
Peter Brandt: Innere + äußere Ursachen der Ukraine-Krise- Vortrag auf der FriedensStrategieKonferenz

Peter Brandt
Hinweis: Es handelt sich bei diesem Beitrag um den Text eines Vortrags,
der im Rahmen der Strategiekonferenz der Friedenskoordination am
19.02.2022 in Weimar gehalten wurde. Aufgrund der anschließenden
Diskussion ist er lediglich an wenigen Stellen ohne grundlegende
inhaltliche Relevanz ergänzt worden. Eine Aktualisierung im Licht des
jüngsten aggressiven Vorgehens Russlands ist bewusst vermieden
worden.
Die Ukraine-Krise – Innere und äußere Ursachen
Hinweis: Es handelt sich bei diesem Beitrag um den Text eines Peter Brandt
Die Ukraine-Krise – Innere und äußere Ursachen am
19.02.2022 in Weimar gehalten wurde. Aufgrund der anschließenden
Diskussion ist er lediglich an wenigen Stellen ohne grundlegende
inhaltliche Relevanz ergänzt worden. Eine Aktualisierung im Licht des
jüngsten aggressiven Vorgehens Russlands ist bewusst vermieden
worden.
Im osteuropäisch-slawischen Bereich, der lange zwischen in imperialen
Mächten Russland, Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich, in
geringerem Maß auch Preußen bzw. Deutschland aufgeteilt war, vollzog
sich die Nationsbildung, verstanden als sozialer und kultureller Vorgang,
gegenüber anderen Teilen Europas mit teilweise erheblicher Verzögerung:
Die autochthonen Sprachen existierten teilweise nur oder nur noch als
Bauern- und Unterschichtendialekte. Ferner waren die ethnographischen
und linguistischen Verhältnisse im östlichen Teil des Kontinents dadurch
gekennzeichnet, dass bis zu den großen Umsiedlungen und
Vertreibungen der 1940er Jahre eine ausgeprägte Gemengelage ebenso
charakteristisch war wie das Vorhandensein sog. „schwebenden“, national
kaum zuordenbaren „Volkstums“.
Unter den diversen national-kulturellen und national-politischen
Bestrebungen im östlichen Europa waren die der Ukrainer im Hinblick auf
deren Existenz als Ethnonation in besonderer Weise problematisch: Die
ukrainische Nationalidee ist in mehrfacher Hinsicht eng verbunden mit der
russischen. Dabei geht es nicht allein um die sprachliche Verwandtschaft
(beides, wie auch das Weißrussische, ostslawische Sprachen,
geschrieben in kyrillischen Buchstaben) und die Nähe der religiösen
Konfessionen: in der Ukraine heute drei konkurrierende orthodoxe Kirchen
sowie die mit dem römischen Katholizismus verbundene, „unierte“ Kirche
mit ebenfalls ostkirchlichem Ritus. Gemeinsam ist Russen und Ukrainern
der auf die Kiewer Rus des 9. bis 12. Jahrhunderts zurückgehende
nationalstaatliche Ursprungsmythos.
Einen selbstständigen ukrainischen Staat gab es nur jeweils kurze Zeit
nach 1648 und nach 1917, als die bürgerliche Konstituante, ein unter
deutschem Protektorat errichtetes Hetmanat und die Bolschewiki um die
Macht rangen. Ostgalizien, Wolhynien und Bukowina, also die
Westukraine, kamen infolge des polnisch-russischen Kriegs von 1920 zu
Polen. Vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert hatten sie zum
österreichischen Teil der Donaumonarchie gehört, die – im Kontrast zu
den Russifizierungsmaßnahmen des Zarenreichs – die ukrainische
Sprache und Literatur förderte: als Gegengewicht zum Polentum. Lemberg
(polnisch: Lwów, ukrainisch: Lviv), jahrhundertlang bewohnt von
Angehörigen unterschiedlicher Nationalitäten, hatte bis zur Aussiedlung
der dort lebenden Polen nach dem Zweiten Weltkrieg, als auch die
Westukraine sowjetisch und somit ukrainisch wurde, eine zentrale
Bedeutung sowohl für das polnische als auch für das ukrainische
Nationalbewusstsein und ebenso für das osteuropäische Judentum.
Das Ukrainische wurde als moderne Schrift- und Literatursprache,
geschaffen auf der Grundlage des Umgangssprache, erst zu Beginn des
20. Jahrhunderts in festen Formen fixiert. Im Polen der
Zwischenkriegszeit, zunehmend autoritär regiert, wurden die kulturellen
und politischen Autonomiebestrebungen der Ukrainer ebenso unterdrückt
wie die anderer nationaler Minderheiten. Eine Organisation ukrainischer
Nationalisten (O.U.N.) und deren geheime Militärorganisation formierten
sich im Untergrund gegen den polnischen wie den sowjetischen Staat und
setzten ihre Hoffnung auf nationale Befreiung in der zweiten Hälfte der
1930er Jahre mehr und mehr auf NS-Deutschland, namentlich mit dem
deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. In der UdSSR
war die Förderung der ukrainischen Sprache und Kultur während der 20er
Jahre einem mit blutigen Säuberungen der ukrainischen Kommunistischen
Partei und mit einer schweren Hungersnot (4-6 Millionen Todesopfer)
während der Agrarkollektivierung einhergehenden erneuten
Russifizierungskurs gewichen: Die Führer des radikalen Flügels der
ukrainischen Nationalisten, unter denen der Name Stepan Bandera am
bekanntesten ist, proklamierten nach der Einnahme Lembergs durch die
Deutsche Wehrmacht Ende Juni 1941 die Wiederherstellung des
ukrainischen Staates; sie dachten an die eigenständige Beteiligung am
deutschen „Unternehmen Barbarossa“, eine Rolle, die die
Nationalsozialisten ihnen jedoch keinesfalls zuerkennen wollten.
Inzwischen gibt es in Kiew einen Stepan-Bandera-Platz, und die
Erinnerung an dessen Kampf gegen die UdSSR wird in mehreren der
Milizverbände, die der Armee beigeordnet sind, hochgehalten.
Die Geschichte der Ukraine, der wirtschaftlich am weitesten entwickelten
sowjetischen Teilrepublik, in der Nachkriegszeit war – nach einer erneuten
Säuberungswelle im Zuge des Kampfes gegen den sog. „ukrainischen
Nationalismus“ einschließlich umfangreicher Umsiedlungsmaßnahmen
sowie einer erneuten Hungersnot 1946/47 – gekennzeichnet durch eine
Art Pendelbewegung zwischen einer relativ großzügigen
Nationalitätenpolitik des Kreml mit Betonung einer gewissen ukrainischen
Eigenständigkeit und Russifizierungstendenzen samt Eingriffen in die
Zusammensetzung der einheimischen KP-Führung. Seit den 1960er
Jahren traten oppositionelle Strömungen, namentlich im national-
kulturellen und religiösen Feld, wieder stärker in Erscheinung; doch erst in
der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, in der Periode von KPdSU-
Generalsekretär Michail Gorbatschows Öffnungspolitik, formierte sich eine
gewichtige Nationalbewegung, atmosphärisch angefeuert durch den
verantwortungslosen Umgang der Behörden mit dem Unfall im
Atomkraftwerk Tschernobyl am 26. April 1986.
Die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine am 28. August 1991 ergab sich
als Nebenprodukt aus dem Zerfall der UdSSR. Die brisantesten Probleme,
die Beseitigung des umfangreichen Atomwaffenarsenals auf ukrainischem
Boden und die Stationierungsrechte der russischen Schwarzmeerflotte auf
der Krim (die, traditionell zu Russland gehörend, 1954 der ukrainischen
Teilrepublik übereignet worden war) konnten zwischen 1994 und 1997
einvernehmlich gelöst bzw. zwischenzeitlich geregelt werden.
Im Innern der Ukraine verlief der Transformationsprozess ausgesprochen
schleppend, die Oligarchenmacht blieb ungebrochen, und zwar bis heute,
nicht anders als in Russland. Allerdings formierten sich im ersten
Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zwei innenpolitische Lager, in denen
konkurrierende Oligarchenfraktionen mit unterschiedlichen ökonomischen
Interessen die kulturelle Kluft zwischen dem Westen und der Mitte
einerseits, dem Osten und dem Süden des Landes andererseits zugleich
abbildeten und funktionalisierten. Dass die von westlichen Akteuren wie
George Soros geförderte „Orangene Revolution“ von 2004, eine Reaktion
auf vermutete Wahlmanipulationen, auch zivilgesellschaftlichen Protest
artikulierte, ist offenkundig; doch brachten die folgenden Jahre der
Präsidentschaft Viktor Juschtschenkos und der Regierung Julia
Timoschenkos, selbst eine der großen Oligarchinnen, bezüglich der
Erbübel Korruption und Nepotismus keine nennenswerte Besserung, und
das Ansehen der neuen Machthaber verfiel in kurzer Zeit. Auch der Sturz
des 2010 in regulären Wahlen erneut an die Präsidentschaft gelangten
Viktor Janukowitsch, eines Repräsentanten der russisch orientierten
Großindustriellen der Ostukraine mit ihrer Partei der Regionen, durch die
Maidan-Massenbewegung von 2014 brachte hier keine substanziellen
Fortschritte. Die Maidan-Bewegung auf einen Putsch zu reduzieren, greift
zu kurz. Richtig ist indessen, dass der Maidan nicht nur die
verfassungsmäßige Ordnung umstürzte, sondern auch das unter
maßgeblichem ausländischen Druck erzielte Minsk-I-Abkommen, das u.a.
Neuwahlen vorsah, über den Haufen warf.
Analysen von Ukraine-Experten machen deutlich, dass zwar freie Wahlen
weitgehend gesichert sind, die genannten alten Übel aber fortdauern.
Wirtschaftlich-sozial steht das Land inzwischen zusammen mit Moldawien
am untersten Rand des Niveaus in Europa – und zwar hauptsächlich aus
inneren Gründen. Seit der Unabhängigkeit hat jeder fünfte Ukrainer das
Land verlassen. Der jetzige 2019 mit großer Mehrheit gewählte Präsident
Wolodymyr Selenskyj gehört keiner der großen Oligarchencliquen und
Machtblöcke an, verfügt deshalb aber auch nur über eine relativ schwache
Machtbasis, um angekündigte Reformen voranzubringen.
Wesentlich ist, dass mit der Maidan-Bewegung und den separatistischen
Reaktionen im Osten der Ukraine 2014 der Schwebezustand beendet
wurde, in dem sich damals das nationale Selbstverständnis der Ukraine in
dem mittlerweile beinahe einem Vierteljahrhundert ihrer Existenz als
souveräner Staat befand. Der größere Teil des Landes mit der
Westukraine als festem Kern schickte sich an, eine eindeutige, von
Russland politisch wie kulturell klar abgegrenzte Nationalidentität zu
gewinnen – um den Preis des nicht nur militärisch bedingten Verlustes
einer beträchtlichen Minderheit, die diesen Schritt nicht gehen will und
nicht gehen kann.
Die Sache ist kompliziert: Eine 2008 durchgeführte Untersuchung machte
deutlich, dass neben den 44% das Ukrainische und den 26% das
Russische benutzenden (wohl nur teilweise sich als ethnische Russen
verstehenden) Bewohnern 29% beide Sprachen gleichrangig als die ihren
ansahen. Die Trennungslinie zwischen vorwiegend ukrainischsprachiger
(im Westen und in der Mitte) und vorwiegend russischsprachiger (im
Osten und Süden) Kommunikation deckt sich weitgehend mit der
konfessionellen Trennung: Hier dominieren die unierte, als griechisch-
katholische, und die ukrainisch-orthodoxe Kirche, dort die russisch-
orthodoxe Kirche. Namentlich über die Sprachenfrage hat sich seit den
1990er Jahren kein Konsens, nicht einmal ein tragfähiger Kompromiss
finden lassen. Ein Gesetz von 2012, das den Regionen neben dem
Ukrainischen den offiziellen Gebrauch einer weiteren Sprache zubilligte,
blieb auch nach seiner Verabschiedung heiß umstritten. Eine
entschlossene Minderheit wollte verhindern, dass Russisch als
gleichberechtigte Sprache selbst nur auf regionaler Ebene anerkannt
wurde.
Letztlich konnten sich Ansätze, die einem übergreifenden
Nationalverständnis hätten zugrunde gelegt werden können, gegen die
seit 2003 stärker werdende innere Polarisierung nicht behaupten, und das
hatte eminent politische Gründe. In der Stichwahl zur Präsidentschaft im
November 2004 betrugen die Stimmenanteile des „prowestlichen“
Juschtschenko in den Regionen des Westens und der Mitte bis zu 93%,
die des „prorussischen“ Janukowitsch im Osten und Süden bis zu 96%.
Insgesamt ist der Graben somit auch wahlstatistisch eindeutig erkennbar
gewesen.
Bei dessen Vertiefung wirkten externe und interne Faktoren, sich
wechselseitig verstärkend, aufeinander ein. In den 1990er Jahren hielten
sich sowohl die NATO und die EU, die mit der Einbindung der Länder
Ostmitteleuropas und den Krisen in Ex-Jugoslawien beschäftigt waren, als
auch das in liberalistisch-katastrophischem Wandel befindliche, auf seinen
territorialen Kernbestand reduzierte und von weiterer Dekomposition
bedrohte Russland gegenüber der Ukraine zurück; diese verfolgte eine
Politik der Äquidistanz, die auch der etwa gleichermaßen großen
Bedeutung des Handels mit Russland einerseits, mit der EU andererseits
entsprach. Nach der Jahrtausendwende bemühten sich beide Seiten
immer stärker, die Ukraine ihrem jeweiligen Einflussbereich hinzuzufügen.
Russland sah sie als einen Eckstein des angestrebten „Einheitlichen
Wirtschaftsraums“ (2003) bzw. der Zollunion (2010) unter Einschluss
Weißrusslands und Kasachstans und gab die Bereitschaft zu erheblichen
wirtschaftlichen Zugeständnissen zu erkennen. Russland hatte unter der
Präsidentschaft Wladimir Putins inzwischen die chaotischen Zustände der
Jelzin-Periode überwunden, begünstigt durch hohe Energiepreise, und
nach außen Handlungsfähigkeit zurückgewonnen. Die ukrainische
Führung unter Präsident Leonid Kutschma (1994-2004) machte mit ihrer
Schaukelpolitik, mit der sie auf die äußere Dynamik der Mächterivalität
und die ihr entsprechende innere Polarisierung reagierte, zunehmend
einen getriebenen Eindruck und geriet mehr und mehr in eine Objekt-
Rolle. Der geplante wirtschaftliche Zusammenschluss mit Russland
musste ebenso nach wenigen Tagen widerrufen werden wie die
Zielvorstellung eines EU-Beitritts über ein Assoziierungsabkommen. Der
innenpolitische Widerstand war jeweils zu stark.
Die beiden äußeren Faktoren, Russland bzw. EU und USA samt NATO,
taten 2013/14 ihrerseits nicht nur nichts, um den Riss zu kitten, sondern
drängten die Ukraine zur Entscheidung, indem sie die Suche nach einer
nahe liegenden Brückenfunktion des Landes unterließen, ja hintertrieben.
Unter diesen Umständen, namentlich seit Beginn des mittlerweile lediglich
eingefrorenen, durch russische (und zunächst weniger offensichtliche US-
amerikanische) Beteiligung komplizierten Bürgerkriegs, kann sich ein
inklusives und demokratisches, die unterschiedlichen kulturellen
Überlieferungen integrierendes und die Besonderheiten des Landes
ausdrückendes Nationsverständnis nicht entfalten. Neben den konkreten
militärisch-politischen Vorgängen und verbunden damit ist zu befürchten,
dass die Forcierung des west- und mittelukrainischen, hauptsächlich in
Absetzung von Russland ausgeformten Nationskonzepts den Graben zu
den überwiegend russischsprachigen Teilen so weit aufgerissen hat, dass
er auch nach Beendigung der Feindseligkeiten und selbst und der
Prämisse freier Entscheidung wohl nicht mehr zugeschüttet werden kann.
Wenn wir uns nun der aktuellen Verschärfung der Spannungen an der
russisch-ukrainischen Grenze zuwenden, dann sollten gerade die
Organisationen der Friedensbewegung nicht den Eindruck aufkommen
lassen, als wären ihnen die repressiven Verhältnisse - und nicht ganz
nebenbei, die extreme soziale Ungleichheit - im Innern Russlands
gleichgültig, auch wenn es gilt, diese Zustände samt Oligarchenwirtschaft
und systemischer Korruption historisch zu erklären und politisch
einzuordnen. Dazu habe mich wiederholt an anderer Stelle geäußert.
Ebensowenig sollten wir die Brutalität der äußeren Machtpolitik Putins
beschönigen oder übergehen. Die zweifellos kalkulierten Drohgebärden
der russischen Regierung – sie sollen die USA an den Verhandlungstisch
zwingen -, sind als Mittel inakzeptabel und brandgefährlich, und das gilt
nicht allein für diese Aktion. Die verdeckte Einnahme der Krim 2014 war
auch unter der kaum bestrittenen Annahme mehrheitlicher Zustimmung
der dort Lebenden kritikwürdig, ebenso das rabiate Regime in den
ostukrainischen „Volksrepubliken“, die offenkundig von Russland nicht nur
unterstützt, sondern auch kontrolliert werden. (Gewiss kann man nicht, wie
es die ukrainische Regierung tut, die 1,5 Millionen innerukrainischen
Kriegsflüchtlinge aus dem Osten einfach als russlandfeindliche politische
Flüchtlinge verbuchen.) Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit – und
vielleicht nicht der schwerwiegendste.
Anders als bis 1990 die Sowjetunion ist Russland heute der NATO in
Europa in konventioneller Rüstung klar unterlegen. Die NATO-Staaten
geben jährlich in Addition fünfzehn- bis zwanzigmal so viel für ihr Militär
aus; auf die USA allein entfallen rund zwei Fünftel aller Militärausgaben
weltweit. Eine ganze Kette von Auslandsstützpunkten soll die
wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen Washingtons absichern,
das sich seit jeher berechtigt sieht, nicht nur auf dem amerikanischen
Kontinent (den schon die Monroe-Doktrin von 1823 gegen die
Einflussnahme anderer Großmächte absichern sollte), sondern in allen
Erdteilen und auf allen Weltmeeren zu intervenieren, auch militärisch und
nötigenfalls mit gefälschten Beweisen, ferner vermeintliche Terroristen mit
Drohnen zu liquidieren.
Nehmen wir die Begründer der NATO beim Wort, dann wollten sie ein
Verteidigungsbündnis gegen die Stalinsche Sowjetunion schaffen, welche
ihr System bis an die Elbe ausgedehnt hatte und damals nicht nur von
antikommunistischen Eiferern als bedrohlich wahrgenommen wurde. Dann
hätte jedoch die NATO bei der Auflösung des Warschauer Pakts und der
Sowjetunion sowie angesichts weitgehender Lähmung des restlichen
Russland, jetzt reduziert auf Grenzen ähnlich denen des mittleren 17.
Jahrhunderts, nach 1990/91 keine Existenzberechtigung mehr gehabt. Sie
diente aber von Anfang an nicht nur dazu, die sowjetische Militärmacht in
Schach zu halten, sondern zugleich zur Kontrolle des westdeutschen
Potentials und vor allem als Instrument der US-amerikanischen
Hegemonie; die USA wollten ihre strategische Gegenküste in Europa nicht
aus purer Freundlichkeit gesichert haben. Die eventuelle Schwächung
oder gar Auflösung der NATO zugunsten eines gesamteuropäischen
Sicherheitssystems, wie es sich in der Charta von Paris vom November
1990 abzuzeichnen schien, war – und das ist bezeugt – die einzige echte
Sorge der amerikanische Regierung im Prozess der Einigung
Deutschlands.
Statt die Gunst der Stunde und die entgegenkommende Haltung der
UdSSR am Ende der Gorbatschow-Ära für die Gestaltung einer qualitativ
neuen Friedensordnung in der nördlichen Hemisphäre zu nutzen, bediente
man den – angesichts historischer Erfahrungen nachvollziehbaren –
Wunsch der neuen Führungseliten in den Ländern des östlichen
Mitteleuropa und Südosteuropas nach Eingliederung in die NATO; ab
1999 wurde diese, inzwischen fast flächendeckend, vollzogen. Der
vorangegangene Beitritt zur EU diente nicht zuletzt als Türöffner.
Es ist offensichtlich, dass die Verschiebung der westlichen Militärgrenze
gegenüber Russland von der Elbe bis an den Bug und an die Donau für
jede denkbare Regierung in Moskau höchst problematisch gewesen wäre.
Dass Russland insbesondere die ersten Schritte der NATO-Erweiterung
hinnahm, resultierte aus seiner damaligen extremen Schwäche. Es trifft im
Übrigen zu, dass es kein rechtlich oder politisch bindendes Dokument gibt,
mit dem der Westen auf eine weitere Ausdehnung der NATO über
Ostdeutschland hinaus verzichtet hätte, allerdings mehrere mündliche
Zusagen auf höchster Ebene seit Anfang 1990, und seit der jüngsten
Veröffentlichung des „Spiegel“ (Ausgabe v. 21.02.2022) wissen wir, dass
die Westmächte auch intern von nichts anderem ausgingen. Michail
Gorbatschow ist heute tief verbittert darüber, wie hochmütig und
rücksichtslos der Westen in den vergangenen über drei Jahrzehnten mit
Russland umgegangen ist. In den Augen nicht nur der jetzigen
Spitzenleute, sondern auch der Mehrheit des russischen Volkes ist
Gorbatschows Kurs, insbesondere seine Außenpolitik der ausgestreckten
Hand, damit desavouiert und Putins heutige Machtpolitik gerechtfertigt.
Auch Vertreter des außenpolitischen Mainstreams bei uns räumen heute
ein, dass die dem Westen, insbesondere Deutschland gemachten
Avancen Putins während der ersten Jahre seiner Präsidentschaft ohne
konstruktive Antwort geblieben sind. Mit der Aufnahme Georgiens und der
Ukraine würden (nach den baltischen Staaten) weitere und im Fall der
Ukraine großflächige und bevölkerungsstarke Länder dem westlichen
Bündnis beitreten. Dort stationierte Raketen könnten Moskau in wenigen
Minuten erreichen, während in Polen und Rumänien jetzt bereits
stationiert wird, angeblich zur Abwehr eventueller iranischer Raketen.
Dass das für Russland keine potentielle Bedrohung sein soll, kann nur
behaupten, wer erwartet, dass die andere Seite von den guten Absichten
des westlichen Gegenübers insgeheim überzeugt ist (weil sein muss) und
nur zu dunklen Zwecken wider besseres Wissen dagegen opponiert.
Es gehörte zu den elementaren Voraussetzungen der nach der extrem
gefährlichen Kuba-Krise vom Oktober 1962 behutsam, sukzessive und
durchaus widersprüchlich eingeleiteten Ost-West-Entspannung, dass
beide Supermächte und die ihnen geführten Bündnisse bereit waren bzw.
fähig wurden, den Konflikt mit den Augen des jeweils anderen zu
betrachten – nicht um dessen Sicht einfach zu übernehmen, sondern um
überhaupt zu verstehen, warum er denkt, wie er denkt, plant, wie der
plant, und handelt, wie er handelt. Stattdessen erleben wir täglich seitens
der etablierten Außenpolitiker die gebetsmühlenartige Wiederholung der
üblichen Einseitigkeiten.
Es geht aber nicht nur um eine verquere Sicht der Dinge, sondern auch
um die gezielte Forcierung eines neuen Konflikt mit der ehemaligen
Supermacht Russland und, mehr noch, mit der neuen Supermacht China,
das die amerikanische Welthegemonie herausfordert. An die Stelle des
früheren Kampfes gegen den „internationalen Kommunismus“ ist die
Konfrontation mit dem (natürlich speziell bei den Gegnern Amerikas
verorteten) „Autoritarismus“ getreten, den offenbar auch viele
demokratisch gesonnene Menschen für berechtigt und unvermeidlich
halten.
Aber wird nicht eher umgekehrt ein Schuh daraus, indem erst
Friedenssicherung und Entspannung einen Spielraum eröffnen, der
demokratisierenden und sozialemanzipatorischen Kräften innerhalb der
betreffenden Gesellschaften (wie übrigens auch in den Ländern des
Liberal-Kapitalismus), verstärkt Handlungs- und
Veränderungsmöglichkeiten schafft? Denken wir doch an den Helsinki-
Prozess der 1970er und 80er Jahre, der möglich wurde durch die neue
Ost- Deutschlandpolitik der sozial-liberalen Bonner Koalition von 1969.
In einer Welt, in der Rüstungskontrolle und Abrüstung – hier namentlich
die Abschaffung einer ganzen Waffengattung, der besonders umstrittenen
atomaren Mittelstreckenraketen Ende der 80er Jahre – abgelöst werden
durch die Einführung immer neuer Waffen-Typen und -Systeme wie z.B.
der Hyperschallflugzeuge, in der zudem die Zahl schwer berechenbarer
nachrangiger Atommächte ständig angewachsen ist, ist die Rückkehr zur
Entspannungspolitik existenziell geboten, wobei, ähnlich wie vor gut 60
Jahren, wohl mit vertrauensbildenden Maßnahmen begonnen werden
müsste. Im atomaren Zeitalter kann Sicherheit nur noch als gemeinsame
Sicherheit realisiert werden. Wie will man denn die großen Probleme der
Menschheit – die Umweltzerstörung und die Klimaerwärmung, das Nord-
Süd-Gefälle mit dem Massenelend in der südlichen Hemisphäre und den
Flüchtlingsströmen in den Griff bekommen ohne Zusammenarbeit mit
Russland und China und ohne die durch substantielle Abrüstung frei
werdenden Mittel? Wir brauchen Konzepte der Gestaltung eines
multipolaren Globus.
Schließlich noch einige Worte zur aktuellen Krisensituation im Osten
unseres Kontinents und zu einer möglichen Lösung: Innerukrainisch hat
das 2015 von Frankreich und Deutschland vermittelte Minsk-II-
Abkommen, das aber, nicht zuletzt von der ukrainischen Seite, wo man
davon nichts mehr wissen will, nicht umgesetzt wurde, bereits wesentliche
Elemente einer für alle akzeptablen Übereinkunft aufgezeigt, so einen
innerstaatlichen Sonderstatus der ostukrainischen Regionen Donbas und
Lugansk. Unvereinbar scheint die Forderung Russlands nach einem
formellen Verzicht der NATO auf eine zusätzliche Erweiterung nach Osten
einerseits, die westliche Position, dass jeder souveräne Staat über seine
Bündnisorientierung selbst entscheiden können muss, andererseits.
Es gibt aber mindestens einen Präzedenzfall aus der Zeit des alten Ost-
West-Konflikts: Österreich hätte den Abzug der vier, einst alliierten
Besatzungsmächte 1955 niemals zugestanden bekommen, wenn es sich
nicht zu dauernder Paktfreiheit verpflichtet hätte, ein Zustand, der bis
heute andauert. Heute könnte ein Verzicht der NATO auf Erweiterung, sei
es zunächst als Moratorium, so allgemein gefasst werden, dass er für die
Ukraine nicht diskriminierend wäre. Eine Formulierung in der ukrainischen
Verfassung, die Einbindung in die NATO betreffend, kurios genug, müsste
allerdings geändert werden.
Peter Brandt (Historiker)
Peter Brandt (2010) Peter Willy Brandt (* 4. Oktober 1948 in Berlin) ist ein deutscher Historiker und Professor im Ruhestand für Neuere und Neueste Geschichte an der Fernuniversität in Hagen. Inhaltsverzeichnis
1Leben
1.1Familie
1.2Schule, Studium und Promotion
1.3Berufliche Laufbahn
2Gesellschaftliches Engagement
3Film
4Audio
5Schriften (Auswahl)
6Ehrungen
7Literatur
8Weblinks
9Einzelnachweise
Leben Familie] Peter Brandt wurde als ältester Sohn von Rut und Willy Brandt in Berlin geboren. Seine Brüder sind Lars Brandt und Matthias Brandt, seine ältere Halbschwester Ninja (* 1940) entstammt als voreheliches Kind der ersten Ehe (1941–1948) Willy Brandts mit Carlota Thorkildsen. Peter Brandt ist verheiratet und hat zwei Kinder. Schule, Studium und Promotion Ludwig Binder: Studentenrevolte 1967/68, West-Berlin; veröffentlicht vom Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Rechts: Peter Brandt und Freundin Maria beim Protestmarsch gegen die polnische Militärmission, 13. März 1968 Brandt besuchte in Berlin die Schadow-Oberschule.[1] Als seine Familie nach der Ernennung seines Vaters zum Bundesaußenminister und Vizekanzler am 1. Dezember 1966 nach Bonn zog, blieb er als einziges Familienmitglied in Berlin, da er nicht kurz vor dem Abitur, das er 1968 ablegte, die Schule wechseln wollte. Anschließend begann er ein Studium der Geschichte und Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin. In seiner Studienzeit war er in der Studentenbewegung politisch aktiv. Hierbei geriet er als Mitglied politisch links ausgerichteter Gruppierungen mehrfach mit den politischen Positionen seines Vaters in Konflikt. Im Rahmen mehrerer Prozesse 1967 gegen Brandt, unter anderem wegen seiner Beteiligung an Demonstrationen gegen die Inhaftierung Fritz Teufels, wurden diese Differenzen auch öffentlich.[2][3] 1968 stand er wegen „Auflauf“ in einem Prozess vor Gericht, aber nicht gemeinsam mit Teufel und Rainer Langhans, wie behauptet wurde. Brandt hegte eine „außergewöhnlich herzliche Sympathie“ für den studentischen Aktivisten Rudi Dutschke, obwohl er zahlreiche seiner Positionen nicht teilte.[4][5] Brandt wurde 1973 an der Freien Universität mit einer Dissertation über den Wiederaufbau der deutschen Arbeiterbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg am Beispiel Bremens promoviert.
Berufliche Laufbahn Von 1973 bis 1975 und von 1986 bis 1989 war Peter Brandt neben seiner Forschungstätigkeit Lehrbeauftragter und freier Publizist. In der Zwischenzeit war Peter Brandt von 1975 bis 1986 Wissenschaftlicher Assistent bzw. Hochschulassistent bei Reinhard Rürup am Institut für Geschichtswissenschaft der Technischen Universität Berlin, der auch seine Habilitationsschrift betreute. 1988 hat Brandt sich an der TU Berlin mit einer Untersuchung zum Thema Studentische Bewegungen und Frühnationalismus um 1800[6] habilitiert. Seit 1989 war Brandt Lehrstuhlvertreter, seit 1990 Professor für Neuere Geschichte an der Fernuniversität in Hagen. Am Historischen Institut der FernUniversität war er zuständig für die deutsche und europäische Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts. Er war von 2003 bis 2017 Direktor und ist heute Ehrendirektor des Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften der FernUniversität und war Sprecher des Historischen Promotionskollegs über Gesellschaftliche Interessen und politische Willensbildung der Hans-Böckler-Stiftung. Ferner war er Mitglied im Hochschulrat der FernUniversität, Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung und des Wissenschaftlichen Beirats Haus des Ruhrgebiets. Er ist Mitglied der Vereinigung für Verfassungsgeschichte. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit sind die Gebiete Nationalismus und bürgerlicher Wandel seit dem 18. Jahrhundert, vergleichende europäische Verfassungsgeschichte seit dem 18. Jahrhundert, Geschichte der Arbeiterbewegung und des Sozialismus sowie die Deutsche Frage, besonders nach 1945. Neben der üblichen Vertretung des Fachs in Forschung und Lehre und der Beteiligung an der akademischen Selbstverwaltung hielt und hält Brandt Vorträge im In- und Ausland, etwa in Berlin, Bielefeld, Bochum, Göttingen, Zürich, Breslau, Oslo, Oxford, Birmingham, Paris, Rom und St. Petersburg. Ferner ist Peter Brandt zusammen mit Martin Kirsch und Arthur Schlegelmilch Herausgeber eines Handbuchs in neun Bänden mit CD-ROM-Quellenedition zur vergleichenden europäischen Verfassungsgeschichte seit 1780, das seit 2004 erscheint. Mitherausgeber ist außerdem Werner Daum. Am 12. Februar 2014 verabschiedete Brandt sich mit der Vorlesung „Das Volk“ – Zur Geschichte eines umstrittenen Begriffs in den Ruhestand.[7] Ein Teil der während seiner Dienstzeit an der Fernuniversität Hagen entstandenen Unterlagen befindet sich heute im Archiv der Fernuniversität Hagen. Als Professor emeritus trat Brandt öffentlich durch seine Mitwirkung an einem Gutachten über die Frage, ob der letzte preußische Kronprinz, Wilhelm Prinz von Preußen, der Etablierung der nationalsozialistischen Diktatur Vorschub geleistet habe, hervor.[8] Die sich aus den unterschiedlichen Ergebnissen von Brandts Gutachten und den Gutachten anderer Historiker ergebende Forschungskontroverse und die öffentliche Auseinandersetzung um „das Erbe der Hohenzollern“, die diese Kontroverse auslöste, galten Ende 2019 als „der bedeutendste geschichtspolitische Konflikt des Landes“ in der Gegenwart (Der Spiegel).[9] Jan Böhmermann hat die geheim gehaltenen Gutachten, die für die Entschädigungsforderungen der Hohenzollern bedeutend sind, im November 2019 für seine Show Neo Magazin Royale im Internet veröffentlicht.[10] Gesellschaftliches Engagement[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten] Neben der wissenschaftlichen Arbeit bemüht sich Brandt um eine seriöse Popularisierung (zum Beispiel durch die Herausgabe historischer Lesebücher, Jubiläumsschriften, Mitarbeit an Ausstellungen oder Vorträge an Volkshochschulen, Bildungseinrichtungen von Gewerkschaften und politischen Parteien) sowie politisches Engagement und politische Publizistik, in den 1980er und 1990er Jahren vor allem die Problematik der Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands betreffend. Er ist Mitglied der SPD und der Gewerkschaft ver.di. Aufgrund seiner Positionen zu Nation und Patriotismus sowie nach einem Interview in der Wochenzeitung Junge Freiheit erntete Brandt Kritik.[11][12][13] Dabei wurde auch intern über seinen Status als Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung diskutiert.[14] In der Ausgabe der Jungen Freiheit vom 4. Februar 2005[13] verfasste er einen Nachruf auf den rechten Publizisten Wolfgang Venohr, der in seiner Jugend Mitglied der Waffen-SS gewesen war. Er zählt auch zu den Autoren des im Juli 2005 von der Jungen Freiheit herausgegebenen Sammelbands Ein Leben für Deutschland. Gedenkschrift für Wolfgang Venohr 1925–2005. Peter Brandt war außerdem Referent bei der Berliner Burschenschaft Gothia[15] und Autor des nationalrevolutionären Monatsmagazins Wir selbst. Brandt ist beteiligt an den internationalen wissenschaftlichen Beiräten der Zeitschriften Debatte. Review of contemporary German affairs und Iablis. Jahrbuch für europäische Prozesse. Er war Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung, Mitglied der Historischen Kommission beim SPD-Parteivorstand, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Stiftung Bibliothek des Ruhrgebiets. Er ist Mitglied des Vorstands der Friedrich-Ebert-Stiftung,[16] Mitglied des Kuratoriums der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung sowie im Beirat des Willy-Brandt-Archivs im Archiv der sozialen Demokratie,[17] Sprecher des Kuratoriums der Deutschen Gesellschaft, Gründungsmitglied des Kondylis-Instituts für Kulturanalyse und Alterationsforschung und stellvertretender Vorsitzender des Willy-Brandt-Kreises. Er ist Herausgeber des Onlinemagazins Globkult.[18] Er ist ein Unterstützer der linken Sammelbewegung „Aufstehen“.[19] Film Peter Brandt übernahm 1966 in der Verfilmung der Günter-Grass-Novelle Katz und Maus die Rolle des älteren Joachim Mahlke, sein jüngerer Bruder Lars Brandt übernahm die Rolle des jüngeren Mahlke. Regie, Produktion und Drehbuch verantwortete Hansjürgen Pohland.