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Rendezvous mit dem Schicksal: Krieg kennt keine Grenzen: Warum wir einen Plan für Frieden brauchen

Einwurf von vier friedenspolitischen Schwergewichten Prof. Dr. Peter Brandt, Historiker; Reiner Braun, Friedenskooperative; Reiner Hoffmann, ehemaliger Bundesvorsitzender des DGB; Michael Müller, Parlamentarischer Staatssekretär a.D., Bundesvorsitzender der NaturFreunde



In der Geschichte der Menschheit gibt es immer wieder Umbrüche von historischer Tragweite. Sie fordern uns in besonderer Weise heraus, Verantwortung für die weitere Zukunft zu übernehmen. Derart fundamentale Ereignisse, die an den anthropologischen Konstanten unseres Lebens rütteln, beschrieb der 32. Präsident der USA Franklin Delano Roosevelt als „Rendezvous mit dem Schicksal“.

Heute erleben wir in kurzen Abständen sogar mehrere. Schon heute können wir von einem Jahrzehnt der Extreme sprechen, in dem die Befürchtung zunimmt, dass es zum gefährlichsten seit Ende des Zweiten Weltkrieges wird. Zuerst wurden wir vom Lockdown der Corona- Pandemie getroffen, der tiefe Spuren im Bildungswesen und in den sozialen Strukturen hinterlassen hat. Dann kehrten mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine Elend, Tod und Zerstörung auch nach Europa zurück und verändern weit über die Kriegsparteien hinaus die Welt. Und schon bald werden wir mit der Wucht der heraufziehenden globalen Klimakrise konfrontiert sein, deren negative Synergien kaum vorstellbar sind.

Unsere Gedanken gehören zuerst den betroffenen Menschen in der Ukraine, die unter dem Krieg leiden, verletzt oder getötet wurden. Unser Mitgefühl ist auch bei den Familien und Angehörigen der gefallenen oder schwer verwundeten Soldatinnen und Soldaten. Seit mehr als einem Jahr tobt der Krieg. Die furchtbare Dynamik des Krieges, der bereits zu einem blutigen Stellungskrieg geworden ist, muss gestoppt werden.

Er birgt die Gefahr einer unkontrollierbaren Eskalationsdynamik in sich – bis hin zum Einsatz von Atomwaffen. Die eindringliche Warnung von Jürgen Habermas vor einem Nuklearkrieg ist berechtigt. Die wichtigsten Aufgaben heißen deshalb: schnell zu einem Waffenstillstand kommen und Verhandlungen für konkrete Schritte zu einem stabilen Frieden in der Ukraine aufnehmen, mit dem Ziel, eine nachhaltige Sicherheitsordnung zu vereinbaren. Die Charta von Paris für ein neues Europa kann dafür der Wegweiser sein.

Gerade wegen des Ukrainekriegs bekennen wir uns zur Friedens- und Entspannungspolitik. Wir sehen keinen Grund, uns von dieser großen Leitidee der Außen- und Sicherheitspolitik zu distanzieren. Den Anstoß gab 1963 Präsident John F. Kennedy mit seiner „Strategie für den Frieden“. Der Ukrainekrieg darf kein Anlass sein, alte Auseinandersetzungen zu wiederholen. Im Gegenteil: Die Entspannungspolitik gehört zu den wichtigsten Errungenschaften unserer jüngeren Geschichte. Ohne die deutsche Ost- und Entspannungspolitik wäre es nicht vorstellbar gewesen, dass die Menschen in der früheren DDR die Kraft zu ihren Montagsdemonstrationen gefunden hätten. Ohne sie wäre es nicht zu wichtigen Vereinbarungen für Abrüstung und Rüstungskontrolle gekommen. Ohne sie wäre nicht die Hoffnung auf ein geeintes Europa gewachsen. (...)

Die Chancen für eine Friedenspolitik waren ab Mitte der 80er-Jahre größer denn je. In der UdSSR zeichneten sich massive Veränderungen ab, besonders durch Michail Gorbatschow, dessen Politik von der deutschen Ost- und Entspannungspolitik mitgeprägt wurde. Es kam zu einem neuen Denken: Perestroika und Glasnost. Brandt gefiel das Bild vom „Gemeinsamen Haus Europa“. Für ihn war es an der Zeit, in kontinentalen Gesamtzusammenhängen zu denken. Über das Zusammenleben im europäischen Haus, um dessen Verfügungsgewalt sich die beiden Weltmächte in der zweigeteilten Welt gestritten hatten, müssten nun die Menschen bestimmen, „die darin wohnen, darin aufgewachsen und auch davon abhängig sind“.


Gorbatschow war von der Idee der Gemeinsamen Sicherheit überzeugt. Rüstungskontrolle und Abrüstung bekamen einen hohen Stellenwert. Zusammen mit Präsident Ronald Reagan unterschrieb er 1987 den INF-Vertrag für die Verschrottung amerikanischer und sowjetischer Mittelstreckenraketen in der Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern. Schon in den 70er-Jahren war es zum Anti-Ballistic Missile Treaty (ABM-Vertrag) gekommen, dem die Strategic Arms Limitation Talks (SALT) vorausgegangen waren. Die USA und die UdSSR unterzeichneten 1991 den Strategic Arms Reduction Treaty-Vertrag (START) und 2002 den Vertrag über Open Skies. Wichtig waren auch der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE), der Obergrenzen für schwere Waffensysteme vorsah, und das Wiener Dokument zur Vertrauensbildung der KSZE-Staaten, beide von 1990.

Michail Gorbatschows Politik der ausgestreckten Hand machte das Ende der zweigeteilten Welt möglich. Es kam zur deutschen Einheit, ohne dass ein Schuss fiel. Die russische Armee ist ohne Zeitverzögerung aus Deutschland abgezogen. Die Auflösung des sowjetischen Weltimperiums geschah nahezu gewaltlos.

Damals hätte es zu einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur kommen können und müssen. Nicht durch eine Abkehr von der Friedens- und Entspannungspolitik, sondern durch ihre Weiterentwicklung, die von Willy Brandt als „Europäisierung Europas“ beschrieben wurde. Sie sollte die Konfrontation und das Streben nach militärischer Dominanz beenden. Das war keine Aufgabe der Westbindung, zielte aber wohl auf eine größere Souveränität Europas. Die USA hatten allerdings andere Interessen. Sie sahen in der Nato nicht nur ein Verteidigungsbündnis, sondern auch ein Instrument für ihre Hegemonie in West- und Mitteleuropa.

Nach dem historischen Jahr 1990 breiteten sich auch Ignoranz, Überheblichkeit und Undankbarkeit gegenüber der UdSSR beziehungsweise Russland aus. Nach dem Ende der „Pax Atomica“ ist es nicht zu einer stabilen und kooperativen Friedensordnung gekommen, obwohl im Jahr 1990 die „neue Zeit“ mit der „Charta von Paris für ein neues Europa“, die für die Zukunft eine enge Zusammenarbeit in wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und sicherheitspolitischen Fragen zwischen dem alten Westeuropa und den östlichen Staaten des Kontinents versprach, so hoffnungsvoll angefangen hatte.

Anfangs gab es noch Schritte für eine Verständigung. Am 1. Januar 1994 wurde die KSZE in die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) umgewandelt. 1997 kam es zur Nato-Russland-Grundakte. Vereinbart wurden eine Stärkung der OSZE als gemeinsame Sicherheitsorganisation, unter anderem für Rüstungskontrolle und Raketenabwehr. In der europäischen Sicherheitscharta der OSZE von 1999 heißt es, dass ihre Mitgliedsstaaten sich verpflichten, „ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten (zu) festigen“.

Der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher: „Die Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung muss nun heißen: gesamteuropäische Verantwortungspolitik und globale Kooperation, nicht Rückfall in die nationalistischen Irrwege des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.“ Und er mahnte: „Die Geschichte pflegt ihre Angebote nicht zu wiederholen, und die Chancen, die sie uns bietet, bestehen nicht ewig.“ Moskau unterzeichnete im Jahr 2004 auch den KSE-Vertrag, doch die Nato-Osterweiterung um die baltischen Staaten erfolgte ohne deren Ratifikation. Daraufhin suspendierte Russland den KSE-Vertrag im Jahr 2007.

Die Chancen wurden vertan. Nichts symbolisiert die Ignoranz und Respektlosigkeit gegenüber der historischen Leistung Gorbatschows mehr als die Abwesenheit führender staatlicher Repräsentanten anderer Länder bei dessen Bestattung am 3. September 2022 auf dem Ehrenfriedhof in Moskau.

Zumindest aus Deutschland, das dem verstorbenen Staatsmann so viel zu verdanken hat, hätten Regierungsvertreter am Grab stehen müssen.

Das Jahr 2008 wurde zum Wendejahr, insbesondere durch die Entscheidungen des Bukarester Nato-Rates, auf dem die fünfte Osterweiterung beschlossen wurde. Zwischen Russland und dem Westen bauten sich neue Spannungen auf. 2013/14 kam es zu den Maidan-Konflikten in Kiew mit den Folgen der Konflikte im Donbass und zur Annexion der Krim.

(..)

Daraus ergeben sich vier Thesen, die Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik herausgearbeitet hat.

Erstens: Der Kumulationspunkt des Krieges ist noch nicht erreicht. Ohne Friedensplan ist ein Abnutzungskrieg wahrscheinlich.

Zweitens: Der Westen kann Russland nicht isolieren. Außer den Nato-Staaten haben sich nur sechs Länder den Sanktionen gegen Russland angeschlossen, also weniger als 40 von rund 200 Staaten.

Drittens: Die ukrainische Abhängigkeit von westlichen Waffenlieferungen wächst stark an. Sie unterliegt freilich erheblichen politischen und ökonomischen Risiken.

Viertens: Die Risiken einer Eskalation des Krieges sind auf dem Höchststand in der Welt seit der Kubakrise. Nach dem Ende der Rüstungskontrolle und Rüstungsbegrenzung fehlt jede internationale Stabilität.

Wir brauchen einen Plan für den Frieden. Natürlich ist Russland der Angreifer, und natürlich hat die Ukraine ein Selbstverteidigungsrecht. Aber ein Verhandlungsfrieden wird nur möglich, wenn beide Seiten auf Maximalziele verzichten. Dabei darf nicht die Schwächung der Sicherheit Russlands im Vordergrund stehen, was Ende der 70er-Jahre die Linie von Zbigniew Brzezinski war, dem Sicherheitsberater des damaligen Präsidenten Jimmy Carter, der noch immer einen erheblichen Einfluss auf die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik hat.

Für ihn ist die Ukraine die Schlüsselfrage für die „eurasische Stärke“ Russlands. Ohne die Ukraine wären Moskaus geopolitische Optionen stark beschnitten. Die Machtverhältnisse auf dem eurasischen Kontinent wären entscheidend für die globale Vormachtstellung der USA.

Der frühere Nato-General Harald Kujat sieht in der Ablehnung der friedenspolitischen Optionen, die in Istanbul zwischen Russland und der Ukraine ausgehandelt wurden, das Ende des dualen Ansatzes, die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine zu stärken und eine diplomatische Lösung zu erreichen. Solange Krieg herrscht, hat Moskau noch immer große militärische Eskalationsmöglichkeiten, aus der eine Endlosschleife der Gewalt werden kann.

Putin hat das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte. Die Ukraine ist in vielen Regionen ein zerstörtes Land, die Bevölkerung ist aufgeladen mit antisowjetischen Ressentiments. Um den Krieg zu stoppen, ist eine Vermittlung von dritter Seite für einen Waffenstillstand dringend erforderlich. Infrage kommen dafür Länder, die sich für eine Vermittlung angeboten haben und in Moskau Gehör finden. Ein Weg wäre, wenn die B(R)ICS-Staaten Brasilien, Indien, China und Südafrika zusammen mit weiteren Staaten wie Indonesien Einfluss auf Russland nehmen, um zu einem Waffenstillstand zu kommen. Das wäre der richtige Weg. Dabei sollte auch UN-Generalsekretär António Guterres einbezogen werden. Die Vorschläge von Istanbul können erneut aufgegriffen werden.

Ein Waffenstillstand kann dann die Verhandlungen für einen nachhaltigen Frieden öffnen. Grundlage sollte die Charta von Paris sein. Insbesondere die europäischen Kernländer Deutschland und Frankreich sind gefordert, diesen Prozess voranzutreiben. Hier könnte Bundeskanzler Olaf Scholz eine entscheidende Rolle übernehmen. Die globalen Probleme gemeinsam und friedlich zu lösen, dazu gibt es keine Alternative. Das setzt voraus, durch Kooperation zwischen den Staaten und natürlich auch zwischen den Zivilgesellschaften neues Vertrauen zu schaffen. Andernfalls wird sich schnell große Ernüchterung breit machen. (..)

Die Autoren: Prof. Dr. Peter Brandt, Historiker; Reiner Braun, Friedenskooperative; Reiner Hoffmann, ehemaliger Bundesvorsitzender des DGB; Michael Müller, Parlamentarischer Staatssekretär a.D., Bundesvorsitzender der NaturFreunde


 
 
 

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