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22.6. Webinar: 80 Jahre nach dem Angriff auf die Sowjetunion. Wie Deutsch-Russische Brücken bauen?

Dr. Leo Ensel wird beim Webinar der Internationalen FriedensFabrik Wanfried am 22. Juni um 17.30 Uhr auf Zoom Online sein: https://us02web.zoom.us/j/3216854044 Dr. Leo Ensel ist ein Kind des "Kalten Krieges", Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Am Ende können Sie, kannst Du ein Interview mit ihm lesen. Ich fühle mich als „Gorbatschowianer“ an die Ränder abgedrängt, wo ich mich nach eigenem Empfinden niemals verorten würde, erklärt Leo Ensel.


22. Juni 1941: Beginn des Angriffskrieges zur Vernichtung der Menschen in der UdSSR, um Platz für deutsche Wehrbauern und für den Anbau von mehr Lebensmittel für die deutsche Bevölkerung zu erobern


Vor 80 Jahren marschierte die deutsche Wehrmacht in die Sowjetunion ein. Mit dem "Unternehmen Barbarossa" begann ein Vernichtungskrieg, der von deutscher Seite spätestens seit Juli 1940 geplant worden war.




Deutsche Panzer beim Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion, Juni 1941. (© picture-alliance, IBL Schweden)


Am 22. Juni 1941 begann der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion. Mit beinahe 3,3 Millionen Soldaten griff die Wehrmacht ohne Kriegserklärung auf breiter Front zwischen Ostsee und Schwarzem Meer an. Ziel war es, auch hier einen "Blitzkrieg"-Erfolg zu erreichen. Unter dem Decknamen "Barbarossa“" war der Überfall vom NS-Regime sorgfältig geplant worden.


Mit dem Einmarsch in die Sowjetunion begann ein beispielloser Vernichtungskrieg, um "Lebensraum" im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie zu schaffen. Hitler wollte diesen Krieg von Anfang an führen. Er war Kern seines ideologischen Programms, das Kommunismus und Judentum zum Hauptgegner erklärt hatte. Deutlich hatte Hitler bereits im März 1941 in seinen Anweisungen an den Chef des Wehrmachtsführungsstabes Jodl formuliert: "Dieser kommende Feldzug ist mehr als nur ein Kampf der Waffen; er führt auch zur Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen. […] Die jüdisch-bolschewistische Intelligenz, als bisheriger 'Unterdrücker' des Volkes, muss beseitigt werden."[1] Ebenso sollten die eroberten Gebiete und ihre Bewohnerinnen und Bewohner wirtschaftlich ausgebeutet werden.


Ausgangslage und Vorbereitungen

Nach Planungen seit dem Sommer traf die Wehrmacht auf Weisung Hitlers ab Dezember 1940 konkrete Vorbereitungen für einen Krieg gegen die Sowjetunion. Vorgesehen war, einen Großteil der dortigen Bevölkerung zu töten, einen kleinen Teil zu "germanisieren" – und den Rest zu versklaven oder zu vertreiben. Hierdurch sollte der "Lebensraum im Osten" für die Ansiedlung von Deutschen entstehen. Dasselbe Motiv hatte bereits dem Krieg gegen Polen zugrunde gelegen.


Der endgültige Name des Feldzugs, angelehnt an Kaiser Friedrich I. aus dem Adelsgeschlecht der Staufer, fiel in der "Weisung Nr. 21 Fall Barbarossa" vom 18. Dezember 1940 und wurde seit Januar 1941 allgemein als Deckname für den Angriff verwendet. Die Gründe für die Namenswahl sind jedoch bis heute unklar.


Für das „Unternehmen Barbarossa“ wurde die Wehrmacht zu erbarmungsloser Kriegsführung verpflichtet. Nachdem Hitler die Generalität auf den besonderen Charakter des anstehenden Feldzuges eingeschworen hatte (s.o.), erging am 13. Mai ein Erlass, der den Soldaten ein brutales Vorgehen gegen die sowjetische Zivilbevölkerung erlaubte. Zudem erließ das Oberkommando der Wehrmacht in eigener Initiative am 6. Juni "Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare" der Roten Armee: Diese seien nach ihrer Gefangennahme zu "erledigen".


Diese völkerrechtswidrigen Befehle fanden nur vereinzelt Widerspruch und wurden später weitgehend befolgt. Von vorneherein nahm die Militärführung überdies ein Massensterben sowjetischer Kriegsgefangener billigend in Kauf. In der Folge sollten über die Hälfte der 5,7 Millionen Rotarmisten, die bis Kriegsende in deutsche Gefangenschaft gerieten, sterben. Schließlich half die Wehrmacht der SS auch noch als Komplize des Massenmordes an einem Teil der sowjetischen Bevölkerung, den die Nationalsozialisten als rassisch minderwertig und politisch missliebig betrachteten.


Der Feldzug mit den Mitteln des "barbarischen Terrors"[2] (Götz Aly) richtete sich explizit auch gegen die Zivilbevölkerung. Durch den Erlass vom 13. Mai geschützt, verwüsteten Deutsche das Land, erschossen, erhangen, vergasten, verbrannten und erschlugen sowjetische Männer, Frauen und Kinder. Oder setzten sie dem Hunger- und Kältetod aus. Die Stäbe in Berlin hatten nämlich damit gerechnet, dass die über drei Millionen Mann starke Armee über reguläre Nachschubwege nicht verpflegt werden könnte. Deshalb sollten sie sich aus dem Land ernähren. Wissend, dass Nahrung in der Sowjetunion nur in begrenztem Umfang zur Verfügung stand, hieß es kalt in einer Staatssekretärbesprechung im Mai 1941, dass "[…] zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird"[3].


Angriff und Rechtfertigung durch die NS-Propaganda

Das NS-Regime informierte die deutsche Bevölkerung erst am Tag des Angriffs über den Überfall und versuchte ihn als Präventivschlag gegen eine unmittelbare Bedrohung durch den "jüdischen Bolschewismus" darzustellen. Tatsächlich war die Rote Armee nicht wirklich abwehrbereit, auch wenn man den deutschen Aufmarsch bemerkt hatte. Stalin hatte aber im Vertrauen auf das gute und vertraglich geregelte Verhältnis zu Deutschland ("Nichtangriffspakt") jede Provokation vermeiden wollen. Auch im deutschen Generalstab kam man zu diesem Schluss.


In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 ließ schließlich das Auswärtige Amt der sowjetischen Regierung eine Note zukommen. Darin durfte auf Weisung Hitlers das Wort "Kriegserklärung" nicht erwähnt werden. Stattdessen verwiesen die deutschen Diplomaten darauf, das russische Verhalten habe die deutsche Wehrmacht zu Gegenmaßnahmen gezwungen.


Verlauf und Ausgang der Operation

Zu Beginn verlief die Operation für die Wehrmacht erfolgreich. Die Rote Armee wurde von der Wucht des Angriffs überrascht und musste anfangs starke Verluste hinnehmen. Innerhalb weniger Monate kam der deutsche Angriff jedoch zum Erliegen, begleitet von starken Versorgungsengpässen. Den deutschen Soldaten machte auch der Einbruch des Winters zu schaffen. In der Erwartung einer schnellen Entscheidung waren die deutschen Verbände nicht ausreichend mit winterfester Kleidung ausgestattet worden.


Im Dezember 1941 ging die Sowjetarmee zu einer groß angelegten Gegenoffensive über. Durch diese Offensive brach die "Heeresgruppe Mitte" fast zusammen. Das Scheitern der Operation "Barbarossa" vor Moskau sowie die spätere Niederlage der deutschen 6. Armee in Stalingrad mit der Kapitulation ihrer wenigen verbliebenen Soldaten Ende Januar/Anfang Februar 1943 gelten als Wendepunkte des Zweiten Weltkrieges.


Bis Kriegsende im Mai 1945 verloren im deutsch-sowjetischen Krieg auf sowjetischer Seite insgesamt bis zu 27 Millionen Menschen ihr Leben, davon knapp die Hälfte Soldaten. Auf deutscher Seite kamen im gesamten Zweiten Weltkrieg zwischen sechs und sieben Millionen Menschen um, weit überwiegend Soldaten.


Wehrmachtsausstellung

Von April 1995 bis Oktober 1999 wurde in deutschen und österreichischen Städten die Wanderausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944" gezeigt, die das Hamburger Institut für Sozialforschung organisiert und finanziert hatte. Nach massiver Kritik wurde die Ausstellung überprüft und zahlreiche gravierende sachliche Mängel, Fehler und Manipulationen festgestellt. Im November 2001 schließlich wurde die zweite Wehrmachtsausstellung unter dem Titel "Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944" in Berlin eröffnet. Sie wurde an elf Orten in Deutschland, Luxemburg und Österreich gezeigt, zuletzt von Januar bis März 2004 in Hamburg und anschließend in den Bestand des Deutschen Historischen Museums (DHM) Berlin überführt.


Mit der Ausstellung begann eine grundsätzliche, emotionale und kontroverse Debatte über die Rolle der Wehrmacht im Vernichtungskrieg. Denn die Ausstellung fokussierte, dass auch die Wehrmacht ein verbrecherisches System war – was aber nicht bedeutet, dass auch all ihre Angehörigen Verbrecher waren. Durch die Debatte um die Verbrechen der Wehrmacht trat zu Tage, welche Probleme die Deutschen noch Ende der 1990er-Jahre mit der NS-Vergangenheit hatten.


Auch 75 Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion scheint es noch viel Sprachlosigkeit zu geben, wenn es um den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion geht. Historiker Götz Aly monierte deshalb zuletzt "geschichtspolitische Ignoranz und bodenlose Rohheit"[4]. Und forderte eine neue Debatte über deutsche Schuld.


Mehr zum Thema:

  • Vogel, Thomas: Die Wehrmacht: Struktur, Entwicklung, Einsatz

  • Vogel, Thomas: Weltkrieg

  • Jahn, Peter: 22. Juni 1941: Kriegserinnerung in Deutschland und Russland

  • Hintergrund Aktuell (22.06.2012): Überfall auf die Sowjetunion

Fußnoten

1.Zitiert nach: Wildt, Michael: Geschichte des Nationalsozialismus. Göttingen 2008, S. 157f.2.Zitiert nach: Aly, Götz: 75 Jahre deutscher Vernichtungskrieg. Berliner Zeitung, 20163.Aktennotiz über Ergebnis der heutigen Besprechung mit den Staatssekretären über Barbarossa, 2.5.1941. Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg 1947, Bd. 31, S. 84, zitiert nach: Wildt, s.o.4.Ebd.



West-Ost-Brückenbauer, abgedrängt an die Ränder – ein Lehrstück


Christian Müller / 24.03.2021 Publizisten, die nicht kritisieren, sondern Brücken bauen möchten, sind selten geworden. Viele westliche Medien lehnen sie ab.

cm. Wie geht es einem Menschen, dessen Lebensthema die Verständigung zwischen Ost und West ist, in der heutigen Zeit am Rande eines neuen Kalten Krieges? Wie kann er sein Anliegen der Deeskalation in der vielfältigen deutschen Medienlandschaft kommunizieren, wenn er auch noch die Position vertritt, dass Russland nicht immer an allem schuld ist? – Ein Lehrstück, aufgezeichnet von einem involvierten Konfliktforscher. Von Leo Ensel Ich bin kein Kriegskind, aber ein Kind des Kalten Krieges. Und das Thema „Ost-West“ ist mein Lebensthema. Angst vor ‚den Russen‘ – Angst vor dem Atomkrieg Geboren Mitte der Fünfziger Jahre, aufgewachsen in einem katholisch-konservativen Milieu im Rheinland, bin ich groß geworden mit der Angst vor ‚den Russen‘. Irgendwann würden sie kommen, uns überfallen und ihren schrecklichen Kommunismus hier einführen – jedenfalls dann, wenn die Amerikaner uns nicht beschützen würden. Anfang der Siebziger Jahre, als alle meine Klassenkameraden nach Österreich, Italien, Spanien oder gar nach Griechenland reisten, fuhr ich zum ersten Mal – und von da an alle ein bis zwei Jahre – in die DDR. Ich hatte in Thüringen ein Patenkind. Die höchst umständliche, irgendwie aber auch abenteuerlich-aufregende Reise in das Land hinter der Mauer und Stacheldraht – für uns Westler damals eine Zeitreise um Jahrzehnte zurück –, dieses Pendeln zwischen zwei völlig gegensätzlichen Lebenswelten auf einem Territorium, das mal ein Land gewesen war, dies war, so erscheint es mir heute, der Beginn eines lebenslangen Pendelns zwischen Ost und West unter den verschiedensten geopolitischen Rahmenbedingungen. Und es war im Rückblick der Keim für meine späteren interkulturellen Trainings bei lokalen Goethe-Instituten mit Germanistinnen in Mittel-/Osteuropa und im postsowjetischen Raum. Später, in den Achtziger Jahren, löste die Angst vor einem alles vernichtenden Atomkrieg die Angst vor ‚den Russen‘ ab. Ich schrieb damals für die junge westdeutsche Friedensbewegung ein Buch über „Angst und atomare Aufrüstung“. Und wie Hundertausende andere Westdeutsche ging ich auf die Straße, um gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen zu protestieren, die, das war unsere Überzeugung, die Gefahr eines Atomkrieges in Europa dramatisch verschärften. Die Lage schien aussichtslos: Beide Supermächte bis an die Zähne bewaffnet, in einer verhängnisvollen Aufrüstungsspirale verstrickt. Auf jede ‚Nachrüstung‘ folgte prompt eine ‚Nach-Nachrüstung‘, die Vorwarnzeiten betrugen zum Schluss nur noch vier Minuten – und beide deutsche Staaten mittendrin! Unser Land, die (alte) Bundesrepublik Deutschland, war mit rund 6000 gelagerten Atomsprengköpfen das Land mit der größten Atombombendichte der Welt. Das potenzielle Schlachtfeld der Supermächte. Im Ernstfall wäre hier kein Stein auf dem anderen geblieben. Und das wussten wir alle. „Einer muss anfangen, aufzuhören!“, so lautete eine etwas hilflose Parole. Und dann geschah ein Wunder. Michail Gorbatschow Eine Seite fing wirklich an, aufzuhören. Und es waren ausgerechnet unsere ‚Feinde‘! Der neue und jugendliche Held auf der weltpolitischen Bühne meinte es ernst. Fünf Jahre später war die Welt eine völlig andere: Die Mauer war gefallen, die kommunistischen Diktaturen in Mittel-/Osteuropa waren – fast überall friedlich – zusammengebrochen, Deutschland wiedervereinigt, aber das Allerwichtigste: Michail Gorbatschow, die Lichtgestalt aus dem Osten mit seiner attraktiven klugen Frau an der Seite hatte uns die Angst vor einem jeden Augenblick drohenden Atomkrieg genommen. Mit Zähigkeit und Klugheit hatte er nichts weniger als den bedeutendsten Abrüstungsvertrag der Weltgeschichte durchgesetzt. Das hatte es im Kalten Krieg noch nie gegeben: Eine ganze Waffenkategorie – und zwar die allergefährlichste – wurde in Ost und West restlos verschrottet! Und es ging weiter: Ende 1990 wurde mit der „Charta von Paris“ der Kalte Krieg offiziell für beendet erklärt. NATO und der (damals noch existierende) Warschauer Pakt erklärten feierlich, sich nicht mehr als Feinde zu betrachten. Der Weg schien frei für Gorbatschows Vision vom „Gemeinsamen Europäischen Haus“ – für einen Wimpernschlag der Weltgeschichte schien sogar Kants „Ewiger Frieden“ in Reichweite gerückt. Das waren die Träume einer Zeit, in der auf einmal alles doch noch gut zu werden schien. Die Entdeckung des Ostens Anfang der Neunziger Jahre verfasste ich meine Dissertation über die wechselseitigen Fremd- und Selbstbilder von Ost- und Westdeutschen zu Beginn der Wiedervereinigung; ein Projekt, das ich erst in dessen Verlauf – sozusagen ‚on the job‘ – als ‚ethnologische Feldforschung im eigenen Land‘, als Form ‚interkulturellen Lernens‘ zu begreifen lernte. Ab Mitte der Neunziger Jahre dehnte ich als Freelancer bei lokalen Goethe-Instituten, dem DAAD und der Robert Bosch-Stiftung meine Ost-West-Forschungen immer weiter in den Osten, in das Gebiet unserer einstmaligen ‚Feinde‘ aus: Nach Mittel-/Osteuropa in die Länder des ehemaligen Warschauer Paktes und in nahezu alle Länder des postsowjetischen Raums. Überall erkundete ich mit Germanistinnen vor Ort – Universitätsdozentinnen, Deutschlehrerinnen und Studentinnen – mit Mitteln des Szenischen Spiels deren Bilder von ‚den Deutschen‘ und ihre komplementären nationalen Selbstbilder. Für mich wurden diese zahlreichen Fahrten in den Osten zu einer einzigen riesigen Entdeckungsreise auf einem bis dato unbekannten Kontinent, der im Kalten Krieg nur ein gigantischer weißer Fleck auf meiner inneren Weltkarte gewesen war. Überall fand ich dieselben Transformationsprobleme vor, überall zeigten sie sich anders. Überall lernte ich außerordentlich freundliche, hilfsbereite Menschen kennen, die alle kein einfaches Leben führten, sich irgendwie durchkämpfen mussten, das auf imponierende Weise auch schafften, und mit nicht wenigen von ihnen freundete ich mich an. Ende der Neunziger Jahre war ich zeitweise mit einer jungen russischen Germanistin aus Lipezk liiert und schrieb für sie – stellvertretend für die Germanistikdozentinnen im postsowjetischen Raum – ein Buch über die „Deutschlandbilder in der GUS“. Diese deutsch-russische Beziehung war auch der Anlass für eine spätere sehr intensive Recherche der Kriegsroute meines Großvaters, die ihn als Oberstabsarzt der Heeresgruppe Süd ab Juni 1941 von Lemberg über Tarnopol, Uman quer durch die Ukraine bis in den Donbass geführt hatte, wo er vom Winter 1941/42 bis Sommer 1942 in Konstantinowka, 80 Kilometer nordöstlich von Donezk (damals: Stalino), ein Armeelazarett leitete. Ab Sommer 1942 musste er in den Kaukasus bis nach Maikop und von dort Ende des Jahres zurück auf die Tamanhalbinsel, gegenüber der Stadt Kertsch im Osten der Krim, wo er im Frühjahr 1943 die Kämpfe um den sogenannten „Kuban-Brückenkopf“ miterlebte. Als ich dann im Mai 2005 einen Auftrag vom Goethe-Institut Kiew erhielt, gab man mir die Möglichkeit, nicht nur in Kiew, sondern auch im Donbass – in Donezk und Gorlowka (Horliwka); zur Zeit beide Städte im Rebellengebiet – interkulturelle Trainings durchzuführen. Ich nutzte diese Gelegenheit, um unmittelbar vor Ort die Spuren meines Großvaters zu erkunden, Kontakt mit Veteranen und Veteraninnen aufzunehmen und ihnen die Fotos zu schenken, die mein Großvater in ihren Städten während der Besatzungszeit aufgenommen hatte. Und ich bekam in dieser Woche sehr intensiv mit, dass die Menschen im Donbass einen vollkommen anderen Blick auf die politischen Verhältnisse in der Ukraine haben als die Menschen im Westen des Landes – eine Erfahrung, die mir spätestens seit Beginn des Euromaidan, Ende 2013 hilft, auch die andere, in unseren Medien nahezu ausgeblendete Perspektive nachzuvollziehen! Ein weiteres Projekt war ein Theaterstück über den russischen Tangosänger Pjotr Leschtschenko – ein Superstar in den Dreißiger Jahren und clandestiner Liebling der Sowjetbürger dieser Epoche, der 1954 in einem Lager bei Bukarest jämmerlich verreckte –, das ich zusammen mit dem Oldenburger Figurentheater „Theater Laboratorium“ verfasste und für das ich im Sommer 2006 in Odessa recherchierte. Hätte man mich damals gefragt, was ich „da im Osten“, vor allem im postsowjetischen Raum, eigentlich treiben würde, so hätte ich geantwortet: „Aufräumarbeiten nach dem Ende des Kalten Kriegs!“ Und wenn man mich gefragt hätte, was denn mein Lebenstraum wäre, dann hätte ich nur sagen können: „Dass Deutsche und Russen – genauer: EU-Europäer und die Menschen des postsowjetischen Raums – sich alle mal genauso gut verstehen, wie heute die ehemaligen Erbfeinde Deutschland und Frankreich!“ Der Kindertraum von einem großen Runden Tisch, an dem alle entspannt sitzen und bei einem gepflegten Essen ein gutes Glas Rotwein zusammen trinken. Dass die Welt nochmal in einen zweiten, vielleicht noch schlimmeren Kalten Krieg hineinschlittern könnte, das war damals jenseits meines Vorstellungsvermögens … Der neue Kalte Krieg Aber spätestens seit dem Ukrainekonflikt Ende 2013/Anfang 2014 ist es wieder soweit. Für mich bedeutet dies konkret: Menschen, mit denen ich mich im Verlauf vieler Jahre angefreundet hatte – u.a. in Polen, der Westukraine, dem Donbass und Russland –, streiten sich jetzt untereinander. – Und ich mitten drin! Und nicht nur das: Themen, Bedrohungen, Ängste aus der Zeit des (ersten) Kalten Krieges, vor allem aus den Nachrüstungszeiten der Achtziger Jahre, von denen ich dachte, sie seien durch Gorbatschow glücklich für immer erledigt, werden wieder aktuell. Es ist für mich wie ein Flashback um 35 bis 40 Jahre. Es zerreißt mir das Herz mit ansehen zu müssen, wie das abrüstungspolitische Erbe Michail Gorbatschows, wie alle Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge, und zwar in erster Linie vom ‚Westen‘, nach und nach mutwillig an die Wand gefahren werden – und dies von den Öffentlichkeiten in allen direkt und mittelbar betroffenen Ländern völlig apathisch hingenommen wird. Und es macht mich, je nach Stimmung, fas­sungslos bis wütend, dass ich mit über 60 Jahren gezwungen bin, mich wieder mit denselben Themen zu befassen wie damals, als ich noch keine 30 war. Nur dass es damals in der Bundesrepublik eine breite, bis in die kleinsten Orte vernetzte Friedensbewegung gab und heute – so gut wie nichts! Ich habe mich in den Achtziger Jahren zu Nachrüstungszeiten nicht annähernd so isoliert gefühlt wie heute. Anfang März 2014 – die Krim war noch Teil der Ukraine – setzte ich mich an den Schreibtisch und machte mir Gedanken über Wege aus der neuen West-Ost-Konfrontation. Sie liefen, kurz gesagt, auf eine Rekonstruktion des Gorbatschow‘schen „Gemeinsamen Europäischen Hauses“ hinaus und auf die Vision einer partei-, länder- und ‚block‘übergreifenden Bewegung ‚von unten‘ – ich nenne sie „Breite Koalition der Vernunft“ – für Deeskalation. Und während dieser Zeit des Schreibens, der Neuorientierung im Zeitlupentempo, schien es mir, als hätte ich bislang mein ganzes Leben lang – mit meinem Engagement in der Friedensbewegung der Achtziger Jahre, meinem Buch über „Angst und atomare Aufrüstung“, meinen zahlreichen Fahrten fast in den gesamten postsowjetischen Raum, meinen interkulturellen Trainings mit russischen, ukrainischen, weißrussischen, kasachstanischen, armenischen etc. Germanistinnen und anderen Ost-West-Aktivitäten – nichts anderes getan, als mich fit zu machen für diese Zeit der erneuten Konfrontation zwischen dem Westen und Russland. Als ‚Gorbatschowianer‘ in ‚putinfinanzierten Medien‘ Es war allerdings für mich erheblich leichter, diese Gedanken zu entwickeln, als sie in die Welt zu bringen, geschweige denn zu realisieren. Da halfen mir auch meine Kontakte zum Deutsch-Russischen Forum, dessen Mitglied ich seit einigen Jahren bin, nicht weiter. Seit Frühling 2014 habe ich über 120 Essays verfasst, die ich alle als Variationen des Themas „Deeskalation im Neuen West-Ost-Konflikt“ verstehe. Nach einer dreieinhalbjährigen Odyssee durch die deutschen Leitmedien, bei denen ich ausnahmslos Körbe einkassierte, nahm ich schließlich im Herbst 2017 das Angebot von RT Deutsch (heute: RT DE) an, dort Texte als Gastautor zu veröffentlichen – wohlwissend, dass ich damit, so wie die Verhältnisse hier nun mal sind, mein Image in den Leitmedien endgültig ruinieren würde. Nachdem ich allerdings x-mal die Erfahrung machen musste, dass Essays, in denen Russland nicht ausschließlich für alles und jedes verantwortlich gemacht wird, gar nicht erst angesehen werden, beschloss ich, frei nach dem Motto „Beware of old men – they‘ve got nothing to lose!“ die Chancen zu nutzen, die mir in unserer ‚vielfältigen Medienlandschaft‘ überhaupt noch bleiben. Und siehe da: All die Themen meiner über 120 Essays, die ich bislang bei RT Deutsch veröffentlicht habe, habe ich mir selbst ausgesucht, RT Deutsch hat mich kein einziges Mal inhaltlich zensiert! Ich frage mich: Warum ist das bei Texten, deren Anliegen nichts anderes als Deeskalation, als die Rettung des Gorbatschow‘schen Erbes, als die Verhinderung eines neuen, noch gefährlicheren atomaren Rüstungswettlaufs ist – die allerdings die Hauptschuld für die neue Konfrontation nicht bei Russland, sondern bei uns, im Westen sehen –, warum ist dies in unseren Leitmedien nicht ebenfalls möglich? In den Achtziger Jahren wurden nachrüstungskritische Artikel, im Spiegel, in der Zeit, im Stern, in der Frankfurter Rundschau – von der TAZ ganz zu schweigen – veröffentlicht. Warum ist das heute – bis auf ganz wenige Ausnahmen, die man suchen kann wie die berühmte Stecknadel im Heuhaufen – nahezu unmöglich? Kurz: Die extreme Verengung des Meinungskorridors in unseren ‚vielfältigen‘ deutschen Leitmedien bringt es mit sich, dass ich als „eingefleischter Gorbatschowianer“ nur noch in „kremlnahen“, sprich: „putinfinanzierten“ Medien veröffentlichen kann! (By the way: Damit befinde ich mich mittlerweile allerdings in allerbester Gesellschaft, da selbst Gorbatschow höchstpersönlich, den ich in den letzten Jahren zweimal in seiner Stiftung besuchen konnte, mit seinem letzten Buch „Was jetzt auf dem Spiel steht – Mein Beitrag für Frieden und Freiheit“ in den deutschen Leitmedien – trotz des zeitgleichen 30. Jahrestags des Mauerfalls – fast ausschließlich ignoriert wurde!) Michail Gorbatschow signiert Leo Ensel seine Autobiographie «Alles zu seiner Zeit». © zvgAbgedrängt an die Ränder Mein Problem: Mit all meinen Texten, die sich in einer Welt neuen und alten Lagerdenkens um einen Zugang zum Thema „Deeskalation“ jenseits der etablierten Narrative – sprich: jenseits der falschen Alternativen, die mir von allen Seiten um die Ohren gehauen werden – bemühen, möchte ich die politische Mitte der Gesellschaft erreichen, jene 80 Prozent der Bevölkerung, die sich seit Jahren für ein besseres Verhältnis zu Russland aussprechen und ohne die sich nichts ändern wird. Die Mehrzahl dieser Bevölkerungsmehrheit liest aber nicht RT Deutsch. Die Leit- und anderen Medien, die die Mitte der Gesellschaft bedienen, akzeptieren umgekehrt keine Artikel, die die Russlandpolitik des Westens grundlegend kritisieren – und schon gar nicht von einem Autor, der bereits über hundertmal bei RT Deutsch veröffentlicht hat. (Was er dort geschrieben hat, ist übrigens egal – es reicht, dass er dort publiziert hat, um ihn für die Leitmedien in eine pu­blizistische Leiche zu verwandeln.) Anders gesagt, ich befinde mich in der klassischen ‚Loriot-Situation‘: Die Leitmedien werfen mir vor, mich genau in der Ecke zu befinden, in die sie mich jahrelang gedrängt haben. (Aber was soll eigentlich der Indikativ? Meine Texte werden von diesen Medien ja noch nicht mal ignoriert.) Mit einem Wort: Ich fühle mich als „Gorbatschowianer“ an die Ränder abgedrängt, wo ich mich nach eigenem Empfinden niemals verorten würde (1). Ich sitze, wie ich die letzte Folge einer achtteiligen biographischen Essay-Serie mal überschrieben habe – und die RT Deutsch, wie alle meine Texte, unzensiert veröffentlichte – „Zwischen allen Stühlen“. Ich bin sicher, dass ich nicht der Einzige bin, dem es mit diesem oder einem anderen Thema so geht – sehe mich daher als „Fall“. Es ist heute immer viel von „Haltung“ die Rede, die Publizisten an den Tag legen sollten. Was auch immer es damit auf sich haben mag – genau das tue ich! Nur halt nicht im fast überall erwünschten Sinne. Aber wenn gut begründete Positionen, die allerdings der in den Leitmedien fast ausschließlich kommunizierten Sicht der Dinge widersprechen, auf Dauer an die Ränder der Gesellschaft abgedrängt werden, dann ist mit unserer Meinungsfreiheit etwas grundsätzlich nicht in Ordnung. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – (1) Ich kann es auch anders formulieren: Bisweilen fühle ich mich wie ein ‚invertierter Wolf Biermann‘. Während dieser – bis zu seiner Ausbürgerung – in seiner Wohnung in Ost-Berlin saß und nur im Westen veröffentlichen konnte, sitze ich im (formal) demokratischen Westen und kann fast nur in Russland bzw. in von Russland finanzierten Medien publizieren. ________________________________________________________ PS: Leo Ensel schrieb diese seine Publikations-Odyssee im Sommer 2020, vorerst nur für seine privaten Bekannten. Nachdem der «Spiegel» aber kürzlich ihn und Andere namentlich – und damit ganz persönlich – angegriffen hat, liess er sich von Infosperber überzeugen, den Text zur Publikation freizugeben. Was hiermit bestens verdankt sei: Ensels Schilderungen werfen nicht zuletzt auch einen informativen Blick auf die gegenwärtige Medien-Szene in Deutschland. (cm) Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Im Neuen West-Ost-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens. Leo Ensel lebt in Oldenburg/Deutschland. / Zu Christian Müller siehe hier, deutsch und englisch. Weiterführende Informationen

  • «Charta von Paris»: Nicht vergessen, sondern vergessen gemacht

  • Michail Gorbatschow, der damalige Hoffnungsträger, wird heute 90

  • Deutschland initiiert eine neue «Wende» – eine Wende zurück

  • Axel-Springer-Medien: Döpfner ruft zu neuem Kalten Krieg auf





... Nun, natürlich, das Volk will keinen Krieg. Warum sollte irgendein armer Landarbeiter im Krieg sein Leben aufs Spiel setzen wollen, wenn das Beste ist, was er dabei herausholen kann, dass er mit heilen Knochen zurückkommt. Natürlich, das einfache Volk will keinen Krieg; weder in Russland, noch in England, noch in Amerika, und ebenso wenig in Deutschland. Das ist klar. Aber schließlich sind es die Führer eines Landes, die die Politik bestimmen, und es ist immer leicht, das Volk zum Mitmachen zu bringen, ob es sich nun um eine Demokratie, eine faschistische Diktatur, um ein Parlament oder eine kommunistische Diktatur handelt. ... das Volk kann mit oder ohne Stimmrecht immer dazu gebracht werden, den Befehlen der Führer zu folgen. Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land. 18. April 1946 - Abend im Gefängnis. Görings Zelle: Aus: Nürnberger Tagebuch (S. 270) / von G.M. Gilbert. Ehemaliger Gerichts-Psychologe beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. Aus dem Amerikanischen übertragen von Margaret Carroux

... - Fischer: Frankfurt a.M., 1962. - 455 S.


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