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Kristin Helberg: Nie wieder ist jetzt in Gaza! Erst wenn wir Deutschen unsere historische Schuld als individuelle Verantwortung begreifen, können wir helfen, Völkermorde zu verhindern oder zu beenden!

„Wer schweigt, macht sich mitschuldig“, mahnte die Holocaustüberlebende Eva Szepesi am 31. Januar 2024 im Bundestag. Aktuell hört man solche Sätze von UN-Vertretern, die über das Aushungern und Töten von Kindern in Gaza sprechen: „Wenn wir nichts dagegen tun, sind wir Komplizen“. Deutsche Politiker sind nach dieser Logik seit langem Komplizen. Denn sie versagen nicht nur darin, die von Israel begangenen Verbrechen zu benennen, zu verurteilen und zu stoppen – sie unterstützen diese sogar mit Waffenlieferungen. Längst folgt Israels Vorgehen keinem geheimen Plan mehr, sondern einer offiziellen Strategie: Palästinensisches Leben soll verdrängt und vernichtet, palästinensisches Land besetzt und besiedelt werden. Egal wie wir das nennen – Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ethnische Säuberung oder Genozid – alle UN-Mitglieder und besonders die Unterzeichner der Völkermord-Konvention sind verpflichtet, es zu stoppen. Statt zum 60. Jahrestag der deutsch-israelischen Beziehungen Nähe und Freundschaft mit Israels Repräsentanten zu zelebrieren, sollte Deutschland deshalb all jene unterstützen, die sich mutig gegen Netanjahu und die Faschisten in seinem Kabinett stellen – Hunderttausende Demonstranten, Angehörige der Geiseln, Reservisten und Ex-Soldaten, Wissenschaftler wie Amos Goldberg und Omar Bartov, Persönlichkeiten wie Daniel Levy, Yuval Abraham, Ofer Cassif, Michael Sfard und Omri Boehm.

Kommentar für die Berliner Zeitung von der Homepage von Kristin Helberg



Erst wenn die Deutschen ihre historische Schuld als individuelle Verantwortung begreifen, können sie Völkermorde verhindern. Eine Kolumne.

80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind die Deutschen Gefangene ihrer Vergangenheit. Zu Recht wird ihre Unfähigkeit kritisiert, die Schuld der eigenen (Ur-) Großeltern während des Nationalsozialismus anzuerkennen – Menschen, die mitliefen, schwiegen oder wegschauten. „Wer schweigt, macht sich mitschuldig“, mahnte die Holocaustüberlebende Eva Szepesi am 31. Januar 2024 im Bundestag. Aktuell hört man solche Sätze von UN-Vertretern, die über das Aushungern und Töten von Kindern in Gaza sprechen: „Wenn wir nichts dagegen tun, sind wir Komplizen“.


Deutsche Politiker sind nach dieser Logik seit langem Komplizen. Denn sie versagen nicht nur darin, die von Israel begangenen Verbrechen zu benennen, zu verurteilen und zu stoppen – sie unterstützen diese sogar mit Waffenlieferungen. Damit gehen sie ein hohes persönliches Risiko ein. Denn wer jetzt noch Ausfuhrgenehmigungen für Panzerteile nach Israel unterschreibt, wird sich irgendwann vor Gericht verantworten müssen, meinen Juristen. Völkerrechtler, ehemalige Botschafter, jüdische Intellektuelle sowie Menschenrechtsorganisationen fordern deshalb eine Wende der deutschen Israel-Politik. Wie könnte diese aussehen?


Zunächst muss die deutsche Politik erkennen, dass die völkisch-nationalistische Regierung von Benjamin Netanjahu kein Verbündeter ist. Diese zerstört nicht nur palästinensische Existenz, sondern auch Israel von innen. Sie bekämpft die UN und ihre Institutionen, untergräbt an der Seite von US-Präsident Donald Trump die internationale regelbasierte Ordnung und verbündet sich mit Europas Rechtspopulisten. 19 Monate mit Netanjahu „im Austausch stehen“ hat nicht die Hamas zerschlagen, nicht die verschleppten Geiseln gerettet und nicht die Abriegelung Gazas verhindert.


Statt zum 60. Jahrestag der deutsch-israelischen Beziehungen Nähe und Freundschaft mit Israels Repräsentanten zu zelebrieren, sollte Deutschland deshalb all jene unterstützen, die sich mutig gegen Netanjahu und die Faschisten in seinem Kabinett stellen – Hunderttausende Demonstranten, Angehörige der Geiseln, Reservisten und Ex-Soldaten, Wissenschaftler wie Amos Goldberg und Omar Bartov, Persönlichkeiten wie Daniel Levy, Yuval Abraham, Ofer Cassif, Michael Sfard und Omri Boehm. Organisationen wie Breaking the Silence, B'Tselem, Combatants for Peace und Standing Together sollten stärker finanziell gefördert, ihre Vertreter in den Bundestag eingeladen werden – denn ihre Botschaften sind die der Holocaustüberlebenden.


Um die Blockade Gazas zu beenden, könnte die EU das Assoziierungsabkommen mit Israel aussetzen und Sanktionen gegen die verantwortlichen Politiker verhängen. Der israelische Botschafter sollte nicht länger hofiert, sondern einbestellt werden. Einseitige Sprechverbote („From the river to the sea“) müssen aufgehoben, Antisemitismusresolutionen in Zusammenarbeit mit der Wissenschaft überarbeitet werden.


Längst folgt Israels Vorgehen keinem geheimen Plan mehr, sondern einer offiziellen Strategie: Palästinensisches Leben soll verdrängt und vernichtet, palästinensisches Land besetzt und besiedelt werden. Egal wie wir das nennen – Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ethnische Säuberung oder Genozid – alle UN-Mitglieder und besonders die Unterzeichner der Völkermord-Konvention sind verpflichtet, es zu stoppen.


Sich von der Vergangenheit zu befreien, bedeutet im Falle der Deutschen, historische Schuld nicht als Kollektivschuld gegenüber einem anderen Staat zu verstehen, sondern als individuelle Verantwortung für das eigene Handeln. 80 Jahre nach dem Holocaust müssen wir die selbstverordnete Lähmung gegenüber israelischen Menschenrechtsverletzungen überwinden, wir dürfen uns nicht erneut durch Schweigen schuldig machen. Nie wieder ist jetzt – überall und ganz besonders in Gaza.




Kristin Helberg (* 1973 in Heilbronn) ist eine deutsche Journalistin und Sachbuchautorin.

Leben

Helberg wurde in Heilbronn geboren und wuchs dort auf. Nach dem Abitur am Theodor-Heuss-Gymnasium Heilbronn[1] studierte sie in Hamburg und Barcelona Politikwissenschaft und Journalistik. Mit dem Journalismus begann sie 1994 mit einem Praktikum bei der Heilbronner Stimme.[2] 1995 bis 2001 arbeitete sie beim NDR. Von 2001 bis 2008 lebte sie in Damaskus in Syrien, wo sie lange Zeit die einzige offiziell akkreditierte westliche Korrespondentin war.[3] Sie arbeitet als freie Journalistin für die ARD, den ORF, das Schweizer Radio DRS und das Schweizer Fernsehen.[4]

Kristin Helberg war mit einem syrischen Arzt verheiratet.[5][6] Sie hat drei Kinder.[7][8]


Schriften

  • Brennpunkt Syrien. Einblick in ein verschlossenes Land. Herder, Freiburg im Breisgau 2012, ISBN 978-3-451-06544-6. 2. Auflage 2014.

  • Verzerrte Sichtweisen. Syrer bei uns. Herder, Freiburg im Breisgau 2016, ISBN 978-3-451-31157-4.

  • Der Syrien-Krieg: Lösung eines Weltkonflikts. Herder, Freiburg im Breisgau 2018, ISBN 978-3-451-38145-4.



Commons: Kristin Helberg – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Werden wir von unseren Opfern lernen: von Menschen im Gazastreifen, von dem Journalisten, der brannte, um die Wahrheit ans Licht zu bringen, von dem Sanitäter, der sein Leben gab, um andere zu retten?

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