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Was steckt wirklich hinter Deutschlands unerschütterlicher Unterstützung Israels? Um die bedingungslose Unterstützung Deutschlands für den israelischen Völkermord zu verstehen, muss man die Ursprünge

Autorenbild: Wolfgang LieberknechtWolfgang Lieberknecht

Bundeskanzler Olaf Scholz mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Foto: Kanzleramt


Peoples Dispach: Das Ausmaß der Unterstützung Israels durch die Bundesregierung während der laufenden Offensive in Gaza hat viele überrascht. Bundeskanzler Olaf Scholz ist in seiner Kritik an Tel Aviv noch zurückhaltender als US-Präsident Joe Biden. Ein zentraler Bezugspunkt für deutsche Politiker ist der Begriff der Staatsräson.


Dieser Begriff wurde erstmals in einem Essay des ehemaligen deutschen Botschafters in Israel, Rudolf Dreßler, Anfang der 2000er Jahre geprägt und von Angela Merkel in einer Rede vor der Knesset im Jahr 2008 wiederholt. Seither ist es zu einem Kernstück deutscher öffentlicher Äußerungen und zu einem ideologischen Instrument geworden, um Israels "Recht auf Selbstverteidigung" zu legitimieren. Wie Scholz am 12. Oktober 2023 sagte: "Im Moment gibt es nur einen Platz für Deutschland. Wir stehen an der Seite Israels. ... Das ist es, was wir meinen, wenn wir sagen: Israels Sicherheit ist Deutschlands Staatsräson."


In diesem Zusammenhang haben immer mehr Staaten des Globalen Südens begonnen, Deutschland dafür zu kritisieren, den Völkermord an den Palästinensern zu beschönigen und sogar zu rechtfertigen.


Im Januar 2024 veröffentlichte Namibias verstorbener Präsident Hage Geingob eine Erklärung, in der er Deutschland für seine unkritische Verteidigung Israels scharf kritisierte und betonte, dass die deutsche Regierung nun aktiv einen Völkermord in Palästina unterstütze, während sie ihren Völkermord an den Herero und Nama in Namibia (1904-1908) immer noch nicht gesühnt habe. Aus ähnlichen Gründen verklagt die nicaraguanische Regierung Deutschland nun vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Beihilfe zum israelischen Völkermord in Gaza.

Um zu verstehen, was hinter dem deutschen Staatsräson und seinen bilateralen Beziehungen zu Israel steckt, ist es notwendig, die Ursprünge des heutigen deutschen Staates und die Tradition, in der er steht, zu verstehen.


Der historische Kontext

Die Bundesrepublik Deutschland (BRD, während des Kalten Krieges allgemein als "Westdeutschland" bezeichnet) wurde im Mai 1949 gegründet. Ähnlich wie Südkorea und Taiwan entstand die BRD nach dem Zweiten Weltkrieg unter den Fittichen der USA, um als Bollwerk gegen den Sozialismus zu fungieren. Als zentraler Akteur in den "Eindämmungs"- und "Rollback"-Strategien des Westens musste der westdeutsche Staat sowohl aggressiv gegenüber dem sozialistischen Osten als auch fügsam gegenüber dem kapitalistischen Westen sein. Der Einfluss der Konzerne, die Hitler finanziert hatten, wurde so absichtlich wiederhergestellt und die Geschäftsleute mit Verbindungen zur NSDAP wurden inoffiziell für ihre Rolle bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit im faschistischen Deutschland begnadigt, obwohl sie während des Dritten Reiches oft direkt von Zwangsarbeit profitierten (z.B. Daimler, Siemens, Rheinmetall usw.). Gleichzeitig war die BRD durch den Marshallplan und die Nordatlantikpakt-Organisation (NATO), die bis heute die Stationierung zehntausender US-Soldaten in Deutschland beinhaltet, eng in die US-geführte Ordnung eingebunden.


Die Führer der jungen BRD sahen sich sofort mit dem Problem konfrontiert, wie sie den Holocaust öffentlich ansprechen sollten. Bilder von KZ-Häftlingen gingen um die Welt und gaben Anlass zu dem internationalen Aufruf: Nie wieder! Doch innenpolitisch konnte sich Westdeutschland eine gründliche Entnazifizierung der Gesellschaft nicht leisten, denn sie würde die kapitalistische Basis der BRD destabilisieren, wie sie es in Ostdeutschland getan hatte, wo Nazi-Kriegsverbrecher und Geschäftsleute rigoros enteignet worden waren. Anstatt sich mit den wirtschaftlichen Wurzeln des Faschismus auseinanderzusetzen und Teile der herrschenden Klasse wegen Beihilfe zu Hitler strafrechtlich zu verfolgen, förderten Konservative und Liberale in der BRD ein Narrativ der deutschen Kollektivschuld, für die alle Bürger büßen müssten. Nicht der Kapitalismus und das liberale System der Weimarer Republik (1918-1933) hätten den Aufstieg des Faschismus ermöglicht, sondern die kulturellen Neigungen des deutschen Volkes.

Auf diesem Wahlplakat aus dem Jahr 1949 nennt die FDP – heute Mitglied der Regierungskoalition in Deutschland – als erste Forderung ein "Ende der Entnazifizierung".

Diese politische Strategie zeigt sich in der Unterstützung Westdeutschlands für den Staat Israel, der ein Jahr vor der BRD gegründet worden war. Der erste westdeutsche Bundeskanzler, Konrad Adenauer, hatte das erste Reparationsabkommen der BRD mit Israel 1952 öffentlich als "auf einer zwingenden moralischen Verpflichtung beruhend" bezeichnet. Angesichts der innenpolitischen Kritik an der Drei-Milliarden-Mark-Vereinbarung – vor allem aus der FDP und aus der eigenen CDU – kündigte Adenauer an, es gebe "höhere Werte als gute Geschäfte". Doch jüngst aufgetauchte Dokumente des Auswärtigen Amtes zeigen, dass Adenauer tatsächlich nur "auf Druck der USA bereit war, [mit Israel] über Reparationen zu verhandeln". Der Kanzler hatte auf das Verhältnis Westdeutschlands zu den USA verwiesen und gesagt, dass "ein ergebnisloser Abbruch der Verhandlungen mit Israel die schwersten politischen und wirtschaftlichen Gefahren für die Bundesrepublik mit sich bringen würde".


Mit anderen Worten: Die USA legten fest, dass die BRD, wenn sie wieder ein mächtiger Akteur in der europäischen Politik werden wollte, den Staat Israel maßgeblich politisch, wirtschaftlich und militärisch unterstützen musste. Während diese Vorbedingung zu Beginn im Inland groß war, haben die Führer der BRD die Beziehungen zu Israel als ihren eigenen Interessen förderlich zu schätzen gelernt, sowohl im Hinblick auf die geopolitische Strategie als auch auf gewinnbringende Unternehmungen für die deutsche Industrie.

So sind beispielsweise die Waffenverkäufe an Israel in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen; Siemens profitiert regelmäßig von israelischen Aufträgen, wie der Ausschreibung von Israel Railways im Jahr 2018 im Wert von rund einer Milliarde Euro; und der deutsche Arzneimittelhersteller Merck (dessen Gründerfamilie überzeugte Nazis waren) unterhält ebenfalls Forschungsstätten und -projekte im Wert von Millionen in ganz Israel. Angesichts der schrecklichen Bilder aus Palästina werden die deutschen Medien den Export von Waffen und Kapital nach Israel rechtfertigen, indem sie unkritisch die offizielle Regierungslinie wiederholen: "Deutschland hat in der Vergangenheit vor allem U-Boote nach Israel geliefert und auch Exporte mit Steuergeldern subventioniert. Hintergrund ist, dass Deutschland angesichts der Ermordung von sechs Millionen Juden durch Nazi-Deutschland die Sicherheit Israels zum Staatsräson erklärt hat."

Konzepte wie Staatsräson und deutsche Kollektivschuld wurden so als ideologische Instrumente entwickelt, um sowohl die Verantwortung der deutschen Kapitalistenklasse für die nationalsozialistischen Kriegsverbrechen in der Vergangenheit abzulenken als auch die brutale Verfolgung ihrer wirtschaftlichen und politischen Interessen in Westasien in der Gegenwart zu verschleiern. Dies hilft der Bundesregierung, der öffentlichen Debatte über diese Politik äußerst enge Grenzen zu setzen. Seit dem 7. Oktober wird Staatsräson auch eingesetzt, um die migrantenfeindlichen Maßnahmen drastisch zu verschärfen. Die dreisteste davon ist vielleicht ein neues Dekret im Bundesland Sachsen-Anhalt, wo Bewerber um die deutsche Staatsbürgerschaft nun dem "Existenzrecht" Israels die Treue schwören müssen.


Der Globale Süden stellt die deutsche Heuchelei in Frage

Die bedingungslose Unterstützung Israels durch die BRD ist zwar nichts Neues, aber sie ist ins Rampenlicht gerückt, da sich immer mehr Staaten aus dem Globalen Süden gegen den israelischen Völkermord aussprechen.

In der deutschen Presse bemühten sich Kommentatoren, Südafrikas Klage gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) als "eklatant einseitig" zu delegitimieren. Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) wischte den Fall Südafrikas schlichtweg beiseite: "Israel des Völkermords zu bezichtigen, ist aus meiner Sicht eine völlige Umkehrung von Opfern und Tätern und schlichtweg falsch." Auch hier wird die Rolle der deutschen Kapitalistenklasse beim Anheizen des Nationalsozialismus mit einer "besonderen historischen Verantwortung" vermengt, die alle Deutschen gegenüber Israel teilen: "Aufgrund der dunkelsten Kapitel unserer Geschichte muss Deutschland mit der schrecklichen Verantwortung für den Völkermord leben, der in seinem Namen begangen wurde. [...] Nazi-Deutschland hat eines der schlimmsten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit begangen, den Holocaust an den Juden in Europa. Vor diesem Hintergrund denken wir, dass die Selbstverteidigung gegen ein terroristisches Regime, das sich hinter der Zivilbevölkerung als menschliche Schutzschilde versteckt, um das Leid zu maximieren und die Verteidigung gegen seine Handlungen unmöglich zu machen, keine völkermörderische Absicht ist."


Solche Argumente beeinflussen nach wie vor einen großen Teil der deutschen Bevölkerung, aber die Führer des Globalen Südens sind weniger anfällig und haben begonnen, die Heuchelei der deutschen Regierung in Frage zu stellen. Der erste schwerwiegende Vorwurf kam Anfang 2024, als Namibias damaliger Präsident Hage Geingob eine Erklärung veröffentlichte, in der er die Welt daran erinnerte, dass Deutschland "1904-1908 den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts begangen hat, bei dem Zehntausende unschuldiger Namibier unter den unmenschlichsten und brutalsten Bedingungen starben". Implizit stellte Geingob das deutsche Staatsräson auf den Kopf, indem er argumentierte, dass die BRD durch ihre Intervention beim IGH "zur Verteidigung und Unterstützung der völkermörderischen Akte Israels" in Wirklichkeit ihre "Unfähigkeit offenbart hat, Lehren aus ihrer schrecklichen Geschichte zu ziehen".


Anfang März 2024 kam die nächste öffentliche Herausforderung aus dem Globalen Süden: Nicaragua reichte eine neue Klage vor dem IGH ein, diesmal direkt gegen Deutschland, und warf Berlin vor, seine Verpflichtungen aus der "Völkermordkonvention" von 1949 verletzt zu haben. Durch seine politische, finanzielle und militärische Unterstützung Israels und durch die Streichung der Mittel für das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) "erleichtert Deutschland die Begehung des Völkermords und ist in jedem Fall seiner Verpflichtung nicht nachgekommen, alles zu tun, um die Begehung des Völkermords zu verhindern". Die deutschen Liberalen waren schnell dabei, diesen Fall als "billiges Ablenkungsmanöver [...] von einer Diktatur, die ihren eigenen Bürgern jegliche rechtsstaatliche Garantie verweigert".


Doch nur wenige Wochen später wurde die Bundesregierung erneut öffentlich verurteilt, und diesmal nicht von den "autokratischen, linken Regierungen" in Lateinamerika, sondern von einem bis dahin engen Verbündeten, Malaysia. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz in Berlin reagierte der malaysische Ministerpräsident Anwar Ibrahim auf Scholz' anhaltendes Beharren auf Israels Recht auf Selbstverteidigung mit der provokanten Frage: "Wo haben wir unsere Menschlichkeit weggeworfen? Warum diese Heuchelei? Warum diese selektive und ambivalente Haltung gegenüber einer Rasse?"


Diese Entwicklungen sind die jüngsten Anzeichen dafür, dass die ideologische und wirtschaftliche Hegemonie des Westens ins Wanken gerät. Konzepte wie die "regelbasierte internationale Ordnung" und das deutsche Staatsräson haben nicht mehr genug Gewicht, um abweichende Meinungen international zum Schweigen zu bringen. Ausdruck der "neuen Stimmung" im Globalen Süden ist der Kampf um die Besitzverhältnisse internationaler Gremien wie des IGH.


Der Westen untergräbt seine eigene ideologische Hegemonie

Die Bundesrepublik Deutschland steht in der Tradition des deutschen Kapitalismus, in dem sich alle Leichen verstecken. Ihre bedingungslose Unterstützung für Israel ist einerseits das Ergebnis eigennütziger wirtschaftlicher und geopolitischer Interessen in der Region und andererseits des Bemühens, die Verantwortung für den Holocaust von sich zu weisen, und des Unwillens, die westdeutsche Gesellschaft zu entnazifizieren. Das andere Deutschland – die Deutsche Demokratische Republik (DDR) – stand in einer ganz anderen Tradition. Sie wurde von den Kommunisten und Sozialdemokraten regiert, die im Dritten Reich im Exil oder in Hitlers Konzentrationslagern gelebt hatten. Dort wurde die Forderung "Nie wieder!" nicht als Kollektivschuld verstanden, die von allen Deutschen getragen werden sollte, sondern als kämpferische Pflicht zur Bekämpfung von Faschismus und Rassismus, unabhängig davon, in welcher konkreten Form. Als solche war die DDR ein entschiedener Unterstützer des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser und des Widerstands gegen die Besatzung.


In Deutschland wird der Raum für eine öffentliche Debatte zu diesem Thema heute immer enger. Die Unterstützung für Palästina wird zensiert oder ganz verboten. Dabei kann die Bundesregierung die Staaten des Globalen Südens nicht so einfach zum Schweigen bringen. Während sie weiterhin von Land zu Land reist, unaufhörlich den israelischen Völkermord in Gaza rechtfertigt und gleichzeitig die Idee einer "feministischen Außenpolitik" propagiert, untergräbt die deutsche Regierung schnell die ideologische Hegemonie des Westens und entlarvt der Welt ihre eigene Heuchelei.


Matthew Read ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zetkin Forums mit Sitz in Berlin.

 
 
 

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