Der Kampf gegen Armut und der Kampf gegen den Militarismus gehören nicht nur zusammen. Sie sind derselbe Kampf.
- Wolfgang Lieberknecht
- vor 4 Stunden
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Bis heute steht am Rhein, wo ich lebe, weit und breit kein russischer Soldat, aber NATO-Truppen an der russischen Westgrenze und eine offensivfähige Panzerbrigade der Bundeswehr in Litauen, wenige Kilometer vor Kaliningrad. Die deutsche Öffentlichkeit ist völlig geschichtsvergessen. Ihr ist nicht bewusst, dass russische Großmütter und Urgroßmütter aufgrund ihrer schrecklichen Erfahrungen viel mehr Angst vor einem militärischen Angriff aus dem Westen haben dürften als unsere vor einem Angriff aus dem Osten. Russische Soldaten haben nie ein westeuropäisches Land überfallen. Russland hingegen wurde viermal aus Westeuropa angegriffen: zuerst von Napoleon, dann vom Deutschen Kaiserreich. Wenige Jahre später griffen 14 Staaten, darunter Deutschland, England, Frankreich und die USA, in den Interventionskriegen nach der Oktoberrevolution russisches Territorium an. Und schließlich überzog Nazi-Deutschland das Land mit dem grausamsten Eroberungs-, Vernichtungs- und Ausrottungsfeldzug der Geschichte, der – wie der Osteuropahistoriker Jochen Hellbeck sein jüngstes Buch nannte – Ein Krieg wie kein anderer war. Auch heute ist Defätismus fehl am Platz. Es gibt ein Zeitfenster, um Menschen gegen Kriegsszenarien aller Art zu mobilisieren. Fast zwangsläufig folgte all dem auch eine sozialpolitische „Zeitenwende“. Deren erstes Opfer war die Kindergrundsicherung, familien- und sozialpolitisches Prestigeprojekt der damaligen Ampelkoalition Nur wenn das Kardinalproblem – die wachsende soziale Ungleichheit innerhalb der einzelnen Gesellschaften wie zwischen den Ländern –, gelöst und die globale Kluft zwischen Arm und Reich geschlossen wird, wird die Menschheit ohne Krieg zwischen Atommächten überleben.
Wichtiger Text von Christoph Butterwegge! Auszüge aus dem Freitag:

Butterwegge: "Ich will nachvollziehbar machen, was mich damals angetrieben hat und warum und wie ich mich dem Thema jetzt erneut zuwende – und was wir aus der Geschichte lernen können, ums uns einer bedrohlichen Gegenwart zu stellen, die eine starke Friedensbewegung mehr braucht denn je.
Während meiner Kindheit wurde so gut wie nie über den Zweiten Weltkrieg gesprochen. Höchstens am Rande mal von „Hitlers Krieg“. Durch diese Personalisierung gelang es vielen Deutschen, sich von Mitschuld freizusprechen.
In seiner Rede zur „Zeitenwende“ sprach der damalige Kanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 nicht weniger als zehn Mal von „Putins Krieg“. Ich musste an Bertolt Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“ denken: „Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein?“ Nötig wäre eine Analyse der Entstehungsgeschichte des Konflikts, der Gesellschaftsstruktur in den unmittelbar beteiligten Ländern, der internationalen Machtverhältnisse sowie der Interessen und Militärstrategien aller beteiligten Staaten, auch der NATO und ihrer Führungsmacht.
Mit dem Tolstoi-Thema „Krieg und Frieden“ konfrontiert wurde ich als Kind oder Jugendlicher insofern, als meine Großmutter zwar nie vom Zweiten, aber umso häufiger vom Dritten Weltkrieg sprach: „Wenn wir nicht aufrüsten“, warnte sie, „steht der Russe bald am Rhein“.
So wurde im Westdeutschland der 1950er-Jahre, das sich nicht gern an die NS-Zeit erinnern ließ, die Remilitarisierung gerechtfertigt, der die SPD – damals noch Volkspartei – entgegentrat, wenn auch nicht konsequent genug.
Bis heute steht am Rhein, wo ich lebe, weit und breit kein russischer Soldat, aber NATO-Truppen an der russischen Westgrenze und eine offensivfähige Panzerbrigade der Bundeswehr in Litauen, wenige Kilometer vor Kaliningrad. Dort hat Russland seine auf Mittel- oder Westeuropa gerichteten Kurz- bzw. Mittelstreckenraketen (ihre Reichweite ist strittig) stationiert. Für die baltischen Staaten erscheint die Präsenz der Bundeswehr als Unterstützung gegenüber einem übermächtigen Nachbarn, für Russland hingegen als mögliche Bedrohung seines Raketenarsenals.
Die deutsche Öffentlichkeit ist völlig geschichtsvergessen. Ihr ist nicht bewusst, dass russische Großmütter und Urgroßmütter aufgrund ihrer schrecklichen Erfahrungen viel mehr Angst vor einem militärischen Angriff aus dem Westen haben dürften als unsere vor einem Angriff aus dem Osten. Ausgerechnet in der Region Kursk, wo vom 5. Juli bis zum 23. August 1943 die größte Panzerschlacht der Weltgeschichte tobte, schossen nun wieder deutsche Panzer auf Russen, ohne dass man die uns beschämende Parallele überhaupt wahrnahm. Zwar ist die militärische Unterstützung eines Landes, das sich gegen den Angriff eines mächtigen Nachbarn verteidigt, auch durch seine Belieferung mit schweren Waffen von der UN-Charta gedeckt und legitim. Aufgrund der NS-Geschichte und des Überfalls auf die Sowjetunion ab Juni 1941 war aber meines Erachtens völlige Zurückhaltung der Bundesrepublik in dieser Hinsicht geboten.
Russische Soldaten haben nie ein westeuropäisches Land überfallen. Russland hingegen wurde viermal aus Westeuropa angegriffen: zuerst von Napoleon, dann vom Deutschen Kaiserreich. Wenige Jahre später griffen 14 Staaten, darunter Deutschland, England, Frankreich und die USA, in den Interventionskriegen nach der Oktoberrevolution russisches Territorium an. Und schließlich überzog Nazi-Deutschland das Land mit dem grausamsten Eroberungs-, Vernichtungs- und Ausrottungsfeldzug der Geschichte, der – wie der Osteuropahistoriker Jochen Hellbeck sein jüngstes Buch nannte – Ein Krieg wie kein anderer war.
Wie im Kalten Krieg wird heute so getan, als stünde ein russischer Angriff auf Deutschland oder ein anderes NATO-Mitglied kurz bevor. Der Potsdamer Historiker Sönke Neitzel beschwor den „letzten Sommer in Frieden“ und kann jetzt erst ruhiger schlafen, seit Deutschland und fast alle NATO-Mitglieder auf Wunsch von Donald Trump fünf Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Militär ausgeben wollen. Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Bundeswehr-Uni München, nennt sogar Datum („27. März 2028“) und Ort („Narwa, Estland“). Auch „Militärexperten“ wie Nico Lange, Christian Mölling oder Claudia Major schüren die Vorkriegsstimmung. Als TV-Dauergäste müssen sie bloß auf die „veränderte Sicherheitslage“, „Putins imperialistische Machtgier“ sowie „die Abwendung der USA von Europa und der NATO“ hinweisen, um in den Redaktionen mit der Forderung nach Aufrüstung in beliebiger Dimension auf offene Ohren zu stoßen.
Dabei geben nicht nur die USA laut dem Friedensforschungsinstitut SIPRI zehnmal so viel für Rüstung aus wie Russland. Allein die Rüstungsausgaben der europäischen NATO-Staaten übersteigen den russischen Gesamtetat. Niemand weiß das besser als ein rücksichtsloser, aber rational agierender Machtpolitiker wie Putin. Hält man diesen hingegen für einen „durchgeknallten Diktator“, sollte man die Lieferung weitreichender Waffensysteme sofort einstellen, um keinen Atomkrieg zu provozieren.
Das ist nur einer der zahlreichen argumentativen Widersprüche, die uns zu denken geben sollten. Ein anderer: Angeblich war die Bundeswehr vor dem Ukrainekrieg „kaputtgespart“ und „mehr oder weniger blank“, wie Generalleutnant Alfons Mais, als Inspekteur des Heeres sagte. Doch zugleich rief man im In- und Ausland seit den ersten Stunden nach deutschen Waffensystemen wie Präzisionsgewehren, Panzerhaubitzen, Schützenpanzern, Kampfpanzern, Flugabwehrraketen, Marschflugkörpern.
„Friedenspolitisiert“ wurde ich während der 1960er-Jahre durch den Vietnamkrieg. Entscheidend für die Ausweitung des französischen Kolonialkrieges durch die USA waren nicht etwa „westliche Werte“, sondern die sogenannte Dominotheorie, wonach ganz Südostasien kommunistisch würde, wenn der verbündete Diktator in Südvietnam fiele. So rechtfertigte man den Einsatz von Napalm und Agent Orange, die noch heute für die Geburt missgebildeter Kinder sorgen.
Gegenwärtig erlebt die Dominotheorie eine küchenpsychologische Renaissance: Eine Niederlage der Ukraine werde Putin nur mehr „Appetit“ machen. Deshalb möchten manche Politiker den Ukrainekrieg weder rasch beenden noch einen Friedensschluss mit kaum zu vermeidenden Gebietsabtretungen akzeptieren. Sie verbinden mit dem Vorschlag militärischer „Sicherheitsgarantien“ für die Ukraine den Wunsch nach Entsendung eigener und von US-Soldaten, als hätte Russland den Krieg nicht geführt, um deren Vordringen an seine Westgrenze im Rahmen einer NATO-Mitgliedschaft seines Nachbarn zu verhindern.
Das einzige Land, das mehrere hundert über die ganze Welt verteilte Militärstützpunkte unterhält, um seine „Werte“ oder – wie linke Kritiker/innen sagen – die Kapitalverwertungsinteressen seiner reichsten Bürger notfalls mit Waffengewalt zu „verteidigen“, sind die USA. Ihr größter Militärstützpunkt außerhalb des eigenen Territoriums liegt nicht zufällig in Deutschland (Ramstein Air Base), ihr größtes Munitionsdepot außerhalb des eigenen Territoriums (Ammunition Center Europe) liegt ebenfalls dort. Von wo aus die USA nach dem missglückten Afghanistan-Feldzug einen weiteren Krieg führen würden, kann man unschwer erraten.
Um sich auf eine Prüfung vorzubereiten, schickte mich meine alleinerziehende Mutter 1962 für ein halbes Jahr in ein von Nonnen geführtes Internat. Auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise im Oktober dieses Jahres betete abends eine Schwester mit uns, der liebe Gott möge einen Atomkrieg verhindern, damit wir unsere Eltern wiedersähen. Nach dieser pädagogischen Meisterleistung lagen 50 heulende Jungen im Schlafsaal – eine meiner bedrückendsten Kindheitserinnerungen.
Um zu verhindern, dass die UdSSR wie geplant – oder aus taktischen Gründen vorgetäuscht – Mittelstreckenraketen auf Kuba aufstellten, riskierten die USA damals einen Atomkrieg, als sie sowjetische Frachter zur Umkehr zwangen. In einem lange geheimen Briefwechsel zwischen den Staatsoberhäuptern der UdSSR und der USA wurde damals eine Übereinkunft getroffen, dass auf Kuba keine Mittelstreckenraketen stationiert und die amerikanischen Mittelstreckenraketen vom Typ „Jupiter“ im Gegenzug aus Europa abgezogen würden, was im April 1963 auch geschah.
Vielen leuchtet das Argument ein, nach 1945 habe militärische Abschreckung, ein „Gleichgewicht des Schreckens“ einen Atomkrieg verhindert. Dabei hat die Abschreckung in der akuten Kuba-Krise überhaupt nicht funktioniert. Sie musste anschließend durch Rüstungskontrollvereinbarungen, vertrauensbildende Maßnahmen und Abrüstungsverträge unterfüttert werden.
Für den Ausbruch des Ukrainekrieges gibt es keine treffendere Parallele als den Oktober 1962. Was für die USA Kanada, Mexiko sowie die Karibik sind, ist für Russland neben Georgien die Ukraine. Wie man spätestens seit der Kursk-Offensive weiß, ist Russland von dort aus leicht anzugreifen. Eine mit John F. Kennedys damaligem Ultimatum vergleichbare Reaktion war erwartbar. Aber man wies Forderungen nach einer Verhandlungslösung auch noch kurz vor dem Angriff zurück.
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Werden sich junge Deutsche mit derartigen Verfahren bald wieder herumschlagen müssen? Meine 17-jährige Tochter bekommt jetzt Werbepostkarten vom „Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr“, darauf ein faksimiliertes Uniform-Namensschild mit unserem Hausnamen: „Hallo, dein Weg in die Zukunft beginnt hier!“, heißt es da, „Bei uns findest du mehr als 1000 Berufe – mit oder ohne Uniform. Wir bieten Teamgeist, Qualifizierung und Perspektiven für deine Karriere. Lust auf mehr?“ So wendet man sich an Jugendliche, die laut Postkarte „keinen Plan, aber Möglichkeiten“ haben: „Mach, was wirklich zählt.“ Als wäre der Soldatenberuf der denkbar sinnvollste. Glücklicherweise haben ihre Eltern genug Geld für den immer teurer werdenden Führerschein, der hier als Lockmittel dient.
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Fast zwangsläufig folgte all dem auch eine sozialpolitische „Zeitenwende“. Deren erstes Opfer war die Kindergrundsicherung, familien- und sozialpolitisches Prestigeprojekt der damaligen Ampelkoalition. Von der FDP bereits auf Bonsai-Format geschrumpft, waren am Schluss nicht einmal 2,4 Milliarden Euro jährlich dafür übrig, während für acht Milliarden Euro Waffen in die Ukraine geliefert wurden.
Auf den Weg gebracht wird das größte Aufrüstungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik zunächst nicht aus dem Staatshaushalt, sondern ohne Grenzen auf Pump. Weil die neuen Verschuldungsmöglichkeiten nicht für sogenannte konsumtive Zwecke genutzt werden dürfen, sind Substitutionseffekte gegenüber den normalen Staatsfinanzen weitgehend ausgeschlossen. So bleibt der Druck auf die öffentlichen Haushalte bestehen. Andersherum müssen aber die Zins- und Tilgungslasten der kreditfinanzierten Hochrüstung sowie des Sondervermögens für die Infrastruktur gegenfinanziert werden. Wir stehen vor einer Richtungsentscheidung: Rüstungs- oder Sozialstaat?
Schwarz-Rot verschärft den sozialen Klimawandel. Den Armen geht es zu gut! Geflüchtete und Menschen im Bürgergeldbezug leben in Saus und Braus! Reiche müssten hingegen stärker unterstützt werden, durch Steuersenkungen oder Direktsubventionen. Ein russischer Überfall auf NATO-Staaten ist ein Hirngespinst und Schreckgespenst, aber diese Angriffe sind real.
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Wer hingegen – wie ich – die Hauptursache von ökonomischen Krisen, ökologischen Katastrophen, sozialen Konflikten sowie von Kriegen und Bürgerkriegen in wachsender sozioökonomischer Ungleichheit sieht, muss das allgegenwärtige Mantra „Si vis pacem para bellum“ hinter sich lassen, das Helmut Schmidt 1958 im Bundestag als „satanische Weisheit des klassischen Imperialismus“ bezeichnet hat. Ersetzt werden muss es durch eine Maxime, die auf dem Grundstein des ersten Gebäudes der kurz nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) eingraviert wurde: „Si vis pacem cole iustitiam“ – Willst du Frieden, sorge für Gerechtigkeit. Nur wenn das Kardinalproblem – die wachsende soziale Ungleichheit innerhalb der einzelnen Gesellschaften wie zwischen den Ländern –, gelöst und die globale Kluft zwischen Arm und Reich geschlossen wird, wird die Menschheit ohne Krieg zwischen Atommächten überleben.
Ist gesellschaftlicher Widerstand gegen diese Phalanx aus Medien, Politik und Wirtschaft nicht aussichtslos? Lähmungsgefühle gab es auch vor den Massenprotesten der 1980er. Wer seine Stimme erhob, wurde damals nicht als „Putin-Freund“, aber „Moskaus fünfte Kolonne“ angegangen: „Geht doch nach drüben.“ Doch als sich Kirchen, Gewerkschaften sowie andere Akteure der Zivilgesellschaft in die „Nachrüstungsdebatte“ eingeschaltet hatten, gewann die Friedensbewegung der Bundesrepublik an Schwung. In der DDR wurde die neue Qualität des atomaren Wettrüstens nach einer Anlaufzeit gleichfalls Ausgangspunkt eines bunten Spektrums an Initiativen. Auch heute ist Defätismus fehl am Platz. Es gibt ein Zeitfenster, um Menschen gegen Kriegsszenarien aller Art zu mobilisieren.
Beim heutigen Stand der Militärtechnologie gibt es Sicherheit nur noch gemeinsam. Schon Egon Bahr und Willy Brandt wussten das. Friedensfähigkeit benötigt ein kollektives Sicherheitssystem, das die NATO und ihre Führungsmacht nach dem Kalten Krieg leicht hätten schaffen können. Russland und die übrigen Sowjetrepubliken hatten ja selbst einen NATO-Beitritt beantragt. Wäre man darauf eingegangen, wäre es wohl nie zum Ukrainekrieg und zum neuen Wettrüsten gekommen. Dasselbe gilt vermutlich auch, wenn die Ukraine statt des Ziels der NATO-Mitgliedschaft die immerwährende Neutralität in ihre Verfassung geschrieben hätte."
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