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Michael Müller, Peter Brandt, Reiner Braun: Krieg bis zur Erschöpfung? Das 2.Jahr des Krieges in der Ukraine ist vorbei. Wir vermissen nennenswerte Bemühungen um Waffenstillstand&Friedensverhandlungen

Autorenbild: Wolfgang LieberknechtWolfgang Lieberknecht

Am 23. Februar 2022 begann der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Seitdem ist er zu einem blutigen Stellungs- und zermürbenden Abnutzungskrieg geworden. Die Ukraine verfügt über effiziente militärische Abwehrsysteme, Russland hat eingenommene Regionen im Osten und Süden stark befestigt. Die wechselseitigen Vorstöße haben sich bislang nicht entscheidend auf das Kriegsgeschehen ausgewirkt. Aber Moskau scheint der Umstieg auf eine Kriegswirtschaft gelungen zu sein, während die Ukraine Probleme mit Nachschub und Munition hat.


Ukrainische Soldaten sind am Ende ihrer Kräfte. Der Krieg hat eigene inhumane Gesetze. Eine Ablösung oder längere Pause werden nicht genehmigt, denn das Land hat immer größere Schwierigkeiten, Soldaten zu rekrutieren. Bei denen, die seit Frühjahr 2022 an der Front kämpfen, wächst die Wut über Korruption und Ungleichheit. Hunderttausende wehrfähiger Männer haben sich ins Ausland abgesetzt, fast 200.000 von ihnen nach Deutschland. Ältere Männer werden zunehmend eingezogen.


Vieles spricht dafür, dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen kann. Das haben die zwei weitgehend verpufften Offensiven im Frühjahr und Sommer 2023 gezeigt. Die Zahl der toten und schwerverletzten Soldaten und Soldatinnen ist grausam angestiegen – an manchen Tagen werden bis zu 1.000 getötet. Im Interesse des geschundenen Landes ist es dringend geboten, zu Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zu kommen. Ein Weg dahin kann eine diplomatische Initiative von Deutschland, Frankreich und Spanien sein, um auf Vermittlung Brasiliens, Chinas, Indiens oder Südafrikas, die als BRICS-Staaten eine deutlich

höhere Chance haben, Einfluss auf Moskau zu nehmen, zu Verhandlungen mit den Kriegsparteien zu kommen.


Der amerikanische Generalstabchef Mike Milley sah bereits im November 2022 eine „militärische Lösung für die ukrainische Armee als unwahrscheinlich“. Er riet zu Verhandlungen mit Russland. US-Präsident Joe Biden, der darauf vertraut, mit Hilfe westlicher Waffen einen Sieg Russlands zu verhindern, lehnte den Vorschlag ab. Doch ein Game-Change ist nicht realistisch. Die Gefahr nimmt zu, dass Nato-Länder durch massive Waffenlieferungen immer tiefer in den Krieg hineingezogen werden. Deshalb können sie auch keine direkte Vermittlerrolle mehr einnehmen.


Die Ukraine ist kriegsmüde. Die Kampfhandlungen bedeuten immer mehr Elend und Zerstörung, Tote und Verwundete. Kriege haben, wie es bei Clausewitz heißt, „keine Grenzen in sich“. Die Gefahr einer Eskalation ist real, solange es nicht bestenfalls zu Friedensverhandlungen oder schlimmstenfalls zur totalen Erschöpfung der Ukraine kommt.


Russland verfügt über hohe Mobilisierungsreserven und eine Luftüberlegenheit. Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj steckt in dem Dilemma, dass die USA, der wichtigste Waffenlieferant, durch den Präsidentschaftswahlkampf gelähmt sind. Selenskyj verstärkt deshalb seine Bemühungen, mehr Waffen aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien zu bekommen. Aber das Blatt kann sich schnell wenden:


1. Selenskyj kündigte im Dezember 2023 und auf der Münchner Sicherheitskonferenz

eine erneute Großoffensive in drei bis vier Monaten an. 500.000 Ukrainer sollen

zwangsrekrutiert werden. Militärexperten warnen, dass die Ukraine weder die

Menschen noch die Zeit hat, weder die Waffen noch die Munition. Die Gefahr

besteht, dass noch mehr Soldaten im Krieg verheizt werden. Nur wenn es schnell zu

Waffenstillstand und Friedensverhandlungen kommt, kann die Niederlage

vermieden. Werden.

2. Angesichts unzähliger getöteter, verletzter und traumatisierter Menschen formiert

sich in der Ukraine ziviler Widerstand gegen den Krieg. Die Sehnsucht nach Frieden

wird größer. Die Menschen erinnern sich an die verpassten Chancen der Minsker-

Vereinbarungen von 2014, die nach den russisch-ukrainischen Konflikten im Donbass

von Frankreichs Staatspräsident Francois Hollande und Bundeskanzlerin Angela

Merkel mit Russland und der Ukraine ausgehandelt wurden, um den Krieg in der

Ostukraine zu beenden und eine politische Beilegung zu erreichen. Merkel

behauptete später in der ZEIT, Hollande und sie hätten das Ziel gehabt, der Ukraine

Zeit für eine militärische Aufrüstung zu verschaffen. Tatsächlich begannen die USA in

dem Jahr mit Waffenlieferungen. Doch der russische und der ukrainische Präsident

haben die Verträge unterzeichnet.

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3. Die Menschen erinnern sich auch an die russisch-ukrainischen

Friedensverhandlungen, die in Istanbul stattfanden. Ende März 2022 sah der

Vorschlag eine russische Krim und „militärische Neutralität“ der Ukraine unter

internationaler Aufsicht vor. Selenskyj bezeichnete das Ergebnis zuerst als

„akzeptabel“. Nach Interventionen vom damaligen britischen Premier Boris Johnson

und von amerikanischer Seite sowie dem Versprechen vermehrter Waffenlieferungen

wurden die Verhandlungen abgebrochen. An dem Istanbuler Vorschlag könnte eine

Initiative für Waffenstillstand und Friedensverhandlungen anknüpfen.

4. Selenskyj kehrte von seinen letzten zwei Reisen nach Washington mit leeren Händen

zurück. US-Präsident Joe Biden ist angeschlagen. Der Schatten von Donald Trump, der

ein „America first“ predigt, wird immer länger. Trump will, wenn er erneut zum US-

Präsident gewählt werden sollte, die Waffenlieferungen in die Ukraine stoppen und

eine Verständigung mit Wladimir Putin suchen. Washington ist zudem der Gaza-Krieg

wichtiger als die Ukraine. Und global sehen die USA China als den neuen

Hauptgegner an, der wirtschaftlich, politisch und militärisch zum stärksten

Konkurrenten aufgestiegen ist.

5. Ein Rückzug der USA aus der bilateralen militärischen Unterstützung der Ukraine

würde die finanziellen Möglichkeiten der EU-Staaten überfordern, wenn sie deren

Anteil ausgleichen wollten. Die USA leisteten bis Oktober 2023 eine Militärhilfe von

43,8 Mrd. Euro. Rund Zweidrittel der amerikanischen Waffen wurden auf Kreditbasis

geliefert. Kredite, die mit EU-Geldern zurückgezahlt werden. An zweiter Stelle kam

Deutschland mit 17,5 Mrd. Euro. Zudem hat der Rüstungskonzern Rheinmetall

zusammen mit der Ukrainian Defense Industry in Kiew ein

Gemeinschaftsunternehmen gegründet, um die Panzer Fuchs, Lynx und Panther zu

bauen. Der Waffenexport ist nicht an diplomatische Initiativen gekoppelt. An dritter

Stelle lieferte Großbritannien Waffen in der Höhe von 6,5 Mrd. Euro. Alle anderen

Länder liegen mit einem deutlichem Abstand dahinter.

6. Nicht zuletzt nehmen im ukrainischen Militär Spannungen zu. Selenskyj feuerte im

Februar 2024 den Oberkommandierenden Walerij Saluschny, die beliebteste Person

in der Ukraine. Er hatte in Interviews von einer Pattsituation im Krieg gesprochen und

die Schwachstellen der ukrainischen Armee aufgezeigt. Auch der neu berufene

Armeechef Oleksands Syrsky zeigte sich skeptisch über die weitere Entwicklung. Nach

einer Inspektion der Region Charkiw erklärte er, die russischen Truppen könnten ihre

Anstrengungen verstärken und hätten eine zahlenmäßige Übermacht. Die

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Unzufriedenheit in der Armee wächst, wenn die Resignation nicht schon begonnen

hat.

7. Kiew wie Moskau geraten innenpolitisch unter Druck. In der Ukraine nehmen zu der

Unmut über die Regierung, die Wut auf die anhaltende Korruption, die Forderungen

der Soldatenfrauen nach einer „Demobilisierung“ und die Kontroversen in der

Armee. In Russland zeigt sich das an der Willkür des Kremls, den liberalen

Kriegsgegner Boris Nardeschin, der viel Zustimmung gefunden hat, nicht als

Präsidentschaftskandidat zuzulassen und an den Protesten von Familien der

Soldaten, vor allem der Frauen und Mütter.

Vor diesem Hintergrund kann sich schon bald die Entscheidung über die Zukunft des Krieges

nach Kiew verlagern. Die ukrainische Regierung sollte aktiv auf eine Friedenslösung

hinarbeiten, die an den Minsker Verträgen oder dem Verhandlungsergebnis von Istanbul

anknüpft. Die ukrainische Führung wird Zugeständnisse machen müssen, das Land kann

nicht Mitglied der Nato werden, stattdessen müssen internationale Sicherheitsgarantien

geschaffen werden. Derzeit tut Selenskyj alles, um an mehr Waffen zu kommen. Die Ukraine

hat das Recht auf Selbstverteidigung. Kiew muss aber für einen neuen Weg bereit sein.

Andernfalls wächst die Gefahr, dass die Nato-Länder noch stärker in den Krieg hineingezogen

werden und er sich ausweitet. Das ist das zentrale Dilemma des Krieges. Die New York Times

warnt, dass es zu einem Krieg mit der Nato kommen kann. Russland ist die größte

Atommacht der Welt.

Allerdings wird das Zeitfenster eng. Derzeit sind die russischen Truppen noch zu schwach,

um die Ukraine insgesamt einzunehmen. Aber Russland bestimmt die militärischen

Initiativen, hat die Eskalationsdynamik in der Hand und verfügt über eine Luftüberlegenheit.

Die besetzten Gebiete werden bereits russisch „konsolidiert“. Die nächsten Ziele könnten

sein Charkiw mit einer mehrheitlich russischsprachigen Bevölkerung und Odessa am

Schwarzen Meer. Russland geht es derzeit in erster Linie um die Kontrolle über die

Industrieregion Donbass und um den Zugang zum Schwarzen Meer, wo die militärisch

bedeutsame Schwarzmeerflotte stationiert bleiben soll. Doch selbst bei einem russischen

Sieg bleibe die Frage: Was nützt Moskau ein zerstörtes Land mit einer antirussisch

eingestellten Bevölkerung?

Waffenstillstand und Friedenslösung

In der „Minima Moralia“ schrieb Theodor W. Adorno: „Es gibt kein richtiges Leben im

Falschen.“ Krieg ist immer falsch, alle 21 Kriege und 216 militärischen

Auseinandersetzungen, die heute gezählt werden, sind falsch, natürlich auch der russische

Angriffskrieg. Es sind sechs Gründe, die eine schnelle Friedenslösung in der Ukraine

verlangen. Das ist das Gegenteil zu dem Nationalegoismus und dem geopolitischen

Machtpoker unserer Zeit.

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1. Das Töten stoppen. Das Wichtigste, was in der öffentlichen Debatte zu kurz kommt,

ist der Schutz des menschlichen Lebens. Es gibt keine größere Tragödie als die

Ermordung von Menschen und keine größere Ungerechtigkeit als das Töten von

Kindern. Nach Schätzungen sind in der Ukraine mindestens 500.000 Menschen

schwer verletzt oder ums Leben gekommen. Nur eine Friedenslösung kann das

„Ausbluten“ eines großen Teils der Bevölkerung verhindern. Die Ukraine braucht

Frieden, Armut und Zerstörung wachsen katastrophal. Kriege treffen in erster Linie

arme Schichten, auch in der russischen Armee stammen viele Soldaten aus armen

Regionen, aus Swerdlowsk, Tscheljabinsk, Burjatien oder Dagestan, wo der

Monatslohn im Schnitt bei nur 200 Euro liegt. Weltweit leiden als Folge des Krieges

nach UN-Angaben rund 1,7 Milliarden Menschen unter der drastischen Verteuerung

von Energie und Lebensmitteln.

2. Keine Militarisierung der internationalen Politik. Angefeuert durch den Krieg steigen

in Industriestaaten und großen Schwellenländern die Militärausgaben stark an. Sie

übersteigen mit 2,3 Billionen US-Dollar deutlich die Ausgaben von 1989, dem letzten

Jahr des Kalten Krieges. In 18 Nato-Staaten erreichen die Militärausgaben zwei und

mehr Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der Außenbeauftragte der EU Josep Borell

behauptet, unsere Zeit brauche die „Sprache der Macht“. Deutschland liegt in der

weltweiten Rangfolge an 6. Stelle. Auf die ersten zehn Länder entfallen fast 75

Prozent aller Militärausgaben, die USA weit an der Spitze. Viel zu viel Geld wird

verschwendet, das dringend für die soziale und ökologische Gestaltung der

Transformation gebraucht wird, ohne die erbitterte Verteilungskämpfe die Zukunft

bestimmen werden.

3. Wir brauchen Abrüstung und Rüstungskontrolle. Die Zeit von Abrüstung,

Rüstungsbegrenzung und Rüstungskontrolle ist vorbei. Das seit der Kuba-Krise

gewachsene militärische Kontroll- und Begrenzungsregime wurde aufgekündigt.

Notwendig ist eine Rückkehr zu den Verhandlungen zwischen den USA und Russland

in Genf und Wien. Und ebenso eine UN-Sonderkonferenz, um neue

Abrüstungsverhandlungen anzustoßen.

4. Atomgefahren müssen gestoppt werden. Heute verfügen neun Staaten über 12.512

Atomwaffen mit derzeit 9.578 einsatzbereiten Sprengköpfen. Nach dem

Friedensforschungsinstitut SIPRI haben Russland 5.889 und die USA 5.244

Atomwaffen, zusammen mehr als 90 Prozent des weltweiten Arsenals. Die USA allein

haben 2022 knapp 44 Milliarden Dollar für die Modernisierung und Erweiterung ihrer

Atomwaffen ausgegeben. Auch für die Entwicklung von Mini-Nukes, die die Schwelle

für den Einsatz von Nuklearwaffen senken könnten. SIPRI befürchtet, dass die Welt in

„eine der gefährlichsten Perioden der Menschheitsgeschichte driftet“. Statt den

Atomwaffensperrvertrag umzusetzen und den Atomwaffenverbotsvertrag zu

unterschreiben, wächst in verschiedenen Ländern das Bestreben, selbst

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Atombomben zu bauen oder zu einer atomaren Teilhabe zu kommen. Albert Einstein

hat Recht: „Die Atombombe hat die Welt verändert, aber nicht das Denken der

Menschen.“

5. Eine Weltinnenpolitik ist notwendig. Außer den Nato-Staaten beteiligen sich nur

wenige Länder an den Sanktionen gegen Russland. Die Unterschiede zwischen Nord

und Süd werden größer. Das bedeutet keine Zustimmung zum russischen

Angriffskrieg, aber eine Kritik am Westen, zu dem 11 Prozent der Weltbevölkerung

gehören, während auf die BRICS-Staaten und die Shanghai-Gruppe, die Sanktionen

ablehnen, fast 50 Prozent entfallen. Die Menschheit braucht eine Weltinnenpolitik,

die von der Leitidee der Gemeinsamkeit und Kooperation ausgeht: Gemeinsames

Überleben, gemeinsame Sicherheit, gemeinsame Zukunft. Mit den Möglichkeiten des

Industriezeitalters ist der Mensch zum stärksten Einflussfaktor auf das Erdsystem

geworden. Durch die Klimakrise, die sich schnell zuspitzen wird, ist ein Ende der

menschlichen Zivilisation denkbar geworden. Die Weltinnenpolitik muss deshalb alle

Länder einbeziehen, die Ukraine genauso wie Russland. Die 17 Nachhaltigkeitsziele

der UN von 2015 sollten dafür um ein 18. Ziel ergänzt werden: „Frieden“.

6. Ein starkes Europa. Eine friedliche Zukunft braucht ein gemeinsames, kein

gespaltenes Europa. Der Weg dahin weist die Charta von Paris für ein neues Europa

von 1990. Nur ein starkes und gemeinsames Europa kann in der Welt eine wichtige

Rolle spielen. Peter Bender nannte diese dritte Phase der Entspannungspolitik

„Europäisierung Europas“. Wir ignorieren nicht die Probleme mit und in Russland,

aber gerafe deshalb müssen Gemeinsame Sicherheit und Nachhaltigkeit ins Zentrum

der Politik rücken. Europa braucht eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur.

Meinungskonformismus

„Die ganze Kriegspropaganda, all das Geschrei, die Lügen und der Hass, kommt immer von

Leuten, die nicht kämpfen.“ (George Orwell). Tatsächlich verbreiten unzählige „Militär- und

Sicherheitsexperten“ in einer medialen Dauerpräsenz einen unseligen Konformismus,

während erfahrene Generäle wie Harald Kujat oder Erich Vad, die viel vorsichtiger und

differenzierter die Lage bewerten, kaum gefragt sind. Wer mehr Waffenlieferungen in die

Ukraine fordert, bestimmt die Meinungsbildung, wer für eine Friedenslösung eintritt, wird in

eine nationalegoistische Ecke geschoben.

Ausländische Kommentatoren sprechen davon, dass die Deutschen „Maß und Mitte“

verloren haben. Es fehlt der kritische Diskurs, Voraussetzung für eine lebendige Demokratie.

Schwarz oder weiß, das ist zu einfach. Der Ukraine-Krieg hat eine Geschichte, die komplex

und kompliziert ist. Politik und Medien bilden jedoch oftmals eine negative Allianz. Ein

Paradebeispiel sind Sendungen, in denen Vertreter einer Friedenslösung, von, wie Martin

Walser sie nannte, „Meinungssoldaten“ niedergemacht werden. Nach Erhebungen von

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Helmut Donat und Johannes Klotz vertraten in den Gesprächsrunden des Fernsehns im

ersten Kriegsjahr fast 90 Prozent der Teilnehmer eine „militärorientierte, auf Abschreckung

durch massive Aufrüstung zielende Meinung“. Kurz: Viel Empörung, wenig Analyse.

Welche Interessen die Militärexperten vertreten und was es bedeutet, wenn sie

Waffenlieferungen fordern, wird kaum hinterfragt. Immer häufiger vermischen sich

Teilanalysen mit Durchhalteparolen. Die meisten Militärexperten fordern von der

Bevölkerung ein „Wehr- und Kriegsbewusstsein“. Für Friedensverhandlungen sei Zeit, wenn

die „Ukraine erst siege“. Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik behauptet

eine „neue“ Konfliktordnung der Zukunft, die sich ständig „im“ oder gerade „noch nicht“ im

Kriege befinde.

Der frühere außenpolitische Sprecher der FDP Alexander Graf von Lambsdorff diffamierte

die Friedensbewegung als „5. Kolone Moskaus“. Politische Falken haben eine

„Dauerpräsenz“, besonders Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Michael Roth (SPD), Anton

Hofreiter (Die Grünen), Norbert Röttgen, Johann Wadephul und Roderich Kiesewetter (CDU)

oder Manfred Weber (CSU). Kiesewetter will nicht nur den Verteidigungsetat drastisch

erhöhen, er forderte in der Deutschen Welle eine Ausweitung des Krieges über die Ukraine

hinaus: „Der Krieg muss nach Russland getragen werden. Wir müssen alles tun, dass die

Ukraine in die Lage versetzt wird, nicht nur Ölraffinerien in Russland zu zerstören, sondern

auch Ministerien, Kommandostände, Gefechtsstände“. In der Ukraine hieß es:

„Bundestagsabgeordneter fordert vernichtende Schläge gegen die Russische Föderation.“

Kiesewetter löste auch heftige Reaktionen aus mit seiner Forderung, die Bundesregierung

solle Kiew bei den Rekrutierungsproblemen helfen und nach Deutschland geflohene

ukrainische Männer zurück an die Front schicken.

Derzeit wird der Konflikt an der von der CDU/CSU, aber auch von Abgeordneten der Ampel-

Koalition geforderten Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern deutlich. Bundeskanzler Olaf

Scholz hat sich trotz eines starken Drucks gegen die Lieferung ausgesprochen. Er befürchtet,

dass mit Taurus das Kriegsgeschehen eskaliert, denn die Marschflugkörper können unter

dem Radar fliegen und strategische Ziele wie Industrieanlagen, Flughäfen und Häfen

zerstören. Taurus ist nicht – wie im Bundestagsantrag der Union steht – gleichzusetzen mit

den gelieferten Storm Shadow und SCALP-Systemen. Sie haben eine Reichweite von rd. 500

Kilometern. Das ist mehr als doppelt so weit wie die britischen und französischen Systeme.

Wie eine vorgezogene Reaktion auf eine erneute Wahl von Donald Trump zum US-

Präsidenten mit der evtl. Folge eines Rückzugs amerikanischer Truppen aus Europa wird eine

Beteiligung Deutschlands an Atomwaffen gefordert. Die Diskussion bzw. das Geraune zieht

sich durch alle Bundestagsparteien. Der FDP-Verteidigungspolitiker Marcus Faber (FDP)

fordert ein dauerhaftes Hochfahren der Rüstungsproduktion in Deutschland. Man müsse

zeigen, dass Deutschland in kurzer Zeit auf eine „Kriegswirtschaft“ umstellen könne.

Wer anderer Meinung ist, sitzt schnell am Katzentisch der Gesprächsrunden. Der mediale

und politische Druck zur Lieferung von Waffen nimmt stetig zu. In vielen anderen westlichen

Ländern wird der Ukraine-Krieg viel differenzierter debattiert. In unserem Land werden

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selbst kritische Analysen der konservativen amerikanischen RAND-Cooperation, eines der

bedeutendsten amerikanischen Think Tanks, der auch die US-Regierung berät, vom Tisch

gewischt.

Nach zwei Jahren Krieg wächst die Zahl der Menschen, die ein Ende des Krieges wollen, auch

im Interesse der schwer verletzen und geschundenen Ukraine. Deshalb sollten Deutschland,

Frankreich und Spanien einen Friedensplan entwickeln, der mit Vermittlung der BRICS-

Staaten, die eine wichtige Rolle in den Interessen Moskaus einnehmen, mit beiden

Kriegsparteien verhandelt wird, ganz im Sinne von Helmut Schmidt: „Es ist besser 1000

Stunden zu verhandeln als eine Minute zu schießen.“

Das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit ist nicht obsolet. Staaten können sich nur dann

sicher fühlen, wenn sich auch ihr Gegenüber sicher fühlt. Wir brauchen Gemeinsame

Sicherheit, nicht nur um Kriege zu verhindern, sondern auch um die großen

Zukunftsgefahren unserer „ungleichen, überbevölkerten, verschmutzten und störanfälligen

Welt“ zu bewältigen.



Die Autoren:

Michael Müller ist Bundesvorsitzender der NaturFreunde und war Parlamentarischer Staatssekretär im

Bundesumweltministerium; Prof. Dr. Peter Brandt ist Historiker und Sprecher von „Entspannungspolitik jetzt!“;

Reiner Braun war Co-Vorsitzender des International Peace Bureau



Selbstvernichtung oder Gemeinsame Sicherheit?

Neues Buch von Michael Müller, Peter Brandt und Reiner Braun zu Ukraine-Krieg und Klimakrise erschienen

©

Westend Verlag

27.09.2022 |

Zum Antikriegstag am 1. September hat die Friedensnobelpreisträger-Organisation IPPNW gefordert, den Ukrainekrieg durch Diplomatie zu beenden. Dieser Forderung schließen sich Michael Müller, Peter Brandt und Reiner Braun in ihrem neuen Buch an. Sie meinen: Statt einer Militarisierung der Welt braucht es eine europäische Initiative für Frieden.


Bibliografie


Michael Müller, Peter Brandt, Reiner Braun (Hrsg.): Selbstvernichtung oder Gemeinsame Sicherheit? Unser Jahrzehnt der Extreme: Ukraine-Krieg und Klimakrise; 144 Seiten; Westend Verlag, Frankfurt, 2019; ISBN/EAN: 9783864893896; 20 Euro.

In Zeiten des Krieges, der Hochrüstung, der Klimakrise, zunehmender Ressourcenknappheit und härter werdender sozialer Verteilungskämpfe sei Gemeinsame Sicherheit das Gebot der Vernunft, so die Autoren. Putins Krieg gegen die Ukraine habe eine Vorgeschichte, die nicht so einfach sei, wie sie in der öffentlichen Debatte dargestellt werde.

Der ursprünglich regionale Konflikt habe eine geostrategische Bedeutung erlangt, weil nicht die Sprache der Vernunft und Diplomatie gesprochen werde, sondern die des Militärs. Deshalb lautet das Plädoyer der Autoren: Es braucht mehr denn je ein starkes und effizientes multilaterales System für Frieden und Abrüstung. Die europäische Selbstbehauptung verlange Gemeinsame Sicherheit, die entscheidende Weichen für die künftige Weltordnung stelle. Sie werde auch zur Überlebensfrage in der globalen Klimakrise, andernfalls drohten erbitterte Verteilungskämpfe und neue Kriege.

Über den AutorMichael Müller, geb. 1948, ist Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands. Er war von 1983 bis 2009 Mitglied des Bundestages, in der Zeit umweltpolitischer Sprecher, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium. Müller ist seit Jahren in der Friedensbewegung aktiv und engagiert sich bei "Abrüsten statt Aufrüsten".

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