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Kann Hass, Angst und Misstrauen noch überwunden werden angesichts der neuen Gewalteskalation

Israels Regierung die die Palästinenser setzen darauf, mit einer Zermürbungsstrategie zu gewinnen. Das wird noch zu vielen Toten und vielen Eskalationen führen. Wie kann eine wirkliche an gleichen Rechten für alle Menschen orientierte internationale Gemeinschaft den beiden Bevölkerungsgruppen helfen, aus der Sackgasse herauszukommen? Das sollte uns beschäftigen!


Auszüge aus der Neuen Züricher Zeitung: Die neue Eskalation im Nahostkonflikt wäre eine Chance für alle Beteiligten, sich zu besinnen. Doch dafür ist es wohl zu spät. Der Hass, die Angst und das Misstrauen sind auf beiden Seiten grösser als der Glaube an eine friedliche Koexistenz.

Kann es jemals zu spät für Frieden sein? Nein, denkt der aufgeklärte Humanist. Schließlich scheint nichts unvernünftiger und lebensfeindlicher zu sein als Krieg. Doch wer sich die Bilder der vergangenen Tage aus dem Heiligen Land und insbesondere aus Ostjerusalem anschaut, muss zu einem anderen Schluss kommen.


Entzündet hat sich die jüngste Eskalation im Nahostkonflikt unter anderem an Zwangsräumungen palästinensischer Häuser im Jerusalemer Stadtviertel Sheikh Jarrah. Jüdische Siedlergruppen versuchen seit Jahren, den Grundbesitz der dort lebenden palästinensischen Familien durch lange Gerichtsverfahren zu erstreiten.

Die jetzigen Bewohner wurden 1948 im israelisch-arabischen Krieg aus Westjerusalem und anderen Städten in das bis 1967 von Jordanien kontrollierte Ostjerusalem vertrieben. Die Siedler machen geltend, dass sich die Häuser in Sheikh Jarrah vor 1948 in jüdischem Besitz befunden hätten. Doch während es Juden gesetzlich erlaubt ist, ihr vor 1948 verlorenes Grundeigentum zurückzufordern, haben palästinensische Flüchtlinge umgekehrt kein solches Recht, die Rückgabe ihrer ehemaligen Häuser zu beanspruchen.

Gleichzeitig verhehlen die Siedler nicht, dass Sheikh Jarrah für sie nur eine Schlacht in einem größeren Kampf ist. «Wir übernehmen ein Haus nach dem anderen. Unsere Arbeit ist nicht erledigt. Nach diesem Stadtviertel gehen wir in das nächste», erklärte Yonatan Yosef, ein Sprecher einer Siedlergruppe in Sheikh Jarrah. «Unser Traum ist es, dass ganz Ostjerusalem wie Westjerusalem wird. Die jüdische Hauptstadt von Israel.» Dass dies auf Kosten der Palästinenser geht, ist für Yosef kein Problem: «Unser Staat wurde auch auf Kosten der Araber geschaffen, die hier lebten.»

Machtdemonstration auf dem Tempelberg

Ähnlich unversöhnlich tönt es von der palästinensischen Seite: «Sie haben kein Recht auf unsere Häuser. Weder hier noch in ganz Palästina, von Jaffa bis Haifa. Das ist historisches arabisches Land», sagte Um Samir Abdellatif, deren Familie in Sheikh Jarrah die Zwangsräumung droht, gegenüber einer Reporterin. «Israel ist kein wirklicher Staat. Seine Stärke hängt von seinen unterdrückerischen Verbündeten ab. Wir werden das Land befreien, mit friedlichen, kriegerischen und allen möglichen Mitteln.»


Sheikh Jarrah ist in den vergangenen Wochen zum Symbol des palästinensischen Widerstands geworden. Gleichzeitig entzündete sich der jüngste Konflikt während des muslimischen Fastenmonats Ramadan aber auch an einer Massnahme der Jerusalemer Polizei. Diese sperrte die halbrunde Treppe vor dem Damaskustor ab, dem Haupteingang zur Altstadt und zur Al-Aksa-Moschee, wo sich die palästinensische Familien gerne abends nach dem Fastenbrechen treffen. In der Folge kam es vor dem Damaskustor zu anhaltenden Demonstrationen und Zusammenstössen mit der Polizei, aber auch mit ultrarechten Juden, die offen zur Vertreibung und teilweise auch zur Ermordung der Palästinenser aufriefen.


Dies alles gipfelte vor einer Woche in der Erstürmung der Al-Aksa-Moschee durch die israelische Polizei, in einer für die Muslime heiligen Nacht. Im Vergleich mit dieser gewaltsamen Machtdemonstration mit über 200 Verletzten wirkt der «Spaziergang» des früheren israelischen Oppositionsführers Ariel Sharon auf den Tempelberg im September 2000 geradezu harmlos. Diese Geste reichte damals bereits, um die zweite Intifada zu provozieren. Und so erstaunt es nicht, dass der Polizeieinsatz in den Gebetsräumen der Al-Aksa-Moschee zur grössten Gewalteskalation seit dem Gazakrieg im Sommer 2014 führte.


Palästinenser schüren israelische Ängste mit

Wie konnte es so weit kommen? Wenn es ein historisches Datum geben sollte, an dem der Glaube an eine friedliche Koexistenz durch eine Zweistaatenlösung mit zwei gleichberechtigten Nationen begraben wurde, dann wäre dies wohl der 4. November 1995. An diesem Tag wurde der israelische Ministerpräsident Yitzhak Rabin, der Architekt des Osloer Friedensabkommens, von einem ultrarechten Jurastudenten ermordet.


Die Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin, dem Architekten des Osloer Friedensabkommens, durch einen ultrarechten Jurastudenten


Dass es so weit gekommen ist, dafür tragen indes auch die Palästinenser eine Mitverantwortung. Immer wieder haben auch sie sich für die Gewalt entschieden, anstatt friedlich nach einer Lösung zu suchen. Aus Frustration über die ergebnislos verlaufenen Friedensverhandlungen in Camp David brachen die Palästinenser vor 21 Jahren die zweite Intifada vom Zaun. Mit ihren Terroranschlägen lösten sie in der israelischen Politik einen Rechtsruck aus.


Sechs Jahre später wählte eine Mehrheit der Palästinenser mit der islamistischen Hamas ausgerechnet jene Partei, die hauptsächlich für den Terror verantwortlich war. 2007 übernahm die Hamas im Gazastreifen gewaltsam die Herrschaft und bedroht seither von dort mit Raketen und neuerdings auch mit Drohnen die israelische Sicherheit. Dies war nur möglich, weil Israel zwei Jahre zuvor seine Sicherheitskräfte aus dem Gazastreifen abgezogen und die dortigen Siedlungen aufgegeben hatte.


Beide Seiten spielen auf Zeit

Die Palästinenser befanden sich gegenüber Israel fast immer in einer schwachen Position. Doch derart machtlos und alleingelassen wie heute schienen sie noch nie. Auch Trumps Amtsnachfolger Joe Biden scheint bis anhin kaum Interesse daran zu haben, wirklich Druck auf Israel auszuüben. Im Uno-Sicherheitsrat verhinderte Washington am Mittwoch eine gemeinsame Erklärung, die auch die israelische Siedlungspolitik kritisieren sollte.


Die jetzige Eskalation muss Israel dennoch nachdenklich stimmen. Trotz ihrer militärischen Unterlegenheit haben die Palästinenser das Land über Tage in einen Ausnahmezustand versetzt. Auch wenn sie Israel nicht besiegen können, hoffen sie, es zu zermürben. So aussichtslos ihre Lage scheint, zu einer Kapitulation sind die Palästinenser nicht bereit. Deshalb kann Israel ungeachtet seiner Übermacht einen Frieden nach eigenen Vorstellungen nicht einseitig erzwingen. Israel indes scheint sein Heil nicht in einer sofortigen Friedenslösung, sondern vielmehr in einer langfristigen, ebenso zermürbenden Siedlungspolitik zu suchen. Der jüngsten Eskalation werden deshalb noch viele weitere folgen.

https://www.nzz.ch/meinung/eskalation-der-gewalt-in-nahost-es-wird-nicht-die-letzte-sein-ld.1624967

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