In den vergangenen Monaten ist, im Schatten dramatischerer Konflikte in der unmittelbaren Region, einer der ältesten Konflikte überhaupt, jener um Armenien, wieder heiß geworden. Konkret geht es wieder um die überwiegend von Armeniern bewohnte Region Berg Karabach auf aserbeidschanischem Territorium. Als Ergänzung zur relativ geringen Beachtung dieses Konfliktes in den meisten Medien haben wir uns erlaubt, in unserer aktuellen Ausgabe einige Beiträge zu veröffentlichen, welche wichtige Informationen zum aktuellen Konflikt und seinen Hintergründen beinhalten. Zur Einleitung hat unserer Redaktionsmitglied, Herbert Maurer, einer der besten Experten auf diesem Gebiet, noch einen kurzen Überblick verfasst. Ich schlage daher vor, dass man diesen Text zunächst liest, und sich erst dann den weiteren Beiträgen zuwendet.
Mit besten Grüßen! Fritz Edlinger Herausgeber und Chefredakteur
Berg – Karabach – Artsach Eine schwelende Wunde im Südkaukasus
Von Herbert Maurer
Der aktuelle Konflikt um Berg Karabach reicht in die Frühzeit von Glasnost und Perestroika in der zweiten Hälfte der 80er Jahre zurück. Um die Komplexität dieser verfahrenen Situation besser zu verstehen, lohnt es sich, die Anfänge zu beleuchten. Die Genese des Karabach-Konfliktes in seiner ersten heißen Phase oder bis dorthin war nicht nationalistischer Natur. Die ehemaligen Sowjetrepubliken waren noch gar nicht in die Mechanismen der nationalistischen Argumentationen in ideologischer Aktion und Reaktion eingeübt. Am Anfang war im Sinne von Glasnost und Perestroika eine Euphorie, ein wiedergewonnenes Bewusstsein der Selbstbestimmung, das noch nicht geopolitisch konnotiert war. Natürlich muss gesagt werden, dass die Aseris ,mit ihrem Land Aserbeidschan, das bald von einem Familienclan übernommen werden sollte, der ja bis heute einzig und allein die Geschicke des Landes bestimmt, in dieser ersten Phase der Perestroika mit ihrer staatlichen Eigendefinition nicht viel anfangen konnten. Es fehlte eine historische Erzählung, es fehlte das identitätsstiftende weit in die Vergangenheit zurückreichende historische Bewusstsein, all das war schlechthin, ähnlich wie in Georgien, nicht wirklich vorhanden. Einzig und allein die Armenier hatten klare geopolitische Koordinaten in der kulturellen und historischen Tradition, die seit mehr als 3.000 Jahren in der bewussten Region von Karabach festgeschrieben ist. Bis ins kleinste Detail war jede Phase des Armeniertums in der Region aufgezeichnet, ganz abgesehen von den Kirchen und anderen Baudenkmälern, die ihre eindeutige Sprache sprechen. So war es zu Beginn eine euphorische Stimmung, vor allem in Yerevan, und zwar deshalb, weil die Prozesse der Selbstbestimmung einer Region deutlicher definiert und analysiert werden konnten. Deshalb war Armenien in der frühesten Epoche der beginnenden postsowjetischen Zeit so etwas wie ein Versuchslabor einer neuen postsowjetischen Geopolitik. Das Experiment ist – wie man bis heute sieht - fatal gescheitert. Diese kurze Zeit des Aufbruchs und einer fast romantischen Erweckungsbewegung im Sinne eines Kaukasus, der nicht nationalistisch konnotiert sein müsste, wurde jäh und brutal unterbrochen durch das Massaker von Aseris an Armeniern in der aserbeidschanischen Stadt Sumgait, die aber zu einem Teil von Armeniern bewohnt war. In weiterer Folge waren es dann die Vertreibung der Armenier aus Baku und der erste Karabach-Krieg in den Anfängen der 90er Jahre, die jene geopolitisch fatale Situation schufen, die als Patt-Situation genau den Plan erfüllen, den Stalin als Kaukasus-Experte für die Region erdacht hatte. Als Zeitzeuge kann ich zu den Anfängen des Nationalismus im Kaukasus in der Glasnost und Perestroika kurz zusammengefasst Folgendes berichten: Vorausschicken möchte ich noch, dass ich durch meine Tätigkeit als Dolmetscher und Organisator von Hilfsgütern nach dem Erdbeben 1988 mit sehr vielen Studenten in Verbindung war, die selbstorganisiert eine Hilfsstruktur als Vernetzung der verschiedenen Fakultäten aufbauen konnten. Staatliche Stellen waren hier oftmals überfordert und verließen sich vergeblich auf die nicht vorhandene Kompetenz der ehemals sowjetischen Regierungs- und Verwaltungseliten. Aus diesen selbstorganisierten, auch ökologisch bewegten und sehr logistisch ausgerichteten Studentengruppen gingen dann auch einige Mitglieder des späteren Karabach-Komitees hervor, das bei der Transition Armeniens von der Sowjetrepublik zur unabhängigen „Republik Armenien“ eine entscheidende Rolle spielen sollte. Viele in der ersten demokratisch gewählten Regierung, schon mitten in der Zeit des ersten Karabach—Krieges, kamen aus diesem Milieu einer sozial und intellektuell engagierten Bürger-Bewegung. (Der HH-Sh – der „Gesamtnationalen armenischen Bewegung“). Mit dem programmatischen Selbstbewusstsein von mündigen Sowjetbürgern im Namen von Glasnost und Perestroika war die erste Zeit (Ende 1987, Anfang 1988) von keinerlei Nationalismus geprägt, im Vordergrund stand die neu erkannte und ermöglichte Idee der bürgerlichen Unabhängigkeit, natürlich auch in kulturellen und kulturpolitischen Bereichen und Belangen. Auch die Armenier in ihrer "autonomen Region“ Berg Karabach (auf aserbeidschanischem Territorium) hatten die Zeichen der Zeit erkannt und wollten als "autonome Minderheit" wieder sie selbst sein oder zu einem neuen Selbstverständnis finden. Nochmals sei betont, dass in diesen ersten Monaten von Nationalismus noch keine Rede war, oder von der Konstruktion national-staatlicher Konflikte, da war die postsowjetische Psychologie offenbar noch wirksam genug. Die Armenier verfügten auch damals im Unterschied zu Aserbeidschan und Georgien über eine jahrhundert- und jahrtausendalte Tradition des der nationalen Erzählung, die aber auch wegen der Diaspora in der Folge des Völkermords von 1915 aber auch schon davor stets international gedacht war, also in dieser Zeit der Transition nicht ins Chauvinistische abzugleiten drohte. Anders war das in Aserbeidschan, das seine nationale Identität historisch ja nicht wirklich begründen konnte, weil die aserische Turk-Bevölkerung auf diesem Territorium ihre geopolitische Definition nur den Ideen Stalins verdankte. Schließlich sollte sich der Alijew-Clan als Garant für die Geschichtsmächtigkeit des Landes etablieren, ohne eine wirklich historische Legitimation zu besitzen. Etwas anders aber doch ähnlich verlief es in Georgien, das ja mit Armenien, abgesehen von einem großen Bevölkerungsanteil hauptsächlich in der Oberschicht der Hauptstadt Tiflis/Tbilisi, doch eines gemeinsam hatte, nämlich den christlichen Glauben und die eine oder andere kulturpolitische Überschneidung im Laufe der Jahrhunderte. Dennoch war Georgien als Land oder Staat nie homogen, der Nationalismus mit starken chauvinistischen Tendenzen wurde der etwas disparaten Kaukasusrepublik zwischen den Kulturen und den weltpolitischen Herausforderungen von einem Dichter-Präsidenten (Gamsachurdia) im wahrsten Sinne des Wortes angedichtet. Mit diesen sehr unterschiedlichen Vorgeschichten starteten die drei Länder des Südkaukasus ihren Parcours in eine neue, „freien“ Weltpolitik.
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