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Landesweite Proteste in Peru für Auflösung des Kongresses und für Neuwahlen

Straßensperren und Besetzungen vor allem in ländlichen Gebieten. Forderung nach Freilassung Castillos. Neue Präsidentin verhängt Ausnahmezustand im Süden

Von Julia Liebermann amerika21


peru_strassensperre_panamericana_12-12-22.jpeg "Schließung des Putsch-Kongresses": Straßensperre der Landarbeitergewerkschaft auf der Panamericana bei Virú QUELLE:JUAN VENTURA/RONDA CAMPESINA DE VIRÚ

Lima et al. Nach Absetzung des Präsidenten Pedro Castillo und Aufstellung des neuen Kabinetts durch die neue Präsidentin Dina Boluarte kommt es landesweit weiterhin zu massiven Protesten, Straßenblockaden und Streiks. Drei Menschen sind nach Regierungsangaben bei Auseinandersetzungen mit der Polizei zu Tode gekommen. Castillo war am vergangenen Mittwoch verhaftet worden, nachdem sein Versuch, den Kongress aufzulösen gescheitert war. Ihm werden nun "Verbrechen gegen die Staatsgewalten und Verfassungsbruch" vorgeworfen (amerika21 berichtete). Seine Anhänger:innen sprechen von einem Putsch. Die Demonstrierenden fordern die Auflösung des Kongresses, Neuwahlen und die Freilassung Castillos. In Andahuaylas, Arequipa, Trujillo, Iquitos, Madre de Dios, Ica, Tacna und Huacho weiteten sich die Proteste aus und wurden mit massiver Polizeigewalt zurückgeschlagen. In Arequipa besetzten Protestierende mindestens zehn Häuserblocks im historischen Zentrum. Auch der Regionalflughafen der Millionenstadt wurde laut Medienberichten am Montag von 2.000 Menschen besetzt und geschlossen. Die Arbeitergewerkschaft von Arequipa (Federación Departamental de Trabajadores de Arequipa) hat zu einem unbefristeten Streik in der Region aufgerufen, bis die nationale Regierung ihren Forderungskatalog erfüllt hat. Soziale Organisationen im Departamento Apurímac haben am Samstag beschlossen, in ihrer Region den "Volksaufstand" zu erklären und ab dem 12. Dezember in einen unbefristeten Streik zu treten. Quellen vor Ort berichteten, dass bei Protesten in der Region am Samstag mindestens 21 Personen verletzt wurden. Mehr als 10.000 Bäuer:innen aus dem Departamento Ucayali hatten ebenfalls weitere Proteste angekündigt. Der Präsident der regionalen Bauernorganisation, Smith Díaz, erklärte gegenüber lokalen Medien: "Wir lehnen diesen tyrannischen und putschistischen Kongress ab. Wir erkennen auch Dina Boluarte nicht als Präsidentin an". Sie fordern vorgezogene Wahlen, die sofortige Freilassung von Castillo und eine verfassunggebende Versammlung. In Cusco wird die Mobilisierung ebenso weitergehen, so Germán Santoyo, Generalsekretär der Arbeiterföderation von Cusco (Federación Departamental de Trabajadores de Cusco). Landesweit haben verschiedene soziale Bewegungen und Gewerkschaften für den heutigen Dienstag zu einem unbefristeten landesweiten Streik aufgerufen. Abschnitte der Panamericana sind blockiert. In der Gegend von Barrio Chino in Ica sperrten Dorfbewohner die Straße mit Steinen und Reifen auf dem Kilometer 261 der Panamericana Sur. Es bildeten sich lange Autoschlangen. Auch in anderen Regionen des Landes ist die wichtigste Verkehrsstraße immer wieder vorübergehend durch Barrikaden gesperrt. Das Büro des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte in Peru rief unterdessen zur Achtung der Menschenrechte während der Proteste und zur "Ruhe" auf, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Die Polizei setzt weiterhin Tränengas und Gummigeschosse zur Niederschlagung der Proteste ein, zahlreiche Personen wurden festgenommen. Die Nationale Koordination für Menschenrechte von Peru (Coordinadora Nacional de Derechos Humanos de Perú) verurteilte die Polizeigewalt und die willkürlichen Festnahmen auf das Schärfste und forderte die Führung der Sicherheitskräfte auf, die verfassungsmäßigen Normen zur Wahrung des Rechts der Bevölkerung auf Protest einzuhalten. Am Samstag protestierten in Lima Menschen erneut in der Nähe der Präfektur, in der Castillo festgehalten wurde, um seine sofortige Freilassung und die Achtung seiner verfassungsmäßigen Rechte zu fordern. Auch am Sonntag versammelten sich tausende von Demonstrierenden vor dem Kongress, um die Freilassung Castillos und Neuwahlen zu fordern. Währenddessen hat Präsidentin Boluarte ein neues Kabinett vereidigt. In ihrer Ansprache dazu sagte sie, "die Konsolidierung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, des Gleichgewichts der Kräfte und der Regierbarkeit im Land“ sei die wichtigste Aufgabe Ihrer Regierung. Als eine Ihrer ersten Amtshandlungen hat sie als Reaktion auf die Proteste den Ausnahmezustand für die südlichen Regionen des Landes ausgerufen. Nachdem sie zunächst angekündigt hatte, die Amtsgeschäfte bis 2026 zu Ende zu führen, hat Boluarte inzwischen angesichts der anhaltenden massiven Proteste vorgezogene Neuwahlen für April 2024 in Aussicht gestellt. Landesweite Proteste in Peru für Auflösung des Kongresses und Neuwahlen | amerika21


Peru: Die neueste Saga des unregierbaren Landes

Peru schlittert von Krise zu Krise, von Skandal zu Skandal, von Präsident zu Präsident. Mit dem Amtsantritt Castillos schien es so, als könnte sich die Geschichte ändern. Aber nein

Von Gerardo Szalkowicz Als Pedro Castillo sein Amt antrat, war die Frage nicht, wie es laufen würde, sondern wie lange. Und dann kam wie aus dem Nichts der Epilog einer lange angekündigten Chronik. Nach nur 16 Monaten Amtszeit, die gekennzeichnet waren durch die ständige Belagerung seitens der faktischen Machthaber, aber auch durch seine permanente Desorientierung, schoss sich Castillo selbst ins Bein und wurde zu einem weiteren Wegwerf-Präsidenten, zersetzt von der chronischen Fäulnis des peruanischen politischen Systems, versunken in einem traurigen und einsamen Ende. Für vergangenen Mittwoch war eine neue Abstimmung im Kongress angesetzt, um ihn abzusetzen. Es war der dritte Versuch der Rechten, ihn mit diesem außergewöhnlichen Instrument der "Vakanz aufgrund ständiger moralischer Unfähigkeit" zu stürzen. Sie brauchten 87 Stimmen und alles wies darauf hin, dass sie die nicht zusammenkriegen würden. Doch der Präsident griff dem vor und verkündete am Mittag mit zitternder Stimme und zitternden Händen in einer Fernseh- und Rundfunkansprache die Schließung des Kongresses, die Regierung "per Dekret", eine Ausgangssperre und die Einberufung neuer Parlamentswahlen innerhalb von vier Monaten. In Peru ist es legal, das Parlament aufzulösen, wenn es dem Präsidenten zweimal hintereinander das Vertrauen verweigert, was jedoch nicht geschehen war. Deshalb wurde der Schritt Castillos allgemein als "Selbstputsch" im Stil von Alberto Fujimori 1992 ausgelegt. Die Ablehnung ging quer durch das politische Spektrum. "Erst hat er das Versprechen des Wandels verraten, für das das Volk gestimmt hat, und jetzt putscht er wie der Fujimorismus. Castillo soll gehen! Sie sollen alle abhauen!", twitterte die Mitte-Links-Politikerin Verónika Mendoza. Der Vorsitzende von Perú Libre (der Partei, die ihn ins Präsidentenamt brachte und ihn später ausschloss), fasste das Manöver so zusammen: "Castillo hat überstürzt gehandelt, es gab nicht genug Stimmen für die Vakanz". Aber nicht nur seine ehemaligen Verbündeten wiesen ihn zurück, auch seine Minister verließen einer nach dem anderen das Schiff, und sogar seine eigene Vizepräsidentin, Dina Boluarte, stellte sich gegen ihn: "Ich lehne die Entscheidung von Pedro Castillo ab, den Zusammenbruch der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Schließung des Kongresses zu betreiben. Es handelt sich um einen Staatsstreich, der die politische und institutionelle Krise verschärft, die die peruanische Gesellschaft unter strikter Einhaltung des Gesetzes überwinden muss". Das Kommuniqué der Streitkräfte und der Nationalen Polizei, das den Schritt als "Verstoß gegen die Verfassung" bezeichnet, den sie nicht hinnehmen würden, besiegelte dann das Schicksal Castillos, der Stunden später im Kongress mit 101 Stimmen der 130 Abgeordneten abgesetzt wurde. Seine Amtsenthebung, die unter anderen Umständen wegen der Dürftigkeit der formellen Anschuldigungen nach einem "parlamentarischen Putsch" gerochen hätte, endete wegen seines unbedachten Versuch eines Gegenangriffs viel komfortabler als erwartet und mit größerer Legitimität. Der schwindelerregende Tag ging weiter mit der Vereidigung von Dina Boluarte, der ersten weiblichen Präsidentin Perus und der sechsten Person, die sich in den letzten sechs Jahren die Schärpe anlegt. Die Linkspolitikerin, 60-jährige Anwältin, die Perú Libre ebenfalls verlassen hatte, erbat in ihrer Antrittsrede flehentlich "eine politische Waffenruhe": Sie weiß, dass sie mit den Beschränkungen eines pseudoparlamentarischen Systems regieren muss, das so sehr an Absetzungs-Offensiven gewöhnt ist. Seit mindestens zwei Jahrzehnten schlittert Peru von Krise zu Krise, von Skandal zu Skandal, von Präsident zu Präsident. Die letzten sieben gewählten Präsidenten (seit 2000) wurden abgesetzt und/oder landeten im Gefängnis, mit Ausnahme von Alan García, der sich vor seiner Verhaftung selbst erschoss. Mit dem plötzlichen Antritt eines Präsidenten aus dem Landesinneren Perus, ein Landlehrer und Gewerkschaftsführer, schien es so, als könnte sich die Geschichte ändern. Dass endlich die Zeit für die populare Revanche und das Ende der langen neoliberalen Nacht gekommen ist. Aber nein. Vom Establishment bedrängt, das ihm von der ersten Minute an den Krieg erklärte, gab Castillo seine Versprechungen zu grundlegenden Veränderungen auf und blieb stecken in seinem unklaren Verhalten, seinen vermeidbaren Fehlern und seiner Unfähigkeit, den Konflikt zu handhaben. Gefangener der ständigen Improvisation (er berief 75 Minister in weniger als anderthalb Jahren) und wegen Korruptionsfällen beschmutzt, wie alle seine Vorgänger. So endet ein neues Kapitel auf dem bizarren Weg der schwachen peruanischen Demokratie, mit einem weiteren Präsidenten, der eine historische Chance vertan hat ‒ aufgefressen von einem unregierbaren Land.

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