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Merz‘ Konfrontationskurs gegen Russland & die Folgen Der anti-russische Kurs von Merz ist bekannt, aber die Frage ist, wie das in Russland gesehen wird. Das berichtet uns Thomas Röper aus Russland.

von Anti-Spiegel

4. Juni 2025 05:00 Uhr

Ich übersetze jeden Sonntag die interessantesten Berichte aus dem wöchentlichen Nachrichtenrückblick des russischen Fernsehens, darunter auch die Berichte des Deutschland-Korrespondenten. Die sind natürlich für ein breites Publikum in Russland gemacht und der Korrespondent formuliert gerne mal ironisch oder sarkastisch (wobei er meiner Meinung nach in der Sache aber praktisch immer Recht behalten hat), während die Korrespondenten der russischen Nachrichtenagentur sachlicher formulieren, denn ihre Berichte sind natürlich auch an russische Experten und Entscheidungsträger gerichtet.

Als Beispiel dafür übersetze ich hier einen Artikel, den der Deutschland-Korrespondent der TASS über die Politik von Kanzler Merz geschrieben hat.


Beginn der Übersetzung:

Merz geht den Weg der Konfrontation mit Russland: Was sind die Folgen seines Kurses der bedingungslosen Unterstützung Kiews?

Wjatscheslaw Filippow. TASS-Korrespondent in Deutschland, darüber, was sich Scholz nicht erlaubt hat, aber der neue deutsche Bundeskanzler zur Grundlage genommen hat

Der neue deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz hat sich in Bezug auf Waffenlieferungen an die Ukraine rasch von der vorsichtigen Linie seines Vorgängers Olaf Scholz verabschiedet und offenbar beschlossen, in Europa die Führung bei der militärischen Unterstützung Kiews zu übernehmen. Der Vorsitzende der deutschen Konservativen begann seine Amtszeit mit einer „diplomatischen Offensive“ und reiste nach Paris, Warschau, Kiew und Vilnius. Laut dem Spiegel hat noch kein deutscher Regierungschef unmittelbar nach seinem Amtsantritt so viele Besuche unternommen.

Merz zeigt großes Interesse an außenpolitischen Themen und den Konflikt in der Ukraine hat er fast zu seiner persönlichen Angelegenheit gemacht. In Gesprächen mit mir bezeichnen Experten und Politiker die vom Kanzler gewählte Strategie als riskant und schließen nicht aus, dass er damit nur von den innenpolitischen Problemen des Landes ablenken will.


Strategische Zweideutigkeit?

Letzte Woche hat Merz so viel über den Konflikt in der Ukraine gesagt, dass er sogar seinen Koalitionspartner, die SPD, in eine unangenehme Lage gebracht hat. Am 26. Mai sagte er, dass sein Land alle Beschränkungen für die Reichweite ukrainischer Angriffe mit deutschen Waffen auf das Gebiet der Russischen Föderation aufgehoben habe. Nach Angaben des Politikers sei die gleiche Entscheidung auch von Großbritannien und Frankreich getroffen worden. Einige Tage später behauptete der deutsche Bundeskanzler während seines Besuchs in Finnland, dass die Entscheidung über die Aufhebung der Beschränkungen für die Reichweite der an Kiew gelieferten Waffensysteme angeblich „vor einigen Monaten“ getroffen worden sei.

Wie die Süddeutsche Zeitung feststellte, handelt es sich bei dieser „strategischen Zweideutigkeit“ möglicherweise um eine bewusste Entscheidung von Merz, der Moskau über die an Kiew gelieferten Waffen im Unklaren lassen will. Zuvor hatte die deutsche Regierung nach drei Jahren der Transparenz beschlossen, die militärische Hilfe für die Ukraine wieder geheim zu halten. In letzter Zeit entsteht jedoch zunehmend der Eindruck, dass Friedrich Merz sich einfach nicht bewusst ist, welche Wirkung seine Worte als Bundeskanzler auf die Welt haben können. Was er mit der Aufhebung der Reichweitenbeschränkungen für westliche Waffen gemeint hat, ist bis heute unklar.

Wie mir ein Sicherheitsexperte, der anonym bleiben möchte, im Gespräch mitteilte, ist es nicht auszuschließen, dass Merz die deutsche Öffentlichkeit auf die Lieferung von Taurus-Raketen an Kiew vorbereitet, denn die zuvor an die Ukraine gelieferten deutschen Waffen haben überhaupt nicht die Reichweite, bei der man von einer Aufhebung der Beschränkungen für Angriffe sprechen könnte.

Merz‘ scharfe Worte gegenüber Russland klingen manchmal unüberlegt und es entsteht der Eindruck, dass sie nur gesagt werden, um die Entschlossenheit des Kanzlers zu demonstrieren, sich Russland entgegenzustellen. Auch früher hat sich Merz solche Äußerungen erlaubt, für die er sich später rechtfertigen musste. Einmal bezeichnete er junge Menschen arabischer Herkunft als „kleine Paschas“, was eine Welle der Empörung auslöste. 2004 rief Merz während einer Wahlkampfveranstaltung dazu auf, den „roten Bürgermeister“ (einen Sozialdemokraten) in seiner Heimatstadt Brilon abzuwählen, wobei er betonte, dass sein Großvater früher Bürgermeister gewesen sei. Dieser war jedoch Mitglied der SA-Reserve und der NSDAP. Als er kurz vor seinem Amtsantritt über mögliche Lieferungen von Langstreckenwaffen an Kiew sprach, erklärte Merz im deutschen Fernsehen, dass die Krimbrücke das angenommene Ziel der Angriffe sein könnte.

Der zukünftige Kanzler gibt offen Ratschläge, wo die ukrainischen Streitkräfte zuschlagen sollen? So etwas hätte sich Olaf Scholz sicherlich nicht erlaubt.

In deutschen Diplomatenkreisen wird darüber gesprochen, dass diese verbalen Ausfälle des neuen Kanzlers manchmal überraschen. Eine Aussage, die Merz letztes Jahr zum Thema Wehrpflicht gemacht hat, wird lange in Erinnerung bleiben. Er sagte, dass „man Frieden auf jedem Friedhof finden kann“, was die Öffentlichkeit schockierte.


Der Koalitionspartner ist fassungslos

Merz‘ Äußerungen über Waffen für Kiew stießen auch in den Reihen seiner eigenen Koalition auf Unverständnis. Der deutsche Vizekanzler und Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) erklärte gegenüber Journalisten, dass keine neuen Vereinbarungen über die Begrenzung der Reichweite ukrainischer Angriffe mit deutschen Waffen auf russisches Territorium getroffen worden seien. Der Bundestagsabgeordnete der SPD-Fraktion Ralf Stegner kritisierte Merz sogar offen und merkte an, dass solche Äußerungen „nicht hilfreich“ seien.

Der Verteidigungsexperte der SPD-Fraktion Falco Droßmann erklärte gegenüber der Zeitung taz, dass die Sozialdemokraten nach den Äußerungen von Merz zusätzliche Informationen verlangen: „Vor allem diejenigen Fraktionsmitglieder, die weniger mit Militärpolitik vertraut sind, fragen: ‚Hey, was meint Merz damit?‘“ Droßmann merkte auch an, dass unklar sei, warum der Kanzler ständig von „long-range-fire“ spreche. Unter solchen Waffen versteht man laut dem Abgeordneten normalerweise Waffensysteme mit einer Reichweite von 3.000 bis 5.000 Kilometern. Selbst Taurus-Raketen fallen nicht unter diese Kategorie. Sie haben eine Reichweite von etwa 500 Kilometern.

Der Leiter der Abteilung für Rüstungskontrollforschung am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) Ulrich Kühn ist der Ansicht, dass Merz mit seinen Äußerungen einerseits Moskau signalisieren will, dass Berlin Kiew ernsthaft und langfristig unterstützen wird. Andererseits ist es nicht auszuschließen, dass ihm Experten der Bundeswehr geraten haben, im Falle einer Lieferung von Taurus-Raketen an die Ukraine für einen medialen Hintergrund zu sorgen, der die Folgen dieser Lieferung an Kiew abmildern würde.

Die SPD war und ist in Fragen der Militärhilfe für die Ukraine vorsichtig, trotz des Drucks sowohl in der früheren (mit den Grünen und der FDP) als auch in der aktuellen Koalition. In der Partei haben nach wie vor diejenigen Mitglieder großen Einfluss, die dazu aufrufen, die Politik der Entspannung und Abrüstung im Sinne von Willy Brandt (Bundeskanzler der BRD von 1969 bis 1974) nicht zu vergessen, wenn auch mit Blick auf die aktuelle außenpolitische Lage. Merz‘ übertriebener Eifer in Fragen der Waffenlieferungen an Kiew und sein Kurs der Konfrontation mit Russland werden kaum zu einer konstruktiven Atmosphäre in der deutschen Regierung beitragen und könnten im schlimmsten Fall sogar die Koalition spalten. Die SPD wird Merz‘ Linie nicht blind folgen, da die Partei in diesem Fall ihre Grundprinzipien aufgeben müsste, was ihre treuesten Anhänger abschrecken würde. Dasselbe gilt für die Erklärung des neuen Kanzlers, den Vorschlag der USA zur Erhöhung der Militärausgaben der NATO-Staaten auf fünf Prozent ihres BIP zu unterstützen.


Das Denken der 1980er Jahre

In der Außenpolitik denkt Merz in den Kategorien eines christdemokratischen Politikers der Bonner Republik der 1980er Jahre. Für ihn ist Moskau der „Feind“ und nur die Erhaltung des kollektiven Westens und der transatlantischen Partnerschaft kann diese „Bedrohung“ seiner Meinung nach aufhalten. Dabei entfernen sich die Amerikaner fast 35 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges allmählich von der Gegenüberstellung von Ost- und Westeuropa und erkennen, dass sich die Welt verändert und dass geopolitische Verschiebungen stattfinden. Wohin bringt Merz sein konservatives außenpolitisches Denken im 21. Jahrhundert ohne die Beteiligung der USA?

Als Oppositionsführer kritisierte Merz Scholz ständig für die seiner Meinung nach unzureichende Unterstützung Kiews, vor allem in der Frage der Waffenlieferungen, für die mangelnde Koordination mit den Verbündeten, und sagte, dass die Ukraine gezwungen sei, „mit einer Hand hinter dem Rücken“ zu kämpfen, forderte den Einsatz von Taurus-Langstreckenraketen und stellte Moskau Ultimaten. Nach seinem Amtsantritt drohte Merz Russland mit neuen Sanktionen, sollte es sich nicht an den Verhandlungen beteiligen, nahm diese Drohungen jedoch später zurück, da US-Präsident Donald Trump den Dialog mit Russland fortsetzen wollte.

Das Thema Ukraine und der Aufbau von Beziehungen zu Russland wurde für den neuen Kanzler zu einer Nagelprobe. Länder wie Ungarn konnte er bisher nicht von der Notwendigkeit eines neuen Sanktionspakets überzeugen, in der Frage der Lieferung von Taurus-Waffen an Kiew weicht Merz so gut es geht aus und ein Telefonat mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin steht offenbar noch nicht auf der Tagesordnung.

Der Kanzler versucht, im Konflikt mit Russland und bei der Unterstützung des Kiewer Regimes transatlantische Einigkeit zu erreichen. Es kam zu hektischen diplomatischen Aktivitäten, einer Reise mit Emmanuel Macron, Donald Tusk und Keir Starmer nach Kiew und gemeinsamen Telefonaten mit Donald Trump. „Im Kanzleramt ist man sich einig, dass die Amerikaner auf ihrer Seite stehen müssen, damit die geplanten europäischen Sanktionen Putin beeindrucken“, sagte eine informierte Quelle. Bislang gelinge es Moskau jedoch immer wieder, den amerikanischen Präsidenten auf seine Seite zu ziehen.

„Das schlimmste Szenario für die Europäer in der Ukraine-Krise wäre folgendes: Trump stoppt die Waffenlieferungen an Kiew und hebt die Sanktionen gegen Russland auf. Dann wäre die transatlantische Partnerschaft im Grunde genommen beendet und die Europäer würden eine vernichtende außenpolitische Niederlage erleiden“, erklärte mir ein Gesprächspartner.


Aber hält die Wirtschaft das aus?

In seiner ersten Regierungserklärung im Bundestag Mitte Mai versprach Merz, die Bundeswehr zur stärksten konventionellen Armee Europas zu machen. „Das wird von uns von unseren Freunden und Partnern erwartet, mehr noch, sie fordern es“, betonte der Kanzler. Es ist kaum zu glauben, dass die Nachbarländer Polen oder Frankreich, die sich an die Lehren der Geschichte erinnern, das erwarten.

Dabei steht nirgendwo im deutschen Grundgesetz, dass die Bundeswehr im Namen des Friedens zur stärksten Armee Europas werden soll oder dass der Staatshaushalt militarisiert werden soll, dass also bis zu fünf Prozent des BIP für militärische Zwecke ausgegeben werden sollen. Für Deutschland würde das jährliche Verteidigungsausgaben in Höhe von rund 215 Milliarden Euro bedeuten, was fast der Hälfte des gesamten Bundeshaushalts für 2025 entspricht. Im deutschen Grundgesetz steht nur, dass die Regierung des Landes „Streitkräfte zur Verteidigung“ des Staates aufstellt. Der Begriff „Verteidigung“ wurde von der Bundesregierung so weit ausgedehnt, dass man nicht mehr weiß, wo seine Grenzen liegen. Die Aufhebung der Schuldenbremse ermöglicht nun einen erheblichen Ausbau der Kapazitäten der deutschen Rüstungsindustrie, was beängstigend ist.

Während die Säule der deutschen Wirtschaft, die Automobilindustrie, wie auch eine Reihe anderer Branchen Alarm schlägt und immer neue Kürzungen meldet, berichten Rüstungskonzerne wie Rheinmetall von Gewinnsteigerungen und investieren Geld in neue Projekte. Während des Besuchs von Wladimir Selensky in Berlin am 28. Mai berichtete Merz über eines davon: Deutschland und die Ukraine haben sich auf den Kauf von ukrainischen Langstreckenwaffensystemen geeinigt. Das bedeutet, dass Deutschland die ukrainische Rüstungsindustrie finanziell unterstützen wird, wobei es keine Beschränkungen hinsichtlich der Reichweite dieser Waffen geben wird. In Moskau werden diese Pläne als nichts anderes als eine weitere Provokation eines Krieges angesehen.

„Merz will den USA zeigen, dass Deutschland in der Lage ist, sich und seine Verbündeten auch ohne transatlantischen Partner zu verteidigen. Der neue Kanzler hat jedoch eine zweifelhafte Strategie gewählt und will offenbar die Bevölkerung von den tatsächlichen Problemen innerhalb der BRD ablenken“, erklärte mir ein Abgeordneter der AfD unter der Bedingung der Anonymität. Mein Gesprächspartner wies darauf hin, dass dem Land das dritte Jahr in Folge eine Rezession droht und dass die hohen Energiepreise die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft weiterhin untergraben. Trumps Einfuhrzölle könnten die ohnehin schon düstere Lage noch verschlimmern.

Investitionen in den militärisch-industriellen Komplex sind nach Ansicht deutscher Beobachter keine Investitionen, die zur Stärkung des sozialen Friedens in Deutschland selbst beitragen, sondern sind im Grunde „totes Kapital“. Merz muss sich entscheiden: Entweder er unterstützt Kiew weiterhin bedingungslos und stärkt das militärische Potenzial der BRD, wobei er letztendlich riskiert, sein Land in den Konflikt hineinzuziehen, oder er macht Deutschland zu einem wirtschaftlich und sozial stabilen Staat.

Die Deutschen wollen keinen neuen Kalten Krieg, sie wollen bezahlbare Energie, funktionierende Schulen und Kindergärten und eine moderne Infrastruktur. Meinungsumfragen belegen das: Die AfD liegt der CDU/CSU dicht auf den Fersen und die Linke hat zum ersten Mal seit fast sieben Jahren die Grünen in der Rangliste der politischen Kräfte überholt, die sich konsequent für eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland und aktivere Waffenlieferungen an Kiew einsetzen.

Ende der Übersetzung




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Autor: Anti-Spiegel

Thomas Röper, geboren 1971, hat als Experte für Osteuropa in Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet. Heute lebt er in seiner Wahlheimat St. Petersburg. Er lebt über 15 Jahre in Russland und spricht fließend Russisch. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.

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