Massive Aufrüstung einer schon jetzt militärisch weit überlegenen NATO! 15 deutsche Sicherheitsexperten warnen vor einer Sackgasse. Sie fordern Kompromisse zur Beendigung des Krieges & Diplomatie
- Wolfgang Lieberknecht

- 1. Apr.
- 4 Min. Lesezeit

„Die derzeitige sicherheitspolitische Debatte in Deutschland hat Maß und Mitte verlassen“, heißt es in einem am Dienstag veröffentlichten Aufruf. In dem Schreiben, das den Titel „Rationale Sicherheitspolitik statt Alarmismus“ trägt, wird zwar auch eine Bedrohung durch Russland konstatiert. Allerdings sei „ein Russland, das große Schwierigkeiten hat, seine Ziele in der Ukraine zu erreichen, eine beherrschbare militärische Bedrohung“. Die derzeit verbreitete Panikstimmung, begleitet von einer gigantischen Verschuldung für Aufrüstung, löse aber Europas Sicherheitsprobleme nicht. Zudem sei die Nato heute und auf absehbare Zeit in praktisch allen militärischen Belangen ungleich stärker als Russland.
Berliner Zeitung, Aufruf: Sicherheitsexperten warnen vor Russland-Panikmache – „gefährliche Sackgasse“(Auszüge): „Der letzte Auslöser für den Aufruf waren die Aussagen des Kollegen Sönke Neitzel“, sagte Varwick der Berliner Zeitung. Neitzel hatte vor wenigen Tagen öffentlich von einem „letzten Sommer im Frieden“ gesprochen, der uns noch bleibe, bevor Russland einen Angriff auf Nato-Staaten in Europa starte. „Aber auch der Spiegel-Titel zur Kriegstüchtigkeit und die Frage, ob wir bereit sind, unsere Kinder in den Krieg zu schicken, haben uns zu dem Aufruf veranlasst“, erklärte Varwick weiter.
Statt in „Alarmismus und Panik“ zu verfallen, fordern die Unterzeichner, „den Krieg in der Ukraine mithilfe kluger politischer Kompromisse über Verhandlungen zu beenden und danach auf der Basis vorhandener Stärke eine Stabilisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur anzustreben“. Hierfür dürfe nicht nur Aufrüstung und Kriegsvorbereitung im Mittelpunkt stehen, sondern müssten auch Rüstungskontrolle, vertrauensbildende Maßnahmen und Diplomatie wieder eine zentrale Rolle spielen. Der jetzige Kurs führe andernfalls in eine „gefährliche Sackgasse“.
Der Aufruf im Wortlaut:

Die derzeitige sicherheitspolitische Debatte in Deutschland hat Maß und Mitte verlassen. Eine verteidigungsfähige Bundeswehr und eine Verbesserung der sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit Europas sind unstrittig notwendig. Dazu gehören sinn volle Investitionen in eine defensive Ausstattung der Streitkräfte, die abschrecken, aber nicht weiter das Sicherheitsdilemma verschärfen, sowie eine möglichst einheitliche europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Doch der derzeit verbreitete Alarmismus in Teilen der Politik und der Medien ist nicht plausibel und basiert auf keiner seriösen Bedrohungsanalyse. Einige sicherheitspolitischen Experten reden sich geradezu in einen Rausch, sekundiert von nicht nachvollziehbaren Geheimdiensteinschätzungen über die aggressiven Pläne Moskaus gegen den Westen. Ohne Zweifel ist Russland eine Bedrohung für die europäische Sicherheit, und aggressive Absichten auch über die Ukraine hinaus sind nicht vollkommen auszuschließen – wenn auch hybride Bedrohungen plausibler sind als klassisch militärische. Ein nüchterner Blick auf die ökonomischen und militärischen Kapazitäten wie auch die (realisierbaren) Intentionen Russlands ergibt jedoch, dass wenig dafür spricht, dass Russland sich mit der Nato militärisch anlegen und deren Territorium angreifen könnte oder nur wollte. Ein Russland, das große Schwierigkeiten hat, seine Ziele in der Ukraine zu erreichen, ist eine beherrschbare militärische Bedrohung. Zudem ist die Nato heute und auf absehbare Zeit in praktisch allen militärischen Belangen ungleich stärker als Russland. Dies gilt selbst dann, wenn man nur die Ausgaben bzw. die Ausstattung der europäi schen Staaten inklusive Großbritannien addiert. In den europäischen Armeen gibt es zugleich deutliche Schwächen u. a. bei Luftabwehr, Drohnen und Munition, die aber behebbar sind – was auch Geld kostet. Ohne eine verlässliche amerikanische Sicherheitsgarantie muss sich Europa sicherheitspolitisch neu aufstellen. Auch sind moderne Gesellschaften anfällig, etwa mit Blick auf Angriffe auf kritische Infrastrukturen oder im Cyberbereich, aber auch den inneren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die derzeitig verbreitete Panikstimmung, begleitet von einer gigantischen Verschuldung für Aufrüstung, löst aber Europas Sicherheitsprobleme nicht. Wichtiger wäre, den Krieg in der Ukraine mit Hilfe kluger politischer Kompromisse über Verhandlungen zu beenden und danach auf der Basis vorhandener Stärke eine Stabilisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur anzustreben, in der nicht nur Aufrüstung und Kriegsvorbereitung, sondern auch die zweite Säule der Sicherheitspolitik – Rüstungskontrolle, vertrauensbildende Maßnahmen und Diplomatie – wieder eine zentrale Rolle spielen. Die Zeit dafür drängt – Alarmismus und Panik führen in eine gefährliche Sackgasse.
STELLUNGNAHME „RATIONALE SICHERHEITSPOLITIK STATT ALARMISMUS“, 30.03.2025 Prof. em. Dr. Michael Brzoska, eh. Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik Hamburg (IFSH) • Detlef Dzembritzki, MdB a.D. und Ehrenvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) • Dr. Hans-Georg Ehrhart, eh. Forschungsbereichsleiter am Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik Hamburg (IFSH) • Prof. em. Dr. Christian Hacke, Universität Bonn • Prof. em. Dr. Götz Neuneck, eh. Stellv. Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik Hamburg (IFSH) • Prof. em. Dr. August Pradetto, Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg • Prof. Dr. Conrad Schetter, Universität Bonn und Direktor des Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC) • Prof. Dr. Klaus Schlichte, Universität Bremen • Brigadegeneral a.D. Reiner Schwalb • Prof. em. Dr. Dieter Segert, Universität Wien • Prof. em. Dr. Michael Staack, Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg • Oberst a.D. Ralph Thiele, Publizist • Prof. Dr. Johannes Varwick, Universität Halle-Wittenberg und Präses des Wissenschaftlichen Forums Internationale Sicherheit (WIFIS) • Prof. em. Dr. Elmar Wiesendahl, eh. Direktor an der Führungsakademie der Bundeswehr in Ham burg • Prof. em. Dr. Herbert Wulf, eh. Direktor des Bonn International Centre for Con flict Studies (BICC). ViSdP: Prof. Dr. Johannes Varwick, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Politikwissenschaft, Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und europäische Politik, Steintorcampus, D-06099 Halle (Saale).
zur Erinnerung:
Wie ein Lauffeuer ging es in den vergangenen Wochen durch den europäischen Blätterwald: das Raunen von einem möglichen baldigen Angriff Russlands auf die Nato, innerhalb von „sechs bis zehn“, „fünf bis acht“, „drei bis fünf“ oder „zwei bis drei“ Jahren, laut Bild-Zeitung vielleicht auch „schon 2024“.
von Jan Menning
Vom deutschen Verteidigungsminister Pistorius über seinen polnischen Amtskollegen Kosiniak-Kamysz, die estnische Premierministerin Kallas und den schwedischen Minister für Zivilverteidigung Bohlin bis hin zum Generalinspekteur der Bundeswehr Breuer, dem Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz Heusgen und dem NATO-Generalsekretär Stoltenberg schlugen hochrangige Amtsträger Alarm. Sie forderten eine umgehende gesamtgesellschaftliche Mobilisierung, um nicht nur die Rüstungsproduktion auszuweiten und die Wehretats zu erhöhen, sondern vor allem das Gefahrenbewusstsein und damit die Opferbereitschaft der Bevölkerung zu schärfen und eine Wiedereinführung der Wehrpflicht ins Gespräch zu bringen. Der Politologe Herfried Münkler und der Ex-Außenminister Joschka Fischer preschten bereits mit der Forderung nach einer europäischen Atombombe vor.Ein Gespenst geht um in Europa: die Kriegstüchtigkeit

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