Der Krieg birgt die reale Gefahr einer Ausweitung und nicht mehr zu kontrollierenden militärischen Eskalation ‒ ähnlich der im Ersten Weltkrieg. Wir fordern daher die Bundesregierung, die EU- und NATO-Staaten auf, die Waffenlieferungen an die ukrainischen Truppen einzustellen und die Regierung in Kiew zu ermutigen, den militärischen Widerstand ‒ gegen die Zusicherung von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und eine politische Lösung ‒ zu beenden. Die bereits von Präsident Selenskyi ins Gespräch gebrachten Angebote an Moskau ‒ mögliche Neutralität, Einigung über die Anerkennung der Krim und Referenden über den zukünftigen Status der Donbass-Republiken ‒ bieten dazu eine reelle Chance.
Verhandlungen über den raschen Rückzug der russischen Truppen und die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine sollten durch eigene Vorschläge der NATO-Staaten bezüglich berechtigter Sicherheitsinteressen Russlands und seinen Nachbarstaaten unterstützt werden.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,
wir sind Menschen unterschiedlicher Herkunft, politischer Einstellungen und Positionen gegenüber der Politik der NATO, Russlands und der Bundesregierung. Wir alle verurteilen zutiefst diesen durch nichts zu rechtfertigenden Krieg Russlands in der Ukraine. Uns eint, dass wir gemeinsam vor einer unbeherrschbaren Ausweitung des Krieges mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Welt warnen und uns gegen eine Verlängerung des Krieges und Blutvergießens mit Waffenlieferungen einsetzen.
Mit der Lieferung von Waffen haben sich Deutschland und weitere NATO-Staaten de facto zur Kriegspartei gemacht. Und somit ist die Ukraine auch zum Schlachtfeld für den sich seit Jahren zuspitzenden Konflikt zwischen der NATO und Russland über die Sicherheitsordnung in Europa geworden.
Dieser brutale Krieg mitten in Europa wird auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung ausgetragen. Der nun entfesselte Wirtschaftskrieg gefährdet gleichzeitig die Versorgung der Menschen in Russland und vieler armer Länder weltweit.
Berichte über Kriegsverbrechen häufen sich. Auch wenn sie unter den herrschenden Bedingungen schwer zu verifizieren sind, so ist davon auszugehen, dass in diesem Krieg, wie in anderen zuvor, Gräueltaten begangen werden und die Brutalität mit seiner Dauer zunimmt. Ein Grund mehr, ihn rasch zu beenden.
Der Krieg birgt die reale Gefahr einer Ausweitung und nicht mehr zu kontrollierenden militärischen Eskalation ‒ ähnlich der im Ersten Weltkrieg. Es werden Rote Linien gezogen, die dann von Akteuren und Hasardeuren auf beiden Seiten übertreten werden, und die Spirale ist wieder eine Stufe weiter. Wenn Verantwortung tragende Menschen wie Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, diese Entwicklung nicht stoppen, steht am Ende wieder der ganz große Krieg. Nur diesmal mit Atomwaffen, weitreichender Verwüstung und dem Ende der menschlichen Zivilisation. Die Vermeidung von immer mehr Opfern, Zerstörungen und einer weiteren gefährlichen Eskalation muss daher absoluten Vorrang haben.
Trotz zwischenzeitlicher Erfolgsmeldungen der ukrainischen Armee: Sie ist der russischen weit unterlegen und hat kaum eine Chance, diesen Krieg zu gewinnen. Der Preis eines längeren militärischen Widerstands wird ‒ unabhängig von einem möglichen Erfolg ‒ noch mehr zerstörte Städte und Dörfer und noch größere Opfer unter der ukrainischen Bevölkerung sein. Waffenlieferungen und militärische Unterstützung durch die NATO verlängern den Krieg und rücken eine diplomatische Lösung in weite Ferne.
Es ist richtig, die Forderung „Die Waffen nieder!“ in erste Linie an die russische Seite zu stellen. Doch müssen gleichzeitig weitere Schritte unternommen werden, das Blutvergießen und die Vertreibung der Menschen so schnell wie möglich zu beenden.
So bitter das Zurückweichen vor völkerrechtswidriger Gewalt auch ist, es ist die einzig realistische und humane Alternative zu einem langen zermürbenden Krieg. Der erste und wichtigste Schritt dazu wäre ein Stopp aller Waffenlieferungen in die Ukraine, verbunden mit einem auszuhandelnden sofortigen Waffenstillstand.
Wir fordern daher die Bundesregierung, die EU- und NATO-Staaten auf, die Waffenlieferungen an die ukrainischen Truppen einzustellen und die Regierung in Kiew zu ermutigen, den militärischen Widerstand ‒ gegen die Zusicherung von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und eine politische Lösung ‒ zu beenden. Die bereits von Präsident Selenskyi ins Gespräch gebrachten Angebote an Moskau ‒ mögliche Neutralität, Einigung über die Anerkennung der Krim und Referenden über den zukünftigen Status der Donbass-Republiken ‒ bieten dazu eine reelle Chance.
Verhandlungen über den raschen Rückzug der russischen Truppen und die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine sollten durch eigene Vorschläge der NATO-Staaten bezüglich berechtigter Sicherheitsinteressen Russlands und seinen Nachbarstaaten unterstützt werden.
Um jetzt weitere massive Zerstörungen der Städte so schnell wie möglich zu stoppen und Waffenstillstandsverhandlungen zu beschleunigen, sollte die Bundesregierung anregen, dass sich die derzeit belagerten, am meisten gefährdeten und bisher weitgehend unzerstörten Städte, wie Kiew, Charkiw und Odessa zu „unverteidigten Städten“ gemäß dem I. Zusatzprotokoll des Genfer Abkommen von 1949 erklären. Durch das bereits in der Haager Landkriegsordnung definierte Konzept konnten im Zweiten Weltkrieg zahlreiche Städte ihre Verwüstung verhindern.
Die vorherrschende Kriegslogik muss durch eine mutige Friedenslogik ersetzt und eine neue europäische und globale Friedensarchitektur unter Einschluss Russlands und Chinas geschaffen werden. Unser Land darf hier nicht am Rand stehen, sondern muss eine aktive Rolle einnehmen.
Hochachtungsvoll,
PD Dr. Johannes M. Becker, Politologe, ehem. Geschäftsführer des Zentrums für Konfliktforschung in Marburg
Daniela Dahn, Journalistin, Schriftstellerin und Publizistin, Pen-Mitglied
Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist, Internationale Liga für Menschenrechte
Jürgen Grässlin, Bundessprecher DFG-VK und Aktion Aufschrei ‒ Stoppt den Waffenhandel!
Joachim Guilliard, Publizist
Dr. Luc Jochimsen, Journalistin, Fernsehredakteurin, MdB 2005-2013
Christoph Krämer, Chirurg, Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges IPPNW (deutsche Sektion)
Prof. Dr. Karin Kulow, Politikwissenschaftlerin
Dr. Helmut Lohrer, Arzt, International Councilor, IPPNW (deutsche Sektion)
Prof. Dr. Mohssen Massarrat, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler
Dr. Hans Misselwitz, Grundwertekommission der SPD
Ruth Misselwitz, evangelische Theologin, ehem. Vorsitzende von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste
Prof. Dr. Norman Paech, Völkerrechtler, ehem. Mitglied des Deutschen Bundestages
Prof. Dr. Werner Ruf, Politikwissenschaftler und Soziologe
Prof. Dr. Gert Sommer, Psychologe, ehem. Direktoriummitglied des Zentrums für Konfliktforschung in Marburg
Hans Christoph Graf von Sponeck, ehem. Beigeordneter Generalsekretär der UNO
Dr. Antje Vollmer, ehem. Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages
Konstantin Wecker, Musiker, Komponist und Autor
schon im Februar diese Aktion:
Offener Brief gegen Waffenlieferungen an die Ukraine
22.02.2022
pax christi und weitere 16 Organisationen fordern die Bundesregierung in einem Offenen Brief auf, ihren Kurs in der Ukraine-Krise zu halten und keine Waffen in den Konflikt zu liefern. Hier finden Sie den Brief im Wortlaut.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, sehr geehrte Frau Bundesministerin des Auswärtigen, sehr geehrter Herr Bundesminister der Finanzen, wir begrüßen, dass die Bundesregierung trotz lauter werdender Forderungen Waffenlieferungen an die Ukraine weiterhin konsequent ablehnt. Wir teilen die zuletzt von Ihnen, Herr Bundeskanzler, nochmals bekräftigte Sicht, dass Deutschland keine Waffen in Krisengebiete liefern sollte. Die Entwicklungen der letzten Monate haben dazu geführt, dass die Sorgen vor einer direkten militärischen Konfrontation zwischen Russland und der Ukraine stetig zugenommen haben. Vor diesem Hintergrund hat in den letzten Wochen eine öffentliche Diskussion eingesetzt, ob deutsche Waffenlieferungen einen Beitrag zur Beilegung des Konflikts leisten können. Manche Befürworter*innen solcher Lieferungen treibt die Sorge um die territoriale Integrität der Ukraine und das Leben der Menschen dort um. Andere Befürworter*innen hingegen haben ein erkennbares Interesse daran, dass die Bundesrepublik über solche Waffenlieferungen deutlich stärker Partei im russisch-ukrainischen Konflikt ergreift. Auch die unterzeichnenden Organisationen verfolgen mit großer Sorge die gegenwärtigen Entwicklungen. Wir sind aber überzeugt, dass Deutschland mit seiner Verankerung im Westen und zugleich besonderen Beziehungen zu Russland einen wesentlichen Beitrag zur Lösung der aktuellen Krise mit Diplomatie, nicht aber mit Lieferung von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern leisten kann. Die Ukraine hat seit 2014 militärische Ausrüstung im Wert von mehreren Milliarden Euro von verschiedenen Nato-Staaten erhalten. De facto konnte durch diese Aufrüstung die Zuspitzung der Krise in den letzten Monaten nicht verhindert werden. Der Einstieg in diese gescheiterte Strategie – sprich die Lieferung von Kriegswaffen auch aus Deutschland – wäre somit ein vollkommen falsches Signal. Sicher ist zudem, dass ein solcher Schritt das Gespräch mit der russischen Führung erheblich belasten würde, und somit ein klar erkennbarer diplomatischer Nachteil bilanziert werden müsste. Dies gilt auch für sogenannte “Defensivwaffen”, deren Lieferung immer wieder gefordert wird. Darin, dass eine Unterscheidung zwischen Waffen defensiver und offensiver Natur militärisch nicht begründbar ist, sind sich Beobachter wie der Ex-Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat (HR2 – „Der Tag“: „Helme statt Waffen – Deutsche Rüstungsexporte“, 2.2.2022), und die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages (Kurzinformation Wissenschaftliche Dienste: „Exportrestriktionen für „defensive“ und „offensive“ Waffen“, 6.9.2019) mit uns und vielen anderen einig. Anders gesagt: Es gibt keine guten/defensiven Waffen, die man mit besserem Gewissen liefern könnte. Auch Panzerabwehrwaffen und Luftabwehrsysteme können einen Konflikt eskalieren lassen. Dies dürfte auch den meisten der Personen bewusst sein, die solche Lieferungen fordern. Deutschland hat bisher keine Waffen an die Ukraine geliefert und damit den Grundsätzen für eine restriktive Rüstungsexportpolitik in diesem Fall entsprochen. Wir teilen Ihre Bewertung, dass sich eine weitere Zuspitzung des Konflikts nur durch diplomatische Mittel verhindern lässt. Vor diesem Hintergrund appellieren wir an Sie, an Ihrer Position festzuhalten, diese konsequent weiterzuverfolgen und keine deutschen Rüstungsgüter in Konfliktregionen wie die Ukraine zu liefern. Unsere Unterstützung und die einer großen Mehrheit der Bevölkerung dafür haben Sie. Mit freundlichen Grüßen
Wie vermutlich viele andere möchte auch ich den Brief an Scholz gern unterschreiben. Kann da nicht eine Petition in Gang gesetzt werden? Insa Geppert