top of page
AutorenbildWolfgang Lieberknecht

Naher Osten und Nordafrika: Der nächste Arabische Frühling kommt bestimmt


Mehr als zehn Jahre sind mittlerweile seit dem Arabischen Frühling vergangen. Aber immer noch weigert sich die arabische Welt, Lehren aus den Ereignissen zu ziehen, die zu einer stabileren und prosperierenden modernen Gesellschaft führen könnten. Was die Indikatoren für Freiheit und Wissen angeht, so bleiben die meisten arabischen Länder hinter dem Rest der Welt zurück. Dieser Rückstand und seine Folgen zeigen sich im beklagenswerten Entwicklungsniveau der Region. Als vor über einem Jahrzehnt die arabellischen Rebellionen ausbrachen, hofften viele Menschen auf mehr Pluralismus, mehr demokratisch legitimierte Regierungen und eine Gesellschaftsordnung, die von Rechtssicherheit anstatt von Einschüchterung oder Vetternwirtschaft geprägt ist. Damit verbanden sie die Hoffnung auf eine wirtschaftliche Entwicklung, die den Lebensstandard verbessern und überdies die Ursachen für Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und Inflation systematisch und nachhaltig beheben würde.

Verschließt die arabische Welt die Augen vor den kommenden Herausforderungen? Marwan Muasher fürchtet, dass die gesamte Region Gefahr läuft, in ihrer menschlichen Entwicklung zurückzufallen. Wenn die arabischen Länder zur menschlichen Entwicklung in anderen Ländern aufschließen wollen, müssen sie sich neu erfinden. Dazu gehört auch eine umfassende und integrierte Vision zur Bewältigung der spezifischen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen. Ein solcher Weg ist steinig: Weder halbherzige Reformen noch die Verklärung der Vergangenheit werden uns vor den Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft schützen. Wenn wir die Augen vor diesen Bedrohungen verschließen, steht zu befürchten, dass wir eine neue Welle arabischer Proteste erleben werden. Diese könnten weniger friedlich sein als in der Vergangenheit und sie könnten gravierende Folgen haben, die nicht unbedingt in unserem Interesse liegen.


Als vor über einem Jahrzehnt die arabellischen Rebellionen ausbrachen, hofften viele Menschen auf mehr Pluralismus, mehr demokratisch legitimierte Regierungen und eine Gesellschaftsordnung, die von Rechtssicherheit anstatt von Einschüchterung oder Vetternwirtschaft geprägt ist. Damit verbanden sie die Hoffnung auf eine wirtschaftliche Entwicklung, die den Lebensstandard verbessern und überdies die Ursachen für Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und Inflation systematisch und nachhaltig beheben würde.

Einige, so auch ich selbst, wiesen damals darauf hin, es könne noch Jahre dauern, bis es in der arabischen Welt einen echten Wandel gibt und aus den Protesten ein pluralistischer moderner Staat mit verlässlichen Institutionen hervorgeht. Bis vor kurzem schienen die Entwicklungen in Tunesien auf einen möglichen schnellen Erfolg hinzudeuten, also der Entstehung einer von der Zivilgesellschaft getragenen demokratischen Ordnung. Sie hätte die Kluft zwischen der arabischen Welt und anderen Teilen der Welt schließen können. Mehr als zehn Jahre sind mittlerweile seit dem Arabischen Frühling vergangen. Aber immer noch weigert sich die arabische Welt, Lehren aus den Ereignissen zu ziehen, die zu einer stabileren und prosperierenden modernen Gesellschaft führen könnten. Was die Indikatoren für Freiheit und Wissen angeht, so bleiben die meisten arabischen Länder hinter dem Rest der Welt zurück. Dieser Rückstand und seine Folgen zeigen sich im beklagenswerten Entwicklungsniveau der Region.

Bürgerkriege und dysfunktionale Regierungen Selbst ein Feind würde wenig Gefallen an dem finden, was er in der arabischen Welt sieht – geschweige denn ein Freund. Einigen arabischen Ländern droht das Schicksal gescheiterter Staaten: Im Inneren sind sie von Bürgerkriegen und dysfunktionalen Regierungen zerrissen. Fremde Akteure plündern ihre Ressourcen. Libanesinnen und Libanesen protestieren gegen ihre Regierung. Für Marwan Muasher ist der Libanon ein Beispiel für eine dysfunktionale Regierung, die es versäumt habe, die Vielfalt ihrer konstituierenden Akteure zu achten. "Trotz der vorhandenen menschlichen, finanziellen und natürlichen Ressourcen fehlt es an grundlegenden Standards der Regierungsführung bzw. an Achtung gegenüber der eigenen ethnischen, religiösen und gesellschaftlichen Vielfalt“. Die meisten dieser Staaten haben es versäumt, die Vielfalt ihrer konstituierenden Akteure zu achten. Paradebeispiele dafür sind der Libanon, Libyen, Jemen, Syrien und der Irak. Trotz der vorhandenen menschlichen, finanziellen und natürlichen Ressourcen fehlt es dort an grundlegenden Standards der Regierungsführung bzw. an Achtung gegenüber der eigenen ethnischen, religiösen und gesellschaftlichen Vielfalt.

Andere Staaten verfolgen ein autoritäres Modell, so wie es vor dem Arabischen Frühling in den meisten arabischen Ländern bestand. Auch heute noch sitzen die Autokraten fest im Sattel, trotz der zunehmend schlechteren wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen und sozialen Bedingungen in den von ihnen regierten Ländern.

Das autoritäre Modell lässt sich nur schwer verändern, da die Akteure angesichts ihrer Interessen stets den politisch bequemsten Weg wählen. Statt zu sinnvollen politischen und wirtschaftlichen Reformen führt ihr Weg in die Abhängigkeit von ausländischer Hilfe, zu Staatsverschuldung, indirekten Steuern und hoher Inflation. Ihre politischen Entscheidungen zielen grundsätzlich darauf ab, eigene Privilegien und ein überholtes Rentiersystem zu sichern.

Ägypten ist ein Beispiel für die Fortschreibung dieses Modells. Tunesien steht kurz davor, dem Club wieder beizutreten. Die Machthaber in Tunis werfen die demokratischen Errungenschaften der letzten Jahre über Bord und machen sich nicht einmal die Mühe, eine Wirtschaftsstrategie zur Lösung der Probleme des Landes zu entwickeln.

Ein paar Reförmchen zur Besänftigung Neben den beiden zuerst genannten Modellen gibt es ein drittes, das die meisten arabischen Monarchien anwenden. Hier werden kleine Reformen angeboten, die sich vornehmlich auf einige wenige wirtschaftliche und soziale Veränderungen konzentrieren. Sie besänftigen die Öffentlichkeit, wenn auch nur kurz. Für den Aufbau eines modernen Staates gibt es bisher keine umfassende Vision. Auch fehlt es an einer staatlichen Steuerung, die zwischen einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung durch Steigerung der Produktivität und dem Rentierkapitalismus unterscheidet und hier einen Interessenausgleich findet. Selbstverständlich haben viele arabische Golfstaaten längst erkannt, dass sie nicht auf Dauer von fossilen Energien abhängig bleiben können, und unternehmen bereits große Anstrengungen in Richtung einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung. Dabei ignorieren sie allerdings die Tatsache, dass parallel dazu auch politische Reformen notwendig sind. Die arabische Welt steht vor Herausforderungen, die auf tiefliegende Probleme zurückzuführen sind und durch jahrzehntelange schlechte Regierungsführung noch verschärft wurden. Überdies gibt es neue Probleme, mit denen die Region konfrontiert ist. Neben den Verwerfungen seit dem Arabischen Frühling und dem Verfall der Ölpreise sind dies die Corona-Pandemie und der russische Überfall auf die Ukraine. "Ohne in Schwarzmalerei verfallen zu wollen: Wir können es uns nicht leisten, die Dinge einfach laufen zu lassen, ohne ernsthafte Konsequenzen zu riskieren,“ schreibt Marwan Muasher. "Es ist unsere Pflicht – als Bürger und als Araber –, uns immer wieder gegen die Fortsetzung des gegenwärtigen Zustands zu stemmen.“

Zwar werden die letztgenannten Herausforderungen nicht von Dauer sein, aber die damit einhergehenden Probleme wie Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und Inflation machen die Aufgaben für die Zukunft insgesamt sehr viel schwieriger. Das politische Instrumentarium von gestern taugt nicht mehr Eine weitere Herkulesaufgabe, die in der Region bislang geflissentlich ausgeblendet wurde, ist der Klimawandel. Steigende Temperaturen bewirken eine stärkere Wasserverdunstung, senken den Grundwasserspiegel und lassen die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen schrumpfen. Ein Beispiel dafür, welche Auswirkungen der Klimawandel auf die Beziehungen zwischen Ländern haben kann, ist der festgefahrene Konflikt, insbesondere mit dem flussabwärts gelegenen Ägypten, um den von Äthiopien errichteten Grand Renaissance Dam. Außerdem kommt noch die Flüchtlingskrise dazu. Die arabische Welt beherbergt derzeit mehr als die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit und steht selbst im Zentrum dieser Flüchtlingskrise. Abgesehen von den Auswirkungen auf die ethnische Zusammensetzung der Aufnahmeländer hat diese Krise auch humanitäre, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Folgen.

Wir leben heute in einer Region, die von Krisen heimgesucht wird. Viele dieser Krisen sind unvorhersehbar und haben globale Auswirkungen. Das politische Instrumentarium von gestern taugt nicht dazu, sie heute zu bewältigen – weder in der arabischen Welt noch anderswo. Aber: Taugte es denn jemals dazu, die Herausforderungen der Zeit zu bewältigen?

Ohne in Schwarzmalerei verfallen zu wollen: Wir können es uns nicht leisten, die Dinge einfach laufen zu lassen, ohne ernsthafte Konsequenzen zu riskieren. Es ist unsere Pflicht – als Bürger und als Araber –, uns immer wieder gegen die Fortsetzung des gegenwärtigen Zustands zu stemmen.

Wenn die arabischen Länder zur menschlichen Entwicklung in anderen Ländern aufschließen wollen, müssen sie sich neu erfinden. Dazu gehört auch eine umfassende und integrierte Vision zur Bewältigung der spezifischen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen. Ein solcher Weg ist steinig: Weder halbherzige Reformen noch die Verklärung der Vergangenheit werden uns vor den Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft schützen. Wenn wir die Augen vor diesen Bedrohungen verschließen, steht zu befürchten, dass wir eine neue Welle arabischer Proteste erleben werden. Diese könnten weniger friedlich sein als in der Vergangenheit und sie könnten gravierende Folgen haben, die nicht unbedingt in unserem Interesse liegen. Marwan Muasher © Qantara.de 2023 Übersetzt aus dem Arabischen ins Englische von Chris Somes-Charlton / Deutsche Übersetzung: Peter Lammers


3 Ansichten0 Kommentare

Comments


bottom of page