein den Weltmachtanspruch der USA infrage stellender Gegenpol entwickelt.
Deswegen wird versucht, das von Peking und Moskau auf den Weg gebrachte Projekt „Neue Seidenstraße“ zur Erschließung des eurasischen Doppelkontinents mit allen Mitteln zu boykottieren. Denn wenn es gelänge, ein gigantisches interkontinentales Infrastrukturnetz, welches von China über Wladiwostok und Sibirien bis Moskau und Westeuropa reicht, an das auch Indien, Afrika und der arabische Raum angeschlossen sind, zu verwirklichen, wäre die Stellung der USA als Weltmacht Nr. 1 Geschichte. Sie wäre dann nur noch eine übermäßig hochgerüstete Regionalmacht zwischen zwei Ozeanen. Riesige, neu zu erschließende Ressourcen stünden außerhalb der Einflusssphäre der USA zur Verfügung, und deren Flugzeugträgern auf dem Pazifik und Atlantik könnte auf dem Landwege ausgewichen werden. Das Projekt wird trotz aller Schwierigkeiten weiterbetrieben.
Dass es den USA mit ihrer Aggressions- und Sanktionspolitik gelungen ist, Russland von Westeuropa zu trennen, noch dazu unter Mitwirkung der europäischen NATO-Staaten, ist eine Jahrhunderttragödie. Bekanntlich hat der russische Präsident Wladimir Putin jahrzehntelang intensiv für eine Kooperation und einen einheitlichen Wirtschafts- und Kulturraum von Wladiwostok bis Lissabon geworben, zum Beispiel 2001 in seiner denkwürdigen Rede im Deutschen Bundestag. Aber jede Annäherung wurde strikt unterbunden und Russland mehr und mehr von der NATO eingekreist. Die Folgen dieser verantwortungslosen Politik, die allein den Interessen der USA dient, trägt die Bevölkerung Europas diesseits und jenseits der neu geschaffenen Frontlinie.
Schachbrett Eurasien 1997 erschien das Buch „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ des polnisch-amerikanischen Politikwissenschaftlers Zbigniew Brzezinski (1928–2017), der alle US-Präsidenten der jüngeren Zeit beraten hat. Darin heißt es, offensichtlich fußend auf Mackinder: „Inwieweit die USA ihre globale Vormachtstellung geltend machen können, hängt aber davon ab, wie ein weltweit engagiertes Amerika mit den komplexen Machtverhältnissen auf dem eurasischen Kontinent fertig wird – und ob es dort das Aufkommen einer dominierenden, gegnerischen Macht verhindern kann.“(1)
Damit bestätigt Brzezinski das, was schon lange praktizierte Politik der hinter den jeweiligen US-Regierungen agierenden Kreisen war und bis zur Gegenwart ist. Eurasien sei das „Schachbrett“, auf dem sie ihre Züge im Kampf um die globale Vorherrschaft machten,(2) so Brzezinski. Bereits Ende der 1990er-Jahre schrieb er: „Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr … Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Russland automatisch die Mittel, ein mächtiges, Europa und Asien umspannendes Reich zu werden.“(3) In jüngerer Zeit hatten Brzezinski wie auch Henry Kissinger angeregt, die Ostteile der Ukraine an Russland zu überlassen.(4) Hier wird deutlich, warum die USA über Jahre hinweg den schließlich 2014 erfolgten Umsturz in der Ukraine vorbereiteten, und zwar mit viel Geld: Die damalige Europa-Beauftragte der US-Regierung, Victoria Nuland, nannte fünf Milliarden Dollar.(5) Die Ukraine wurde sozusagen auf „kaltem Wege“ übernommen, und in der Europäischen Union begrüßte man die Erweiterung ihres Wirtschaftsraumes und Einflussgebietes auf Kosten Russlands. Das geschah also ganz nach Plan. Brzezinski hatte geschrieben, es müsse verhindert werden, einen Herausforderer aufkommen zu lassen, der den eurasischen Kontinent unter seine Herrschaft bringen und damit für die USA eine Bedrohung darstellen könnte. Er war der Überzeugung, die USA würden die „letzte und einzige wirkliche Supermacht“ gewesen sein.
Diese Langzeitstrategie wurde auch von dem Direktor des einflussreichen Washingtoner Thinktanks Stratfor, George Friedman, in einer Rede am Chicagoer Council on Global Affairs 2015 angesprochen: „Das Hauptinteresse der US-Außenpolitik während des letzten Jahrhunderts, im Ersten und Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg, waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Weil sie vereint die einzige Macht sind, die unsere Vormachtstellung bedrohen kann. Unser Hauptziel war sicherzustellen, dass dieser Fall nicht eintritt.“(6)
Friedman begründete diese im Wesentlichen schon ab der Neugründung des Deutschen Reiches praktizierte Politik wie folgt: „Für die Vereinigten Staaten ist die Hauptsorge, dass … deutsches Kapital und deutsche Technologie sich mit russischen Rohstoff-Ressourcen und russischer Arbeitskraft zu einer einzigartigen Kombination verbinden, was die USA seit einem Jahrhundert zu verhindern suchen. Also wie kann man das erreichen, dass diese deutsch-russische Kombination verhindert wird? Die USA sind bereit, mit ihrer Karte diese Kombination zu schlagen: Das ist die Linie zwischen dem Baltikum und dem Schwarzen Meer. … Der Punkt bei der ganzen Sache ist, dass die USA einen ‚Cordon Sanitaire‘, einen Sicherheitsgürtel, um Russland herum aufbauen.“(7) In Russland ist das den Spitzen in Politik und Medien seit einigen Jahren bewusst, und es ist nicht zu übersehen, dass es Eingang in die Außenpolitik gefunden hat. Nicht erst seit dem Ukraine-Krieg hat sich Russland von Westeuropa und den USA abgewandt. Viele deutsche Politiker und Journalisten meinen indes immer noch, die USA seien ein Freund und ein Vorbild und wollten nur das Beste für Deutschland. Dieser Irrglaube, der auf Indoktrination, Opportunismus, entsprechende Schulung von Führungskräften, einseitige Nachwuchsförderung und verdeckte Korruption zurückzuführen ist, belastet das Handeln der Regierung in immer bedrohlicherer Weise. Deutschland wird in Auseinandersetzungen und Kriege hineingezogen, die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen mit Russland und China sowie mit vielen anderen Ländern stagnieren oder sind abgerissen, der Wohlstand weiter Teile der Bevölkerung ist ernsthaft gefährdet.
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