Das Studium sollte eine schöne Zeit sein im Leben. Eine Zeit, in der man sich findet, Pläne für die Zukunft schmiedet, Freunde kennenlernt, vielleicht Dummheiten anstellt. Doch die Leichtigkeit endet bereits am Eingang der Nationalen Technischen Universität (KPI), einer der renommiertesten Universitäten des Landes. Auf einer Gedenktafel wird mit schwarz-weißen Fotos der Studierenden, Lehrenden und Alumni gedacht, die seit dem 24. Februar 2022 gefallen sind. Mindestens 33 sind es laut KPI; ein Student gilt als vermisst, irgendwo an der Front, die sich mittlerweile hunderte Kilometer von Kiew entfernt befindet.

Bilder und Namen der im Krieg gestorbenen Männer der Universität
"Ich kann das nicht: jemanden töten"
Der Krieg hatte seine Heimatstadt Mykolajiw im Süden des Landes in den vergangenen Monaten fest im Griff, die massiven russischen Angriffe lassen noch immer nicht nach. Als im April des Vorjahres eine Rakete in der Nähe des Wohnhauses der Familie einschlug, wurde auch das Fenster und der Balkon der Familienwohnung beschädigt. Andrej reparierte es später mit Geld, das er für seine Zukunft gespart hatte. Sein Bruder und Vater sind mittlerweile an der Front, und der Kontakt zu ihnen ist nicht immer möglich. "Ich bin stolz auf sie", sagt er. Doch selbst will er nicht kämpfen. "Ich kann das nicht: jemanden töten." Auch anderen Männern im Land geht es so wie Andrej.
Doch darüber zu sprechen fällt vielen schwer. In den meisten Fällen erhalten Reporter die Antwort: "Wenn ich muss, dann werde ich kämpfen." Andrej muss nicht: Denn Studierende und das Lehrpersonal werden in der Ukraine nicht mobilisiert, sie waren bereits vor der russischen Invasion am 24. Februar 2022 von der Wehrpflicht ausgenommen.
"Für viele Männer ist das Studium deshalb zu einem Lifehack geworden", sagt Journalistin Kateryna Rodak vom Investigativmedium "Nashi Groshi" in Lwiw. Im Zuge einer Recherche trug das Team die landesweiten Daten zur Anzahl und dem Geschlecht der Studierenden zusammen und stellte überraschend fest, dass es in der Ukraine im Vergleich zum Vorjahr im Studienjahr 2022/23 82 Prozent mehr männliche Studierende gibt. Das Durchschnittsalter jener, die sich neu an den Unis einschrieben, liegt bei Mitte dreißig. "Wir haben uns natürlich gefragt, warum das so ist", sagt Rodak. "Die naheliegende Antwort ist, dass viele auf diesem legalen Weg einer Mobilisierung entkommen wollen."
"Wir leben in einer unberechenbaren Zeit"
Die Journalistin suchte nach Interviewpartnern – ein schwieriges Unterfangen. Wenn sich die Männer bereiterklärten, mit ihr zu sprechen, dann nur vollständig anonymisiert, ohne Namen, ohne Bild. "Viele gaben zu, dass sie kein Interesse an einem Studium haben, sondern das Minimum leisten, um nicht von den Unis zu fliegen", erklärt Rodak. Ein Umstand, der in Friedenszeiten wohl kaum der Rede wert wäre. Doch die Ukraine befindet sich im Ausnahmezustand. Rodak: "Die Männer, mit denen wir sprachen, wollen so wie die Frauen leben. Sie haben Angst vor dem Sterben und vor der Front. Und sie haben Angst, für all das verurteilt zu werden."
Für das Interview wählt ein Student, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, den Vornamen Mischa. Er ist Mitte zwanzig, studiert Literatur und möchte irgendwann vielleicht als Übersetzer arbeiten. "Wir leben in einer unberechenbaren Zeit. Die Militäradministration ist zuständig für die Mobilisierung und patrouilliert an vielen Orten. Deswegen sind viele von uns vorsichtig und haben Angst, dass vielleicht später rauskommt, wie wir uns geäußert haben", antwortet er auf die Frage, warum er nicht mit seinem Klarnamen zitiert werden will.
Dass wütende Kommentare und Anrufe auch auf die Recherche folgen würden, davon war auszugehen, sagt Journalistin Kateryna Rodak von "Nashi Groshi". "Viele haben sich bei uns beschwert und gefragt, warum wir über dieses Thema berichten, weil sie der Meinung sind, dass wir nur über das Positive in unserem Land schreiben sollen. Die Moral, die große Bereitschaft zu kämpfen." Ein Argument, das Investigativjournalisten wie Rodak derzeit immer wieder von Kritikern hören, auch wenn sie über Korruption und innenpolitische Skandale berichten, ist, dass die Berichterstattung der russischen Propaganda in die Hände spiele. Dass nun nicht die Zeit für diese Fragen und Recherchen sei, erst nach dem Krieg. "Aber so funktioniert es in einer demokratischen Gesellschaft nicht", sagt sie. "Leider nutzen auch viele Beamte den Krieg, um Informationen zu verbergen, wenn wir Anfragen stellen."
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