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AutorenbildWolfgang Lieberknecht

Schweizer Sicherheitsexperte Baud: „Russen wollen nicht weiter westlich in die Ukraine vorstoßen“

Warum Russland das Getreideabkommen suspendiert hat, über die ukrainische Großoffensive, die Schwierigkeiten des ukrainischen Militärs und den Betrug an den Ukrainern. Teil 1


Jacques Baud enthüllt die Ziele von Putin in der Ukraine

overton-magazin: Die letzte Woche ist Russland aus dem Getreideabkommen mit den Vereinten Nationen und der Türkei ausgestiegen. Ukraine hatte ja sich geweigert, mit Russland ein Abkommen zu schließen, weswegen sie ein gesondertes Abkommen mit den Vereinten Nationen und der Türkei hat, das sie unbedingt aufrechterhalten will. Russland hat bestimmte Forderungen, das Getreideabkommen weiterlaufen zu lassen. Aus dem Westen heißt es jetzt, dass die Armen auf der Welt in Gefahr sein, weil nicht genügend Getreide auf den Markt kommt und die Preise steigen. Russland wird auch unterstellt, dass es im Grunde die Ukraine aus dem Getreidemarkt durch die Bombardierung von Häfen und möglicherweise der Getreide-Infrastruktur ausschalten will. Wie würden Sie denn die Lage einschätzen? Um was geht es Russland?

Jacques Baud: Man muss ein bisschen in der Geschichte zurückgehen zum letzten Jahr. Man kann heute sagen, dass die westlichen Länder ihr Wort nicht gehalten haben. Außerdem muss man sagen, Russland ist nicht aus dem Abkommen ausgestiegen, sondern hat die Fortsetzung suspendiert. Letztes Jahr im Juni wurde behauptet, dass die Russen versuchen würden, die Getreideexporte der Ukraine zu verhindern, und dass die Russen ukrainischen Häfen vermint hätten. Das ist völlig falsch. Das ist sogar eine Lüge. Die Russen haben nie versucht, den Handelsverkehr aus Odessa und den anderen Häfen zu verhindern. Im März letzten Jahres hatten die Ukrainer haben Angst gehabt, dass die Russen vom Meer her Odessa überfallen könnten. Deshalb hatten die Ukrainer die ganze Küste vermint.

Das wurde sogar bestätigt, weil im Juli die Idee aufkam, dass die internationale Gemeinschaft der Ukraine helfen könnte, diese Gewässer entminen. Dawyd Arachamija, ein Berater von Selenskij und der Fraktionsvorsitzende seiner Partei „Diener des Volkes“, lehnt dies ab: Wir wollen das nicht. Wir werden verhindern, dass die internationale Gemeinschaft die Gewässer entminen. Das ist unser Schutz. Und auch das Militär in der Ukraine würde sich dagegen wehren. Die Vorstellung, dass die Russen eine Blockade machen wollten, ist eine Lüge. Mit dem Getreideabkommen letztes Jahr hat Russland versichert, den Handelsverkehr mit Getreide und anderen Lebensmittel nicht zu behindern. Es wurden für die Schiffe freie Passagen mit Koordinaten definiert. Die Russen haben das sorgfältig angewandt und haben mit ihren Militärschiffen dem Handelsverkehr geholfen.

Wer hat denn die Minen entfernt?

Jacques Baud: Sie wurden zusammen mit der Ukraine durch internationale Hilfe entfernt. Das Problem mit den Minen wurde übrigens bereits im März 2022 von der Türkei erwähnt. Das sind alte Ankertaumine des Kalten Krieges. Sie sind wie ein Ball mit einer Kette und einem Gewicht und sehr instabil, wenn die Tiefeneinstellung nicht richtig ist. Durch Strömungen können diese Minen wegtreiben. Genau das ist passiert. Die türkische Marine hat einige Minen im Bosporus entdeckt, die entschärft werden mussten. Diese ukrainischen Minen sind ein Problem für die internationale Schifffahrt gewesen.

Das Abkommen war eigentlich zweiteilig. Auf der einen Seite sollten die Russen den Handelsverkehr nicht behindern, auf der anderen Seite gab es die Gegenleistung aus dem Westen, dass die Sanktionen der russischen Schifftransporte für Getreide aufgehoben werden und man den Export zulässt. Heute sagen die Europäer, es habe nie Sanktionen auf russische Getreide gegeben. Aber Fakt ist, dass es nicht exportiert werden kann, weil andere Sanktionen über Zahlungsmittel und Versicherungsverträge dies verhindern. Europäischen Versicherungen ist es verboten, russische Schiffe und russische Getreidetransporte zu versichern.

Ich habe kürzlich gelesen, dass die ukrainischen Getreideexporte über das Schwarze Meer schon seit April weniger geworden sind, während die russischen Exporte angestiegen seien. In Russland gab es dieses Jahr eine gute Ernte. Russland hat auch viel Getreide an arme Länder geliefert hat, während ukrainisches Getreide kaum direkt zu armen Länder gelangt ist. Ist also die Behauptung richtig, dass Russland das Getreide nicht wirklich exportieren konnte?

Jacques Baud: Das ist so. Die Russen konnten fast nichts über das Schwarze Meer exportieren. Teilweise ist es auch in europäische Hafen wegen der Versicherungsprobleme hängengeblieben. Aber Russland exportiert ja nicht nur über das Schwarze Meer. Es gibt viele andere Wege. Bevor die Sanktionen von 2014 verhängt wurden, war Russland übrigens ein Importeur von Getreide. Mit den Sanktionen haben die Russen verstanden, dass das eine Verwundbarkeit ist. Deswegen wurde die Landwirtschaft wesentlich verbessert und entwickelt. Und jetzt ist Russland das erste Exporteur von Getreide. Das ist eine interessante Entwicklung. Russland exportiert ungefähr 13 Prozent des weltweiten Getreidehandels, die Ukraine ungefähr 8,5 Prozent.

Ein großer Teil des ukrainischen Getreides wird nicht über das Schwarze Meer exportiert, sondern durch die Bahn nach Europa. Aber es gibt ein Problem mit der Bahn. Wie Sie wissen, haben die Ukrainer noch das ehemalige Bahnsystem der Sowjetunion, das heißt mit einer schmaleren Spur als die Bahn im Westen. Das heißt, dass alle Züge an der Grenze umgeladen werden müssen. Während des Kalten Kriegs haben die Nachrichtendienste diese Grenzübergänge überwacht, weil man hier genau sehen konnte, wie viele Truppen oder welches Material die Sowjetunion beispielsweise nach Ostdeutschland schickt, auch weil das im Falle einer Kriegsvorbereitung wichtig war zu wissen.

Wenn die Ukrainer Getreide mit der Bahn exportieren, müssen sie diese Umladestationen an den Grenzen benutzen. Da es nicht viele gibt, haben die Ukrainer vor dem Krieg häufig die Umladestationen in Belarus benutzt, um es dann nach Polen oder Deutschland zu bringen. Aber seit Anfang des Krieges ist natürlich diese Möglichkeit in Belarus verschlossen. Das heißt, es stehen nur die Umladestationen an der ukrainischen Grenze zur Verfügung. Und das genügt nicht. Deshalb muss viel per Lastwagen transportiert werden. Und das kostet natürlich sehr viel.

Und dann kommt ja noch dazu, dass die Polen und andere Nachbarstaaten die Ausfuhr verboten haben.

Jacques Baud: Genau. Anfang dieses Jahres ist das Problem aufgetaucht, dass das ukrainischen Getreide viel billiger als das polnische oder rumänische ist. Jetzt haben fünf Länder der Europäischen Union, die Tschechei, die Slowakei, Ungarn, Polen und Rumänien, verboten, ukrainisches Getreide einzuführen. Die Durchfahrt ist erlaubt. Das zeigt, dass die Solidarität der Europäischen Union mit der Ukraine gewisse Grenzen hat, und diese Grenzen sind nach wie vor das Geld. Das ist natürlich für die Ukraine ein Problem.

Die Ukrainer haben sich beim Getreideabkommen nicht an die Spielregeln gehalten

Jetzt geht ja auch viel über die Donau, glaube ich. Russland sagt, es bombardiert militärische Ziele, getroffen werden aber angeblich Häfen und die Infrastruktur, die für den Getreideexport in Odessa und den anderen Hafenstädten erforderlich ist. Auch Häfen an der Donau wurden bombardiert. Das ist ganz in der Nähe des NATO-Gebiets. Zielt Russland wirklich nur auf militärische Ziele? Oder wird doch versucht, die Getreideinfrastruktur auszuschalten, also die Ukraine ökonomisch zu treffen?

Jacques Baud: Es gab zwei wichtige Ereignisse. Einmal der Angriff mit Schiffsdrohnen auf den Hafen von Sewastopol im Oktober 2022. Die eingesetzten Drohnen konnten aber nicht direkt von der Ukraine kommen, weil die Strecke für sie zu weit wäre. Sie wurden von einem Schiff gestartet, das die geschützten Korridore benutzt hat. Der Angriff erfolgte unter der Überwachung einer US-amerikanischen Drohne vom Typ RQ-4B Global Hawk (Codename FORTE10), die in großer Höhe vor der Krim kreuzte. Die Ukrainer haben sich hier nicht an die Spielregeln gehalten.

Ist das denn nachgewiesen?

Man kann das, glaube ich, eindeutig sagen. Das Gleiche gilt für den letzten Angriff im Juli auf die Kertsch-Brücke, der auch mit Drohnenbooten durchgeführt wurde. Die Reichweite dieser Drohnen ermöglicht es nicht, eine so eine große Strecke zu überwinden. Sie konnten nur von einem gewöhnlichen Handelsschiff kommen, das wie ein Mutterschiff funktioniert. Und das ist, was die Russen erzürnt hat. Deshalb haben sie gesagt, dass nun jedes Schiff, das von der Ukraine kommt oder zur Ukraine fährt als militärische Ziel betrachtet wird, weil es Waffen transportieren könnte.

Das ist das Risiko, wenn man nicht mit den Regeln spielt, weil man das Vertrauen zerstört. Und ein solches Abkommen funktioniert nur mit Vertrauen. Wenn das nicht vollständig eingehalten wird, entsteht eine Lücke, und die Russen haben diese Lücke entdeckt. Dasselbe gilt für die Einrichtung von Militärdepots. Man weiß, dass Anti-Schiff-Raketen, die letztes Jahr aus Norwegen importiert wurden, auch in Odessa in zivilen Lagerplätzen deponiert wurden. Das heißt, man hat hier auch zivile Einrichtungen für militärische Zwecke verwendet. Damals wurden diese Anlagen von den Russen mit Raketen oder Marschflugkörpern angegriffen. Jetzt geschieht dasselbe. Die Russen zerstören alles, was ein Lager für Waffen oder Sprengstoff sein könnte.

Es sollen in Odessa 60.000 Tonnen Getreide vernichtet worden sein. War das ein gezielter Angriff? Waren es Raketen, die zu ungenau sind? Waren es abgestürzte Teil von abgeschossenen Raketen?

Jacques Baud: Wahrscheinlich wissen auch die Russen nicht genau, wo die Material gelagert ist, so dass es sozusagen Kollateralschaden gibt. Aber ich habe den Eindruck, dass die Russen jetzt die Absicht, haben, den Verkehr durch das Schwarzmeer zu stoppen. Vielleicht liege ich auch falsch, aber ich habe das Gefühl, das ist absichtlich. Die Russen haben schlechte Erfahrungen mit diesem Abkommen gemacht. Sie wurden beispielsweise eben fälschlicherweise für die Verminung der Häfen verantwortlich gemacht. Und jetzt scheinen die Russen zu sagen: Wenn sie das so spielen wollen, dann machen wir das jetzt nach unseren Regeln.

Man darf nicht vergessen, dass das das Gleiche für Nord Stream gilt. Die Russen liefern in die Europäische Union durch die ukrainische Pipeline wöchentlich 260 Millionen Kubikmeter. Das heißt, Russland hatte auch nicht die Absicht, die kommerziellen Lieferungen für Getreide, Erdöl, Erdgas und so weiter zu stoppen. Sie haben langsam damit begonnen, weil die westlichen Länder und die Ukraine nicht nach den Regeln spielen. Ich weiß nicht, was die Russen im Sinn haben. Ich habe keine speziellen Informationen aus dem Kreml, aber ich kann mir vorstellen, dass sie sagen, wenn die nicht nach Regeln spielen wollen, dann ändern wir die Regeln, sodass alles auch für uns funktioniert.

Man muss auch verstehen, dass die Ukraine seit Anfang März letztes Jahres versucht, die NATO in den Konflikt zu ziehen. Dazu dienen diese Anklagen über Mariupol, Menschenrechte, Kriegsverbrechen und so weiter. Ich kann nichts über die Wahrheit oder die Wirklichkeit der Anklagen sagen. Meines Erachtens muss vieles durch unabhängige internationale Kommissionen überprüft und beurteilt werden und nicht von Jacques Baud. Aber man sieht hier eine Logik auf der ukrainischen Seite: Man versucht, den Westen und Nato insbesondere in den Konflikt zu ziehen.

Das würde auch dem Wunsch entsprechen, dass die NATO Schiffskonvois sichern soll.

Jacques Baud: Genau. Ebenso ist es. Die Ukraine wollte auch für das AKW Saporischschja eine europäische oder internationale Sicherheitstruppe. Dass die Ukraine versucht, den Westen in den Konflikt zu ziehen, ist keine Fantasie von mir. Letztes Jahr wurde von der Washington Post berichtet, dass die ukrainische Regierung das mit diesen Anklagen versucht. Das Modell wäre Libyen und das sogenannte Massaker von Bengasi, das übrigens nie stattgefunden hat, aber der Grund für den Einsatz der Franzosen, Briten und Amerikaner in 2011 war.

„Die Verluste der Ukrainer sind massiv“

Wir wollen noch auf die Lage in der Ukraine zu sprechen kommen. Die lange geplante Offensive kommt offenbar nicht so recht voran. Es gibt zwar immer wieder Meldungen, dass einzelne Dörfer erobert worden oder ukrainische Truppen ein paar Kilometer vorwärts gedrungen seien. Lässt sich denn jetzt eine Entwicklung des Kriegs beobachten? Und auf was könnte Russland setzen? Bislang sieht man noch keine Anzeichen einer größeren Offensive aus Russland.

Jacques Baud: Mit Ausnahme von Kupjansk.

Ja, im Norden, während die Ukraine eher im Süden anzugreifen versucht. Beide Seiten sagen, sie würden die jeweils andere Seite erschöpfen wollen.

Jacques Baud: Ich vermute, dass diese Offensive im Norden, also im Bereich Kupjansk und Lyman, auf der Seite der Russen nur ein Mittel ist, die ukrainischen Ressourcen vom Süden weg zu lotsen.

Geht es da nicht auch um die Sicherung des Donbass? Lugansk und Donezk werden ja immer wieder beschossen, weswegen man versucht, die Sicherheitszone zu vergrößern. Das war immerhin explizit ein Ziel der Operation.

Jacques Baud: Natürlich. Das Gesamtziel der Operation ist, eine Sicherheitszone für den Donbass zu errichten. Aber ich glaube nicht, dass die Russen weiter westlich in die Ukraine vorstoßen wollen, vielmehr wollen sie, was sie haben, befestigen und verstärken. Und vermutlich werden sie auf dieser Basis, wenn es zu Gesprächen kommt, verhandeln. Vielleicht kann etwas im Raum Odessa passieren. Allerdings haben die Russen immer vermieden, mit der Ausnahme von Mariupol, Großstädte einzunehmen. Eine Stadt zu erobern, geht mit hohen Kosten an Menschenleben und großen Zerstörungen einher. Ich bin nicht überzeugt, dass die Russen bereit sind, Odessa zu opfern. Wenn man um Odessa kämpft, wird die Stadt zerstört. Aber wie gesagt, ich kenne die Absichten des Kreml nicht.

Aber die Russen werden meines Erachtens vermeiden, weiter westlich vorzurücken. Sie werden ihre jetzigen Stellungen befestigen und verstärken und dort bleiben. Was die ukrainische Gegenoffensive anbelangt, so spricht man immer von den eroberten Dörfern, aber man sagt nie, wenn die Ukrainer zurückgehen und ein Dorf verlassen müssen. Die ukrainischen Truppen gehen vorwärts, 100, 200, 500 Meter, und einen Tag später müssen sie wegen des einsetzenden Artilleriefeuers wieder zurück. Man sieht übrigens immer mehr, welches Material zerstört wird. Die genaue Zahl kann ich nicht sagen, weil es so widersprüchliche Aussagen gibt, aber es lässt sich sagen, dass ein großer Teil der deutschen Leopard-Panzer zerstört wurde. Das gleiche gilt für die Bradlays und andere Radfahrzeuge. Und die Verluste der Ukrainer sind massiv. Ein ukrainischer Militär sagte, ich glaube das stand in der Washington Post, dass die Ukraine für jede 100 Meter vier bis fünf Menschen verliert. Das heißt, wenn sie 200 Meter vorrücken, dann sind das zehn Mann, und wenn sie zurückgehen, sind es nochmals zehn und so weiter. Das ist massiv.

Warum kriegt man eigentlich hier nichts davon mit, wie hoch die Verluste sind? In Russland und auch in der Ukraine gibt es ein massives Schweige- oder Vertuschungsregime.

Jacques Baud: Aus verständlichen Gründen will die Ukraine die Verluste nicht nennen, die Russen wollen das genauso wenig. Das ist auch logisch. Wir sind im Krieg, und dieser Krieg ist ein Krieg der Information und der Wahrnehmungen. Auf der russischen Seite hat das Oppositionsmedium Mediazona zusammen mit der BBC versucht, die Anzahl der Toten aufgrund der Todesanzeigen und anderer Veröffentlichungen sowie der Gräber zu zählen. Für mich erlaubt diese Methodologie am besten eine Evaluierung, deswegen vertraue ich dieser Zählung. Aber sie kommen auf Zahlen, die ungefähr zehnmal niedriger sind als diejenigen, die unsere Medien nennen.

Interessant ist, dass es solche Zahlen auf der Seite der Ukraine nicht gibt. Man sieht aber andere Anzeichen. Auf Satellitenaufnahmen kann man sehen, dass die Gräber auf den Friedhöfen überall in der Ukraine massiv zugenommen haben. Ein anderes Anzeichen ist die Rekrutierung, die massiv geworden ist. Jeder Mensch, der in der Lage ist, eine Waffe zu tragen, wird an die Front geschickt, auch mit sehr, sehr geringer Ausbildung. Der New Yorker hat einen Artikel über einen Journalisten veröffentlicht, der an der Front auf ukrainischer Seite gewesen ist und einige Militärs befragt hat. Der daraus entstandene Eindruck ziemlich tragisch, weil man erfährt, dass Soldaten nach nicht einmal einer Woche Ausbildung an die Front geschickt wurden. Das ist fast mörderisch.

Der ehemalige ukrainische Präsidentenberater Aristowitsch hat kürzlich gesagt, das Problem der ukrainischen Armee sei gar nicht, dass sie jetzt nicht die Hightech-Waffen aus dem Westen erhält, sondern ihr würde ganz elementare Ausrüstung fehlen, also an Waffen, Uniformen, Munition …Ist denn erkennbar, dass wirklich so ein Mangel herrscht?

Jacques Baud: Ja, das ist tatsächlich sichtbar. Man sieht das. Es gibt sehr viele Soldaten, die aufgeben oder zu den Russen gehen. Die Russen merken auch, dass die Soldaten nicht den Professionalismus besitzen, auch nicht in den Panzern. Ich habe selber ein Leopard-Panzer-Bataillon geführt. Und wenn man die Bilder sieht, die von den Ukrainer selber aufgenommen wurden, dann machen die Manöver, die erstaunlich sind. Wenn ich da Kommandant wäre, würde mich das erschrecken, weil sie sogar aufeinander schießen. Es fehlt der Professionalismus, es fehlt die Kriegserfahrung, es fehlt eine sorgfältige, gründliche Ausbildung. Den Soldaten werden überdies ausländische Waffen gegeben. Das heißt, alle Beschriftungen sind auf Deutsch, auf Englisch oder auf Tschechisch. In den Panzern ist alles beschriftet. Aber wenn man das nicht einmal lesen kann, wird es sehr schwierig. Letztes Jahr hatte die New York Times berichtet, dass die die ukrainischen Soldaten die Handbücher für Waffen mit Google aus dem Internet übersetzen sollten.

Interessant ist auch, dass im vergangenen Jahr die Zahl der männlichen Studenten um über 80 Prozent zugenommen hat. Einige Universitäten hatten plötzlich 12 Mal mehr Studenten, weil diese so vermeiden wollen, in den Kampf zu ziehen. Man darf auch nicht vergessen, dass in der von Kiew kontrollierten Ukraine viele Menschen Zweifel über den Krieg hegen. Ich war vor zwei Wochen in Deutschland und habe mit einem russischen Flüchtling gesprochen, der mit einer ukrainischen Frau verheiratet ist. Sie hat natürlich viele ukrainische Freunde hier. Diese Ukrainer sind nicht für die ukrainische Regierung, sie sind hier, weil sie eben nicht für die ukrainische Regierung kämpfen wollen.

Die Bevölkerung wurde betrogen

Es gibt auch den schwelenden Machtkampf innerhalb der Ukraine, also zwischen Selenskij und vor allem Poroschenko. Dessen Lager macht Selenskij für den Krieg verantwortlich.

Jacques Baud: Es gibt natürlich den politischen Kampf, was Sie richtigerweise erwähnen. Aber ich glaube, dass der größte Teil der ukrainischen Bevölkerung nicht in diese Situation kommen wollte. Man sollte nicht vergessen, dass Selenskij wegen seines Friedensprogramms mit Russland gewählt wurde. Die Bevölkerung wollte die Umsetzung der Minsker Abkommen. Sie hat man betrogen.

Das erklärt auch die Schwierigkeiten in der ukrainischen Armee seit 2014. Ich war damals bei der NATO. Ich habe die Situation von Brüssel aus beobachtet. Es gab erstaunliche Berichte über die ukrainischen Streitkräfte, nämlich dass die Soldaten nicht auf ihre russischsprachigen Brüder schießen wollten. Deshalb hat die NATO übrigens ein Programm zur Erhöhung der Kampfkraft der ukrainischen Armee eingeleitet. Ich war selber auf ganz bescheidene Weise daran beteiligt. Ich bin beim Kommando der Streitkräfte in Odessa gewesen, um das zu besprechen, weil es tatsächlich ein Problem in der ukrainischen Armee war, dass die Ukrainer keinen Krieg mit Russland wollten. Es gab natürlich die kleine Fraktion von Extremisten, die heute von unseren Medien unterstützt werden, aber man unterstützt nicht die große Menge der Ukrainer, die keinen Krieg und nicht in diese Situation kommen wollten.

Aber jetzt scheint es doch so zu sein, dass mit Beginn des Krieges ein Großteil der Bevölkerung schon hinter dem Kampf gegen Russland steht und zum Kampf entschlossen ist. Oder ist das nur eine Chimäre, die hier im Westen verbreitet wird?

Jacques Baud: Ja, das stimmt. Wenn man sieht, dass Russland mit Panzern und Soldaten einmarschiert, dann polarisiert das die Gesellschaft, das ist klar. Und es gibt mehr und mehr Menschen, die für den Krieg oder für die militärische Verteidigung gegen die Russen sind. Das Kiew Institut für Soziologie hat im Dezember 2021 und dann Anfang Februar 2022 eine Umfrage über den Verteidigungswillen der Ukrainer gemacht. Man erkennt deutlich, dass sich die Menschen im östlichen und südlichen Teil der Ukraine nicht mit Waffen gegen die Russen verteidigen wollten, obwohl ein Großteil natürlich für die Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Landes war. Aber sie wollten keinen Krieg.

Diese Zeichen für eine politische Lösung durch Umsetzung der Minsker Abkommen hat man im Westen völlig ignoriert. Und heute darf man auch nicht übersehen, worüber auch die BBC am Anfang dieses Jahres berichtet hat, dass Tausende verhaftet wurden, weil sie angeblich Kollaborateure waren. Immerhin kam das in der BBC, die sehr pro-ukrainisch ist. In den französischsprachigen Medien hat keiner diese Zahlen erwähnt. Innerhalb der Ukraine gibt es also eine Säuberung, die auch viele Bürgermeister und andere Personen aus der Verwaltung betraf. Vor allem in den Oblasten von Saporischschja, Odessa und Cherson wurden auch viele Bürgermeister oder Verwaltungsangestellte wurden ermordet.

Von Jacques Baud ist kürzlich das Buch „Putin – Herr des Geschehens?“ im Westend Verlag erschienen.

Jacques Baud war Oberst der Schweizer Armee, arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst, die Vereinten Nationen und für die Nato in der Ukraine. Er ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation. Das Gespräch wurde am 26. Juli geführt.


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