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Wo bleiben die Anti-Kriegs-Proteste? Trotz Militarisierung und steigender Rüstungsexporte fehlt in Deutschland eine starke Friedensbewegung. Der Publizist Andreas Zumach erörtert die Gründe dafür.

In Großbritannien demonstrieren seit Monaten Hunderttausende gegen den Gaza-Krieg. Die zuletzt härtere Haltung der Labour-Regierung gegenüber Israel dürfte auch damit zu tun haben.


 Gegen Israels Krieg in Gaza haben in Großbritannien am Wochenende laut Veranstaltern eine halbe Million Menschen demonstriert, in den Niederlanden 100 000. Deutschland ist zweitgrößter Rüstungslieferant Israels. Müsste sich nicht endlich auch hier eine Anti-Kriegs-Bewegung formieren?


 Allerdings, das ist seit Langem überfällig – und zwar nicht nur wegen der Rüstungslieferungen, sondern auch wegen der besonderen Verantwortung Deutschlands für eine sichere Existenz des Staates Israel. Die jetzige Politik der israelischen Regierung stellt eine große Gefahr auch für das Land selbst dar.


 US-Linke haben schon vor eineinhalb Jahren behauptet, Gaza sei das Vietnam der Gegenwart – ein Konflikt, an dem sich eine globale Anti-Kriegs-Bewegung formieren könnte. Wie halten Sie von der These?


 Ich bin bei derartigen Vergleichen grundsätzlich skeptisch. Bei allen Parallelen, die sich zwischen Kriegen ziehen lassen, gibt es immer auch große Besonderheiten. Wir sollten bei der Bewertung von Konflikten die universalistischen völkerrechtlichen Normen heranziehen. Auf deren Grundlage können wir festhalten, dass die USA in Südostasien einen völkermörderischen Krieg mit drei Millionen vietnamesischen Opfern geführt haben. Und wir können jetzt konstatieren, dass das Vorgehen der israelischen Streitkräfte und Regierung den Tatbestand des Völkermords erfüllt, wie er in der Genozid-Konvention von 1948 definiert ist. Das sagen auch renommierte jüdisch-israelische Genozid-Forscher wie etwa Omer Bartov, der das in den ersten Monaten des Krieges noch sehr viel vorsichtiger bewertet hatte. Bartov ist übrigens zu seinem Urteil gekommen, bevor die Regierung Netanjahu im März die Blockade lebenswichtiger Güter über Gaza verhängte. Diese Maßnahme ist ein weiteres wichtiges Kriterium der Genozid-Definition.


 Wenn wir aus der Perspektive einer Friedensbewegung denken: Wie könnten universalistische Positionen aussehen, die sich zu den Kriegen in Gaza, dem Sudan und der Ukraine gleichermaßen vertreten lassen und die über den symbolischen Appell hinausgehen, die Waffen schweigen zu lassen?


 Wie gesagt: In der UN-Charta von 1945, in der Erklärung der Menschenrechte von 1948 und in den Genfer Konventionen sind universalistische Prinzipien festgelegt, an denen wir Regierungen und Staaten messen können. Bei einigen derjenigen, die sich zur Friedensbewegung zählen, gilt dieser universalistische Maßstab allerdings nicht mehr. Sie werfen der Nato und dem Westen zurecht vor, nach doppelten Standards vorzugehen, blenden dabei aber selbst jede Kritik an der Politik Putins aus. Es stimmt, dass das Gorbatschow 1990 gegebene Versprechen, die Nato nicht nach Osten zu erweitern, gebrochen wurde und dass die USA seit 2003 aus wichtigen Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträgen ausgestiegen sind. Aber der Hinweis darauf darf nicht zur Rechtfertigung oder Verharmlosung des russischen Angriffskriegs vom Februar 2022 verwendet werden, wie es beispielsweise die Organisator*innen der Berliner Friedensdemonstration von Oktober 2024 getan haben. Die Einseitigkeit dieses Demoaufrufs war der Grund, warum sich viele Friedensorganisationen nicht an der Demonstration beteiligt haben. Das scheint mir ein grundlegendes Problem der Friedensbewegung heute zu sein: Weder bei der Ukraine noch bei Gaza gelingt ein Konsens über universalistische Positionen.


 Auf Russland möchte ich gleich zurückkommen, aber vielleicht könnten wir noch kurz bei Gaza bleiben: Wie könnte eine Position zu diesem Krieg in Deutschland aussehen? Und wie ließe sich eine Brandmauer gegen Antisemitismus ziehen?


 Das sind wir mitten in der Diskussion, welche Definition von Antisemitismus wir verwenden. Beim letzten Parteitag der Linken wurde darum gestritten, ob man sich auf die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) oder die Definition der Jerusalemer Erklärung (JDA) beziehen soll. Leider haben der von mir sehr geschätzte Jan van Aken und Bundestagsvizepräsident Bodo Ramelow so getan, als sei das ein reiner Wissenschaftsstreit. Dabei könnten beide wissen, dass die IHRA-Definition, wie sie sich die Bundesregierung und viele Landtage seit 2019 zu eigen gemacht haben, eine einzige Manipulation ist. Die aufgeführten elf Beispiele für israelbezogenen Antisemitismus sind auf der Sitzung der 31 Verbände der IHRA im Mai 2018 in Bukarest nie so beschlossen worden, sondern wurden später, übrigens unter massiver Einflussnahme des deutschen Außenministeriums, hinzugefügt. Das wird bis heute verschleiert. Und man hat das natürlich in dieser Form gemacht, um jede Kritik an der israelischen Regierung als antisemitisch diffamieren zu können. Meiner Ansicht nach ist die JDA zur Bekämpfung von Antisemitismus völlig ausreichend. Sie sagt ganz eindeutig, dass jedwedes Vorgehen gegen Menschen, das erfolgt, weil diese Juden sind, antisemitisch ist.


 Und was wären die richtigen Forderungen einer Friedensbewegung zum Gaza-Krieg?


 Erstens müssten alle Waffenlieferungen an Israel gestoppt werden. Zweitens müsste sich die Bundesregierung Großbritannien, Frankreich und Kanada anschließen, die diese Woche mit Sanktionen gedroht haben, falls Israel seine Blockade in Gaza nicht aufhebt.


 Wenn es so einfach ist, richtige Forderungen zu formulieren, warum gibt es dann in Deutschland keine Bewegung, die sie auf die Straße trägt?


 Die Angst und der vorauseilende Gehorsam sind bei uns enorm groß. Als die IHRA-Definition 2019 im Bundestag beschlossen wurde, sagte der Grüne Jürgen Trittin in einem Interview, es hätten nur deshalb so viele Politiker*innen aus allen Parteien für die IHRA gestimmt, weil sie Angst hatten, ansonsten als Antisemit*innen diffamiert zu werden. Diese Befangenheit ist die eine Seite des Problems. Die andere, die ich für deutlich kleiner halte, aber die wir ebenfalls im Blick haben müssen, ist, dass es an den Rändern der Bewegung Gruppen gibt, die die Verbrechen der Hamas vom 7. Oktober 2023 relativieren. Auch da bräuchten wir eine klare Abgrenzung, um universalistische Positionen verteidigen zu können.


 Und wie es ist bei Russland und der Ukraine? Wie könnte hierzu eine universalistische Position aussehen?


 Jeder Aufruf müsste zunächst festhalten, dass Russland einen völkerrechtswidrigen Krieg begonnen hat, und Putin auffordern, diesen Krieg zu beenden. Ausgehend hiervon kann man berechtigte Kritik an den Positionen westlicher Regierungen äußern. Beispielsweise an der falschen Bedrohungsbehauptung, Russland werde im Fall einer ukrainischen Niederlage als nächste das Baltikum, Polen oder Deutschland angreifen – eine Behauptung, mit der die Hochrüstung bei uns gerechtfertigt wird. Neben der Forderung nach einem Waffenstillstand und Verhandlungen sollte die Friedensbewegung meiner Ansicht nach auch Vorschläge in der Sache machen. Zum Beispiel für von der Uno und/oder der OSZE durchgeführte Volksabstimmungen auf der Krim und in den umstrittenen Donbass-Gebieten. Mit der Wahloption, dass Gebiete mit russischstämmiger Bevölkerungsmehrheit weitreichende Autonomie innerhalb der Ukraine erhalten. Russisch sollte erste Amtssprache sein, und die Gebiete sollten – ganz wichtig – eigene Steuern erheben können. In Jugoslawien war das Abschöpfen der kroatischen Tourismuseinnahmen durch den serbisch dominierten Zentralstaat ein entscheidender Treiber beim Ausbruch des Bürgerkriegs der 90er Jahre.


 Sie argumentieren viel mit diplomatischen Lösungen, die innerhalb der Nationalstaatslogik verbleiben und von Regierungen getragen werden müssen. Wir, die wir uns in Bewegungen engagieren, haben da natürlich nur sehr begrenzt Einfluss darauf. Was könnten Antimiliarist*innen tun, um Kriege schwerer führbar zu machen? Deserteure aufnehmen?


 Ich würde Ihrer These erst mal widersprechen wollen. Die Geschichte zeigt, dass Regierungen anders handeln, wenn es innenpolitischen Druck gibt. Wenn wir mit 200 000 Menschen auf die Straße gingen, würden wir das nicht als Beschäftigungstherapie tun, sondern Druck ausüben wollen. Auch die Aufnahme von Deserteuren hat im Übrigen mit Regierungspolitik zu tun. Wir müssten in der EU durchsetzen, dass russische, aber auch ukrainische und belarussische Kriegsdienstverweigerer, die ja durchaus kommen, anstandslos Asyl erhalten. Im Augenblick wird das russischen Deserteuren verweigert. Und auch ukrainischen Männern wird es schwerer gemacht, hier zu bleiben. Es gibt das Urteil eines deutschen Gerichts, wonach ein Staat in einer Notsituation das Recht auf Kriegsdienstverweigerung suspendieren kann. Das wird auch in Deutschland selbst enorme Folgen haben, wenn – wie absehbar – die militärische Zwangspflicht wiedereingeführt ist. Denn mit diesem Argument kann das grundgesetzlich garantierte Recht auf Kriegsdienstverweigerung außer Kraft gesetzt werden ... Aber natürlich können wir als Bewegung auch selbst aktiv werden und russische oder ukrainische Männer aufnehmen und vor Behörden verstecken. Oder Organisationen finanziell unterstützen, die sich für diese Männer einsetzen – Connection e. V. in Offenbach zum Beispiel.


 Wie bewerten sie die Normalisierung von Aufrüstung und Militär, wie wir sie in Deutschland gerade erleben?


 Ich halte das für das extrem beunruhigend. Es ist ein Ausmaß an Militarisierung, wie ich sie in meinem Leben nicht erinnern kann. Selbst während des Blockkonflikts der 70er und 80er Jahre war Deutschland weniger militarisiert. Damit meine ich nicht nur die Rüstungsausgaben, sondern die militärische Durchdringung der Gesellschaft: der Zugang von Bundeswehrmitgliedern zu Schulen, der panzergerechte Ausbau von Brücken und Straßen oder die Rekrutierung von Minderjährigen durch die Bundeswehr – was eine eklatante Verletzung der UN-Kinderrechts-Charta darstellt. Seit 1945 gab es keine vergleichbare Militarisierung der Gesellschaft. Am schlimmsten daran finde ich allerdings, dass die Entwicklung kaum Widerspruch provoziert.


 Forciert wird dieser Prozess von den Grünen. Der langjährige Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung Ralf Fücks oder der ehemalige Grünen-»Linke« Anton Hofreiter werben kaum verhohlen für einen deutschen Kriegseintritt. Wie erklären Sie sich das?


 Die Vorstellung, dass alle Grünen früher Pazifisten oder auch nur Militärkritiker waren, ist natürlich falsch. Ralf Fücks und andere führende Grünen kamen aus stalinistischen K-Gruppen, die große Sympathien für autoritäre Gewalt-Regime hegten. Vor diesem Hintergrund bin ich nicht ganz so verwundert über ihre Entwicklung. Als Gesamtpartei haben sich die Grünen ihr friedenspolitisches Rückgrat 1999 mit dem völkerrechtswidrigen Luftkrieg der Nato gegen Serbien-Montenegro gebrochen. Durchgesetzt wurde das damals von Außenminister Josef Fischer – mit der den Holocaust verharmlosenden Bemerkung »Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz.« Damit stellte er die Menschenrechtsverletzungen der serbischen Armee im Kosovo auf eine Stufe mit den Völkermord-Verbrechen der Nationalsozialisten in Auschwitz. Das war ein fürchterlicher Vergleich, der bei den Grünen allerdings gewirkt hat. Dieses Einknicken ist von der Partei niemals aufgearbeitet worden. Auch deshalb sind heute jene Grünen, die noch eine militärkritische oder gar pazifistische Überzeugung vertreten, innerparteilich marginalisiert.


 Interview imago/Müller-Stauffenberg Andreas Zumach, 1954 in Köln geboren, ist Publizist und arbeitete als Korrespondent mehr als drei Jahrzehnte lang bei den Vereinten Nationen in Genf. Er ist Experte in der Friedens- und Sicherheitspolitik und engagiert sich seit den 70er Jahren in antimilitaristischen Projekten.


Eine Stellungnahme im ND dazu:


Lieber Joachim, ein Hallo in die Runde, 

leider ist der immer wieder kehrende Hinweis auf die internationalistischen Forderungen wenig hilfreich, wenn wir sie aus der Perspektive der Friedensbewegung von NATO Staaten verwenden. 


Diese Forderungen können von Menschen aus Südamerika oder Afrika oder Asien so gestellt werden. Wenn wir sie stellen, setzen wir Russland mit der NATO gleich und das ist grober Unfug. 

 

Der Krieg in der Ukraine ist Folge des Versagens der westlichen Friedensbewegungen! Wir haben zugelassen, dass die NATO Staaten ihre Armeen zu Terrortrupps ohne jede Verteidigungsfähigkeit 


für weltweite imperiale Eroberungskriege gegen unterlegene Länder umgebaut und über 2 Jahrzehnte so benutzt haben. Wir haben nicht verhindert, dass die NATO bestehende Grenzen in Jugoslawien

aufgelöst und neu gezogen hat. Wir haben zugelassen, dass die uns Regierenden aus den Rüstungskontrollvereinbarungen ausgestiegen sind, wir haben zugelassen, dass sie jetzt davon schwafeln, dass

Russland auf Dauer unser Feind bleibt. Wir haben zugelassen, dass die NATO an der Russischen Grenze steht. 

 

Vor diesem Hintergrund sich auf internationalistische Forderungen zurückzuziehen, wäre a- historisch, würde die Kausalkette von Ursache und Wirkung außer Acht lassen und würde am Ende nur der weiteren

Alternativlosigkeit der Aufrüstung den Weg ebnen. 

 

Nein, wir müssen endlich wahrnehmen, dass die NATO zur Kapitalertragsmaximierungsmaschine mutiert worden ist. Eine Faschismus Definition beschreibt die Verschmelzung von Kapital und Politik als 


den Beginn von Faschismus. In den USA ist dies mit Trump und Musk bereits geschehen. Hier regieren Kapitaleigner selbst. Bei uns lassen sie über einen Black Rock Kanzler ohne eigene Entscheidungshoheit

regieren. Dass die Bedienung der neuen Schulden unter normalen Formen der Ausbeutung nicht gelingen kann, wissen wir alle. Und nun erinnert bitte die Dimitroffsche Faschismusdefinition. Faschismus ist die 


ständige Machtreserve des Großkapitals, die immer dann von der Leine gelassen wird, wenn die Ausbeutung unter normalen Bedingungen nicht mehr ausreichend zu organisieren ist. 

 

So ernst sehe ich unsere Situation. Und das hat gar nichts mit Russland zu tun. Russland ist durch die NATO zu einem erzwungenen Mitspieler dieser gewollten Entwicklung geformt worden und zeigt sich entgegen

der Annahme der aus der Geschichte nicht lernen wollenden Kapitalgeber erheblich widerständiger, als von diesen kranken Hirnen angenommen. 

 

Wenn wir internationalistische Forderung im Sinne des Artikels im ND in dieser Situation stellen, dann weigern wir uns, unser geschichtliches Wissen und die Analyse der Situation zu berücksichtigen.

Vielleicht bringen wir so mehr Menschen auf die Straße, die werden von den uns Regierenden dann aber mit großer Wahrscheinlichkeit in betreute Demonstranten gegen Rechts umpropagiert. 

 

Denkt bitte daran, wie engagiert das mit den zahlreichen staatlich geförderten Initiativen gegen Rechts  bereits geschehen ist, von denen keine die Rüstung oder den Krieg kritisieren. Sie demonstrieren gegen Rechts

im Interesse von Regierenden, die den Weg in Richtung Faschismus nachweislich eingeschlagen haben. 

 

Wir war das noch einmal mit dem japanischen Sprichwort?: "Wer das Gewesene vergisst, ist dazu verurteilt, es noch einmal zu erleben." Und ich habe gar keine Lust, in einer entfalteten faschistischen 


Gesellschaft leben zu müssen. 


Herzliche und verzweifelte Grüße

Malte

 




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