Der Sekretär des Sicherheitsrats Danilov hat gesagt, das würde ein politischer Selbstmord sein. Andere haben nicht Selbstmord gesagt, es könnte auch zu einem Mord kommen. Ob das wirklich der Fall ist oder nicht, weiß ich nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass Selenskij seit Anfang des Krieges unter dem Druck dieser Extremisten steht und dass seine Handlungsfreiheit extrem begrenzt ist. Ich finde es extrem seltsam, da wir, wenn wir Selenskij unterstützen, im Grunde diese Extremisten stärken.
Ich halte Jaques Beaud als eine der zuverlässigsten, objektiven Quellen zum Krieg in der Ukraine. Es lohnt sich ihn aufmerksam zu lesen; seine Beobachtungen widersprechen zumeist fundamental dem, was uns westliche Medien und Politiker erzählen. Jacques Baud war Oberst der Schweizer Armee, arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst, die Vereinten Nationen und für die Nato in der Ukraine.
Die von der Ukraine angeblich geplante große Offensive ist auch Thema in den geleakten Dokumenten, die etwa über die ukrainischen Truppenverbände informieren. Bekannt ist, dass die Ukraine Offensivbrigaden aufstellt, die den Freiwilligenverbänden wie Asow unterstehen. Das sind keine regulären Truppen und sie sind dem Innenministerium angegliedert. Kann man denn daraus schließen, dass die reguläre Armee in der Ukraine zu schwach für die Offensive ist? Oder dass die Leute sich weigern, in die reguläre Armee zu gehen und sich lieber den Freiwilligenverbänden anschließen? Und gibt es überhaupt eine Vorstellung davon, wie viele dieser Freiwilligenverbände aktiv sind? In Bachmut haben zum Beispiel auch vor allem Freiwilligenverbände wie Kraken gekämpft.
Jacques Baud: Man muss verstehen, warum diese Freiwilligenverbände entstanden sind. Das war 2014, als es nach dem Sturz von Janukowitsch Aufstände im ganzen Süden gegeben hat. Die Ukrainer haben sofort die Armee gegen diese Aufstände eingesetzt, was zu Probleme geführt hat, weil die Soldaten auch aus der russischen Gemeinschaft stammten und nicht auf ihre Kollegen schießen wollten. Das ist übrigens genau das, was auch auf der Krim passiert ist. Dort waren am Anfang 2014 22.000 ukrainische Soldaten stationiert, die meist lokal rekrutiert worden waren. Das heißt, die Mehrheit der Soldaten in Krim war russischsprachig. Das Problem der Sprache entstand nach der Entscheidung im neuen Parlament im Februar 2014. Die Bevölkerung hat dagegen demonstriert, die Ukraine hat gegen diese Leute die Armee engagiert, aber die Soldaten wollten nicht auf ihren Brüder schießen. Sie haben die Abzeichen entfernt und wurden zu den kleinen grünen Männchen, wie sie die Amerikaner später genannt haben.
Das waren keine Soldaten aus Russland, sondern vor allem von der Krim?
Jacques Baud: Das Status of Forces Agreement (SOFA) mit der Ukraine erlaubte es Russland, bis zu 25.000 Mann auf der Krim stationiert zu haben. Im Jahr 2014 hatte Russland etwa 22.000 Mann völlig legal auf der Krim stationiert. Nach diesem Abkommen waren sie berechtigt, die Kasernen zu verlassen und die Gebiete um ihre Stützpunkte im Fall von Unruhen zu sichern. Sie waren auch berechtigt, die logistische Verbindung mit Russland zu sichern, also auch den Flughafen zu besetzen. Und das ist genau, was passiert ist.
Nachdem das am 23. Februar 2014 verabschiedete neue Sprachengesetz der russischen Sprache den offiziellen Charakter entzogen hatte, kam es im gesamten Süden der Ukraine zu einem Aufstand. Als die neue (nicht gewählte) Regierung die Proteste niederschlug, griffen die Bürger zu den Waffen. Auf der Krim gingen etwa 9000 Männer der Jagd- und Schützenvereine auf die Straße. Die 20.000 der 22.000 ukrainischen Militärs, die Russisch sprachen, entfernten die Abzeichen von ihren Uniformen und liefen auf die Seite der Demonstranten über. Sie wurden zu dem, was unsere Medien als „kleine grüne Männchen“ bezeichneten. Zu diesem Zeitpunkt erlaubte Wladimr Putin den russischen Truppen, die bereits in der Nähe ihrer Stützpunkte stationiert waren, sich zwischen die Demonstranten und die Regierungskräfte zu stellen, um eine Eskalation der Situation zu verhindern und gemäß dem SOFA die Ordnung wiederherzustellen.
Die Russen haben also keine neue Truppen gebraucht. Man sagt ja, Russland habe interveniert, aber das stimmt nicht. Die Russen haben im Grunde genommen legal nach dem Abkommen gehandelt. Das Resultat hat natürlich dem Westen nicht gefallen, aber das war alles legal.
Aber zurück zu den Freiwilligen. Die ukrainische Armee war 2014 noch eine Wehrpflichtigenarmee, d.h. auch Zivilisten mussten einen Militärdienst leisten. Diese Leute wollten aber nicht auf ihre Brüder schießen. Deshalb hat man sich denjenigen zugewandt, die den Umsturz im Maidan gemacht haben. Bei den Maidan-Protesten muss man klar verschiedene Phasen unterscheiden. Die erste Phase war ganz friedlich, es haben normale Bürger friedlich demonstriert. Aber ab einem gewissen Zeitpunkt sind dann die Rechtsextremisten dazugekommen und es begannen die Schießereien.
Die Rechtsextremisten wurden in die Demonstrationen mit dem Ziel eingeschleust, die Janukowitsch-Regierung zu stürzen. Die Rechtsextremisten stammen aus vor allem aus der Westukraine. Man hat mit ihnen paramilitärische Kräfte aufgebaut, um sie in gewissen Hot Spots einzusetzen. Und das ist der Ursprung im Grunde genommen. Man hat auch gesehen, dass die Mehrheit der Freiwilligen, die sich diesen Bataillonen wie Asow, Aidar oder Rechter Sektor angeschlossen haben, Rechtsextremisten sind. Dazu gab es noch diese Fremdenlegion, die Internationale Legion. Das sind Leute, die nicht unbedingt Extremisten waren, aber sie wollten kämpfen.
Die Mitglieder der Freiwilligenbataillone sind die Treuesten der Treuesten. Wenn ich einen Vergleich mache, und ich bin da sehr vorsichtig, weil das in Deutschland natürlich ein heikles Thema ist, dann entspräche das der Situation der Wehrmacht und der Waffen SS im Zweiten Weltkrieg. In der Ukraine hat man dasselbe Problem, die Freiwilligen sind politisch motiviert, das sind eindeutig eher Fanatiker auf die ukrainische Seite. Man darf nicht vergessen, dass es in den letzten acht Monaten 9 oder 10 Mobilmachungsrunden gegeben hat, weil,was wir nicht anerkennen wollen, Ukrainer sterben.
Viele wollen nicht in den Krieg. Man sieht immer wieder Videos, die zeigen, wie Uniformierte Männer auf der Straße einfangen, um sie zum Militär zu bringen. Zudem versuchen auch viele Männer, deswegen aus der Ukraine herauszukommen.
Jacques Baud: Das ist ein echtes Problem. Was man den sozialen Medien sieht, kann man vielleicht auch als Propaganda betrachten, aber man darf nicht vergessen, dass die forcierte Mobilisierung etwa zu politischen Problemen mit Ungarn geführt hat. Im westlichen Teil der Ukraine, wo eine ungarische Minderheit lebt, gab es diese gewaltsame Mobilisierung. Die ungarische Regierung hat offiziell gefordert, dies stoppen. Das ist auch der Grund, warum Ungarn sich den Waffenlieferungen an die Ukraine nicht anschließen will. Ungarn hat auch erklärt, dass man sich , wenn die Ukraine diese Praktiken fortsetzt, gegen eine Mitgliedschaft in der NATO aussprechen wird. Man kann das alles unter Propaganda abtun, aber ganz sicher ist das für Ungarn ein ernstes Problem. Das heißt auch, die Ukraine hat ein Personalproblem. Die Mobilmachungsrunden wurden nicht gemacht, um mehr Soldaten zu haben, sondern um die Toten zu ersetzen. Und das muss man wissen.
Vor kurzem wurde in der Washington Post ein Bataillons-Kommandant in Bachmut zitiert, der sagte: Ich bin der einzige aus dem Bataillon, der noch übrig geblieben ist. Alle anderen sind Neulinge, die keine Kampferfahrung haben und kaum ausgebildet für den Kampf sind.
Das ist das Problem, das die Ukrainer haben, um ihre Offensive auf die Krim durchzuführen. Ich bin bereit zu glauben, dass sie genügend Leute haben, aber ob sie tatsächlich physisch, psychisch und technisch bereit sind, einen Kampf gegen die Russen zu führen, ist eine andere Frage. Man muss auch wissen, dass die Kampfverbände der ukrainischen Armee jetzt massiv mit westlichen Waffen ausgestattet sind, das heißt, dass sie nicht unbedingt das Material so beherrschen wie ein Soldat, der sich seit Jahren damit befasst.
Aber noch mal zurück zu den Freiwilligenverbänden. Ich habe mal vor dem Krieg bei einer westlichen Nachrichtenagentur gelesen, dass etwa 100.000 Mann in den Freiwilligenverbänden beschäftigt sind und 120.000 in der regulären Armee. Das war vor dem Krieg. Gibt es denn Zahlen darüber, wie das Verhältnis jetzt aussieht?
Jacques Baud: Ich weiß es nicht genau, aber ich schätze, das sollten ungefähr 30.000 bis 50.000 Mann sein.
Die Freiwilligenverbände sind hochmotiviert, deswegen sollen sie auch an der geplanten Offensive teilnehmen. Angeblich haben sich Zehntausende beworben für diese Offensivgarde. Man kann sich auch vorstellen, dass diese, wenn die Regierung möglicherweise doch mal Verhandlungen führen will, das als Verrat sehen und revoltieren. Sie sind schwer bewaffnet, jetzt auch mit westlichen Waffen und gut ausgebildet, und können natürlich enormen politischen Druck ausüben.
Jacques Baud: Es wurde sogar fast öffentlich gesagt, dass Selenskij nicht in Verhandlungen gehen kann, das würde nicht akzeptiert. Der Sekretär des Sicherheitsrats Danilov hat gesagt, das würde ein politischer Selbstmord sein. Andere haben nicht Selbstmord gesagt, es könnte auch zu einem Mord kommen. Ob das wirklich der Fall ist oder nicht, weiß ich nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass Selenskij seit Anfang des Krieges unter dem Druck dieser Extremisten steht und dass seine Handlungsfreiheit extrem begrenzt ist. Ich finde es extrem seltsam, da wir, wenn wir Selenskij unterstützen, im Grunde diese Extremisten stärken.
Es solche Freiwilligenverbände ja nicht nur auf der Seite der Ukrainer, sondern auch auf der russischen Seite. Ich denke an die Wagner-Söldner, die nicht der regulären Armee angehören, oder die Kadyrow-Kämpfer, von denen man in letzter Zeit wenig hört. Es gibt also auch in Russland solche bewaffneten Verbände, die Druck ausüben können.
Jacques Baud: Ja, aber wissen Sie, das ist nichts Neues. Die Franzosen haben das im 19. Jahrhundert mit der Fremdenlegion erfunden. Das ist genau das Gleiche. Es wurde gesagt, dass Wagner Leute aus den Gefängnissen rekrutiert habe. Das ist genau das, was die Fremdenlegion in Frankreich gemacht hat. Das Motto der Fremdenlegion ist Legion Patria Nostra, weil man in der Fremdenlegion eine neue Identität erhalten hat, ein neues Leben. Ich kenne Wagner nicht gut, aber was man hört, scheint es ungefähr das gleiche zu sein. Der Unterschied zwischen den Wagner-Truppen und den ukrainischen Freiwilligenverbänden wie Aidar oder Asow ist die politische Einstellung. Auch bei den Wagner-Truppen oder den Tschetschenen von Kadyrow gibt es extrem motivierte Leuten, aber die Philosophie und das politische Ziel, die den ukrainischen Freiwilligenverbänden zugrundeliegen, gehen sehr viel weiter als bei den Wagner-Leuten.
Die machen das wahrscheinlich eher wegen des Geldes.
Jacques Baud: Genau.
Und sie kämpfen ja auch in Afrika. Das ist nicht so nationalistisch aufgeladen.
Jacques Baud: So ist das.
Sie haben Danilov schon mal erwähnt. Er kokettiert ebenso wie der Chef des Militärgeheimdienstes Budanov oder Dimitri Jarosch vom Rechten Sektor damit, dass es nicht damit getan sei, die Russen aus der Ukraine hinauszudrängen, sondern dass die Ukraine sich auch angrenzende Teile Russlands einverleibt. Als Budanov einmal interviewt wurde, hat er extra eine Karte aufgehängt, auf der die diese russischen Gebiete markiert waren. Gibt es in der Ukraine einen Trend dahin, dass die Große-Ukraine auf der Basis der ukrainischen Volksrepublik wieder hergestellt werden soll, die es mal kurz bis 1920 gegeben hat.
Ähnliche Beiträge:
Die „Besessenheit“ der USA, eine engere Zusammenarbeit zwischen Europa und Russland zu verhindern
Pentagon-Leaks: Wie gut kennt das Pentagon die Kriegslage in der Ukraine?
„Deutschland zahlt den Preis für den von den Amerikanern gegen Russland geführten Krieg“
Abzug aus Cherson oder Niederlage? Über die russische Kriegsführung
Comments