Die Amerikaner haben in den 1990er-Jahren eine Sicherheitsdoktrin entwickelt, die gesagt hat: Nirgendwo auf der Welt darf es eine Macht geben, die stärker ist als wir; wir wollen überall die Nummer eins sein. Der Wiederaufstieg Russlands zu einem globalen Rivalen musste verhindert werden. Hinzu kommt, dass man in Washington sehr misstrauisch ist, wenn Deutsche und Russen sich verständigen. Der frühere EU-Kommissar und Sozialdemokrat, Günter Verheugen, erzählt von einer Zeit, in der es Dialog und Kooperation mit Russland gab. Fast wäre ein eigenständiges Europa gelungen. (Auszüge aus der Berliner Zeitung): Heute stehen wir vor einem Scherbenhaufen. Die USA waren gegen ein eigenständiges Europa und haben bei Deutschlands Nachbarn Angst geschürt, dass von Deutschland wieder Krieg ausgehen könne. Ich vermisse die schonungslose Auseinandersetzung mit der Vorgeschichte (des Krieges in der Ukraine, WL). Ich bin überzeugt, dass im Jahr 2008 mit dem Angebot an die Ukraine, Nato-Mitglied zu werden, willentlich und wissentlich eine Linie überschritten wurde, und dass dies für Russland wegen seiner Sicherheitsinteressen nicht hinnehmbar war. Obama hat Russland als eine Regionalmacht verspottet. Die EU hat den Beitritt der Ukraine vorangetrieben, ohne mit dem Nachbarn Russland zu reden.
(..) Die Franzosen haben immer versucht, den Deutschen klarzumachen, dass es ein autonomes, in eigener Verantwortung handelndes Europa braucht. Unmittelbar nach der Wende, nach dem Zerfall der Sowjetunion, gab es eine kurze Phase, in der ein eigenständiges Europa möglich gewesen wäre. Das drückte sich in der Charta von Paris aus, Gorbatschow sprach vom gemeinsamen europäischen Haus. Da hat man den Schritt nicht getan, sich von den USA zu emanzipieren, weil das die Nato in ihren Grundlagen verändert hätte. Ich war nie der Meinung, dass man die Nato aufgeben müsse. Aber ich habe mir damals vorgestellt, die Nato könnte ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem in einem politischen Bündnis mit den USA und Kanada werden, eine Art OSZE plus. Damals wurde auch ernsthaft erwogen, auch in den USA, Russland die Mitgliedschaft in der Nato anzubieten. (..)
Wer wollte das in den USA?
Die Clinton-Administration hat ernsthaft darüber nachgedacht. Sie hat das fallengelassen, weil die USA ihre dominante Rolle in Europa nicht aufgeben wollten. Heute sind all die schönen Reden über die Autonomie Europas das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt werden. Für einen großen Teil der neuen EU-Mitglieder ist die von den USA garantierte Sicherheit wichtiger als ein eigenständiges europäisches Handeln. Der nukleare Schirm ist der springende Punkt. Wir haben uns in der EU bequem eingerichtet, weil wir die eigene territoriale Verteidigung nicht mehr für nötig hielten. Heute stehen wir vor dem Scherbenhaufen – nicht nur in Deutschland.
Wurde die Idee eines eigenständigen Europas jemals ernsthaft diskutiert?
Selbstverständlich. Vaclav Havel war ursprünglich ganz entschieden dafür. Er sagte: Wir brauchen dieses gemeinsame Haus Europa, also eine umfassende Zusammenarbeit auf allen Ebenen. Aber die Amerikaner haben ihm gesagt: Junge, das meinst du doch nicht ernst? Willst du die Deutschen in einer Lage haben, wo sie machen können, was sie wollen? In der Nato haben wir sie unter Kontrolle.
Welche Befürchtungen hatten die Amerikaner? Deutschland war nach 1945 in der Westbindung, welche Gefahr hätte von den Deutschen ausgehen sollen?
Täuschen Sie sich nicht! Wir Deutschen neigen dazu, das zu glauben. Aber wenn Sie die Amerikaner und unsere Nachbarn gut kennen, dann wissen Sie, dass das nur der Firnis ist. Darunter steckt ein tiefes Misstrauen, dass von den Deutschen wieder ein Krieg ausgehen könnte. Ich glaube, unser Land zu kennen und bin überzeugt, dass kaum ein Land so weit davon entfernt ist, einen Krieg anfangen zu wollen. Aber ich weiß, dass diese Angst in vielen anderen Ländern real existiert.
Haben die deutschen Politiker die deutsche Friedfertigkeit so schlecht kommuniziert?
Das ist keine Frage unserer Kommunikation, sondern eine Frage der historischen Erfahrung unserer Opfer. Wir sind jetzt fast 80 Jahre nach Kriegsende und Polen beginnt eine Debatte über Reparationszahlungen.
Woran liegt das – am Populismus oder sind die Wunden so tief?
Ich glaube, die Wunden sind so tief. Das gilt für Polen, die Ukraine, Belarus, Russland und die anderen Länder der früheren Sowjetunion – es gibt keine Familie, die nicht Menschen verloren hat. Das sind die Länder, die die größten Opfer bringen mussten, das verschwindet nicht innerhalb weniger Generationen.
(..)
Ich vermisse die schonungslose Auseinandersetzung mit der Vorgeschichte (des Krieges in der Ukraine, WL). Ich bin überzeugt, dass im Jahr 2008 mit dem Angebot an die Ukraine, Nato-Mitglied zu werden, willentlich und wissentlich eine Linie überschritten wurde, und dass dies für Russland wegen seiner Sicherheitsinteressen nicht hinnehmbar war. Obama hat Russland als eine Regionalmacht verspottet. Die EU hat den Beitritt der Ukraine vorangetrieben, ohne mit dem Nachbarn Russland zu reden. Russen und Ukrainer haben aber vielfache kulturelle, wirtschaftliche und soziale Bindungen. Bei der Ost-Erweiterung der EU haben wir Russland kein Mitspracherecht eingeräumt, aber es gab Themen, die wir mit den Russen besprechen mussten – die Frage der russischen Minderheiten in den baltischen Staaten, Kaliningrad – natürlich haben wir mit den Russen darüber geredet, und zwar mit Erfolg. Die Vereinbarungen mit Russland, die wir geschlossen haben, haben alle gehalten.
Was ist denn von der Bereitschaft der Amerikaner, die Russen in die Nato zu holen, bis zum Fiasko mit dem EU-Beitritt der Ukraine passiert, dass sich alles so gedreht hat?
Es gab kein einzelnes Ereignis. Aber die Amerikaner haben in den 1990er-Jahren eine Sicherheitsdoktrin entwickelt, die gesagt hat: Nirgendwo auf der Welt darf es eine Macht geben, die stärker ist als wir; wir wollen überall die Nummer eins sein. Der Wiederaufstieg Russlands zu einem globalen Rivalen musste verhindert werden. Hinzu kommt, dass man in Washington sehr misstrauisch ist, wenn Deutsche und Russen sich verständigen.
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