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Krieg: Nicht geplant, aber möglich: Rücksichtslose Entscheidungsträger haben das Risiko geschaffen

US-Amerikanischer Russlandexperte Stephen Cohen: Die Gefahr des Krieges ist nicht, dass jemand einen Krieg plant, sondern dass rücksichtslose politische Entscheidungsträger – vor allem im Westen – eine Situation geschaffen haben, in der ein Krieg möglich ist. Die russische Militärdoktrin beinhaltet den Einsatz taktischer Atomwaffen, wenn das Land von konventionellen Waffen aus dem Westen überwältigt wird. Das würde ich an der Stelle westlicher Regierungen nicht testen wollen. Auszügen aus einem hochaktuellen Interview mit den US-Amerikanischen Russlandexperten Stephen Cohen zu Beginn der Ukraine-Krise:

Stephen Cohen starb im vergangenen Jahr. Er warnte dringlich vor einem neuen Kalten Krieg und meinte, dass die Welt im gefährdetsten Moment ist seit der Kubakrise 1962. Auszüge aus dem Interview mit ihm in der TAZ: "Die Ukraine ist so wichtig für die politische Führung der USA, dass sie einen Krieg mit Russland riskiert. Warum das so ist, lässt sich nur sehr schwer erkennen. Denn hier findet keine öffentliche Debatte über diese Krise statt. Dabei befinden wir uns an einem historischen Wendepunkt. Letzten Sonntag hat die New York Times berichtet, dass Obama im Wesentlichen einen neuen Kalten Krieg gegen Russland deklariert und sich die alte Politik der Eindämmung zu eigen gemacht hat. Beide Parteien – Demokraten und Republikaner – sind tief verwickelt. Seit den 90er Jahren haben Clinton, Bush und Obama eine Politik gemacht, die Russland umzingelt. Die Ukrainekrise ist ein kolossales Scheitern der US-Außenpolitik. Sie hat uns an den Rand eines Krieges gebracht. Und alle US-Präsidenten seit Clinton sind Komplizen. Wenn eines Tages die Geschichte geschrieben wird, wie wir ganz nah an einen Krieg mit Russland gekommen sind, müssen wir viel weiter zurückgehen. Es beginnt in den 90er Jahren, mit der Entscheidung, die Nato von Deutschland aus bis an die russische Grenze zu bewegen. Die Nato ist jetzt im Baltikum. Die Ukraine in die Nato bringen. Darum geht es die ganze Zeit. Und Merkel, die 2008 gegen einen Nato-Beitritt der Ukraine war und die Russland versteht und die zumindest mit Putin reden kann – die arme Merkel ist in eine unmögliche Lage geraten. Wir hätten die ukrainische Situation im November an Merkel übergeben sollen. Sie hätte eine Lösung gefunden. Die Amerikaner sind viel zu ideologisch. Und Obama ist eindeutig nicht gut in Außenpolitik. Wenige Stunden vor der Flucht von Janukowitsch aus Kiew waren drei europäische Außenminister in Kiew und haben mit ihm gesprochen. Einer davon war der deutsche. Sind nicht auch die drei – Steinmeier inklusive – mit gescheitert? Die drei hatten ein Abkommen ausgehandelt, das Janukowitsch bis Dezember als Präsident im Amt gelassen hätte und eine Regierung der Aussöhnung beinhaltete. Russland hatte nichtöffentlich zugestimmt, Geld zu geben. Es sah wie der beste Weg aus. Ohne Gewalt. Das Abkommen wurde von den Radikalen auf der Straße zerstört. Was hätten die drei europäischen Minister tun sollen? Sie hätten den drei Typen, den ukrainischen Führern Tjagnybok, Klitschko und dem komissarischen Prermierminister Jazenjuk sagen können: Wenn ihr unsere Unterstützung wollt, müsst ihr Janukowitsch schützen und die Straße stoppen. Stattdessen sind sie abgehauen. Nachdem sie gescheitert waren, haben sie eine neue, nicht gewählte, illegitime Regierung umhegt, die nicht auf der Grundlage ihres Abkommens an die Macht gekommen ist. Das ist ein Skandal. Und sie haben die ganze Sache an den polnischen Außenminister übergeben. Das Mindeste, was man über den sagen kann, ist, dass er, in Sachen Russland ein Radikaler ist. Jetzt haben die Polen und die Radikalen auf den Straßen, unter denen auch Neofaschisten sind, das Sagen. Und die Geschichte entwickelt sich auf einen Krieg hin. Ich weiß nicht, warum Merkel nicht interveniert hat. Sie steht unter enormem Druck. Ich vermute, sie hat kapituliert. Erstens hat nicht Putin diese Krise begonnen. Es gab keine russische Aggression. Diese Krise begann, als die Europäische Union Janukowitsch im November ein Entweder-oder-Ultimatum gestellt hat. In den Protokollen des Abkommens ist die Nato zwar nicht explizit erwähnt, aber die Sicherheitsbedingungen hätten die Ukraine zu einer Art Ehrenmitglied der Nato gemacht. Zweitens ist falsch, dass Putin hinter allem steckt, was in der Ostukraine passiert. Die USA haben mehr Kontrolle über die Regierung in Kiew als Putin über die Aufständischen im Osten. Aber auch Putin hat die Ukraine im vergangenen Herbst unter Druck gesetzt, sich zu entscheiden. Das stimmt nicht. Im Vorfeld des November haben sowohl Putin als auch Russlands Außenminister Sergei Lawrow Brüssel verschiedentlich gefragt: Warum stellt ihr die Ukraine vor eine Entweder-oder-Wahl? Und angeboten, mit der EU und der Ukraine einen Drei-Parteien-Mini-Marshallplan auszuhandeln. Putin wusste, dass eine gleichzeitige Zugehörigkeit der Ukraine zu einer EU-Wirtschaftsgemeinschaft und zu seiner eurasischen Gemeinschaft problematisch sein könnte. Aber er schlug vor, die Entscheidung für ein oder zwei Jahre zu verschieben. In der Zwischenzeit sollten EU-Wirtschaft und russische Wirtschaft in der Ukraine kooperieren. Vielen erschien das unrealistisch. Sie können sagen, das war ein unmöglicher Weg. Oder es war ein Trick. Aber die Ablehnung durch Brüssel und Washington hat die Krise beschleunigt. Die Ukraine ist ein tief gespaltenes Land. Es mag einen ukrainischen Staat gegeben haben, als die Krise begann. Aber es gab immer – Geschichte, Gott oder Schicksal – zwei oder sogar drei ukrainische Länder: der Westen, der Osten und die Zentralukraine. Die Westukraine hatte immer eine Affinität zu Europa, die Ostukraine zu Russland. Es war ein schwerer Fehler, dieses tief gespaltene Land zu einer schicksalhaften Entscheidung zwischen Westen und Osten zu drängen. Was wir jetzt erleben, ist der Niederschlag dieses Fehlers. Präsident Obama ist gegen Militärinterventionen – sowohl in der Ukraine als auch anderswo. Er will der Präsident sein, der die amerikanischen Kriege beendet und die Amerikaner nach Hause bringt. Er will nur mit Drohnen kämpfen. Er will keinen Krieg. Aber er verfolgt eine Politik, die dazu führt, dass ein Krieg möglich wird. Ein Leader, der eine Politik macht, die gegen seine eigenen Ziele verstößt, ist ein schlechter Leader. Sie nennen den neuen Kalten Krieg gefährlicher als den alten. Warum? Sein Zentrum liegt nicht in Deutschland – weit weg von Russland –, sondern weiter östlich, direkt an der russischen Grenze. Alles ist da möglich. Während des ersten Kalten Krieges gab es stabilisierende Verhaltensregeln. Manchmal wurde eine Regel gebrochen. Zum Beispiel, als Chruschtschow 1962 die Raketen nach Kuba gebracht hat. Aber im Allgemeinen wurden die Regeln beachtet. Im jetzigen Kalten Krieg gibt es keine Regeln. Es gibt lauter außer Kontrolle geratene Akteure. Wen meinen Sie? Typen mit Masken, die in der Westukraine herumlaufen, wo die Situation genauso brenzlig ist wie in der Ostukraine. Wir haben eine illegitime Regierung in Kiew. Wir haben Leute in Russland, die genervt und nicht unter Putins Kontrolle sind. Und wir haben die Abwesenheit einer Debatte in Washington. Die Situation ist außer Kontrolle. Deswegen nähern wir uns einem Krieg. Es könnte jederzeit passieren. Die Gefahr des Krieges ist nicht, dass jemand einen Krieg plant, sondern dass rücksichtslose politische Entscheidungsträger – vor allem im Westen – eine Situation geschaffen haben, in der ein Krieg möglich ist. In den USA wissen die meisten Menschen nicht einmal, wo die Ukraine liegt. Wieso sollten sie bereit sein, wegen der Ukraine in einen Krieg zu ziehen? Hier wusste auch niemand, wo Vietnam liegt. Oder der Irak oder Afghanistan. Kriege werden von Eliten gemacht, nicht vom Volk. Und die Eliten verfolgen oft eine Politik, die so unklug ist, dass sie in einen Krieg schlittern, den sie nicht antizipiert haben. Werden die Sanktionen gegen Russland etwas bewirken? Sie werden wehtun. Aber sie werden Putins Politik nicht ändern. Falls die wirtschaftliche Lage in Russland so schmerzhaft wird, dass es dort einen Maidan gibt, sollten Sie beten. Denn Russland ist das territorial größte Land der Welt und hat mehr Massenvernichtungswaffen als jedes andere Land. Wenn sich Russland auf die Art fragmentiert wie die Ukraine, ist niemand mehr sicher. Traditionell bedeutet Kalter Krieg, dass sich zwei ideologisch konträre Mächte gegenüberstehen. Gegenwärtig haben wir das nicht. Doch. Unsere Ideologie ist Freiheit, Demokratie, der Aufstieg des Individuums, ökonomischer Wohlstand, freie Märkte und ökonomische Integration. Russland lehnt diese Werte zwar nicht ab. Sagt aber, dass sie quer durch die Welt Unheil anrichten. Und dass die traditionellen Werte Europas nicht auf dem Individuum, sondern auf der Familie basieren und auf sozialen Wohlfahrtsstaaten statt auf Austerität sowie auf der Souveränität von Nationen. Russland sagt, dass es traditionelle Werte verteidigt und dem amerikanischen Regimewandel widerstehen will. Kalter Krieg impliziert auch eine globale Konfrontation. Aber in den USA heißt es, dass die internationale Gemeinschaft einig gegen Putin sei. Einige der meistbevölkerten Länder der Welt stehen im Wesentlichen hinter Russland: China, Iran, Lateinamerika, Indien. Wir können Russland nicht isolieren. Dieser Kalte Krieg wird immer internationaler. Und es ist ein weiteres Missverständnis, wenn gesagt wird, Russland sei schwächer als die Sowjetunion. Der Konflikt findet an Russlands Grenzen statt. Daher ist Russlands Entschlossenheit sehr viel größer als die des Westens. Und wir dürfen nicht vergessen, dass dieser Konflikt sehr schnell atomar werden könnte. Die russische Militärdoktrin beinhaltet den Einsatz taktischer Atomwaffen, wenn das Land von konventionellen Waffen aus dem Westen überwältigt wird. Das würde ich an der Stelle von Obama nicht testen wollen. Ein diplomatischer Weg aus der Krise ist immer noch möglich. Es gibt immer noch die Möglichkeit, die russischen Vorschläge vom 17. März zu verhandeln. Sie beinhalten Neuwahlen: nicht nur des Präsidenten, sondern auch des Parlaments. Und eine neue Verfassung, die einen föderalen ukrainischen Staat schafft. Mit den Garantien, die Putin genannt hat, von Europa, von Russland und von der UN. Das wäre das beste Ergebnis. Und wenn das unmöglich ist? Dann müssen wir uns fragen, ob zwei Ukrainen besser wären als eine Ukraine im Bürgerkrieg. Eine Teilung der Ukraine, vergleichbar mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber vielleicht ist die Ukraine zu kompliziert dafür. Und es würde auf jeden Fall zu Bürgerkrieg führen. Der wahrscheinlich zu einem Krieg zwischen dem Westen und Russland führen würde." Russland-Forscher über die Ukrainekrise: „Wir schlittern in einen Krieg“ - taz.de


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