In China hat heute jede/r genug zu essen und ist die größte Mittelschicht der Welt entstanden
Die Trauma der Kolonialzeit, die "100 Jahre der Erniedrigung", sind nicht vergessen: 1921 hatten Engländer, Franzosen und Japaner die Shanghai unter sich aufgeteilt in sogenannte Konzessionen. In diesen Bezirken galt ausländisches Recht, Chinesen wurden eher wie Bürger zweiter Klasse behandelt. Mit einer Kombination aus Wirtschafts- und Wohlstandswachstum, guter Gesundheitspolitik, quasireligiösem Führerkult und Hightech-Unterdrückungsmethoden geht das Überleben eines autoritären Systems länger, als viele im Westen geglaubt haben.

Auszüge aus dem Standard: Das kleine Haus, in dem vor 100 Jahren Mao Tse-tung mit zwölf Kadern die Kommunistische Partei Chinas gründete, liegt in Xintiandi, im Zentrum des alten kolonialen Schanghai. 1921 hatten Engländer, Franzosen und Japaner die Stadt unter sich aufgeteilt in sogenannte Konzessionen. In diesen Bezirken galt ausländisches Recht, Chinesen wurden eher wie Bürger zweiter Klasse behandelt. China hatte gerade ein dekadentes Kaiserhaus abgeschafft, und nun herrschten in dem Riesenreich Unruhen, Bürgerkrieg und Hungersnöte – eine traumatische Periode für hunderte Millionen Chinesen. China, so sagen Kader und Professoren, denkt in langen Linien. Die Schmach der Kolonialzeit, die "100 Jahre der Erniedrigung", sind nicht vergessen. Und so sei es das Verdienst der kommunistischen Partei, das Land wieder zu seiner historischen Stellung in der Weltgemeinschaft zurückgeführt zu haben.
Und welcher Bürger dieses Landes sollte es nicht so sehen? Der Lebensstandard in den Metropolen der Ostküste, in Peking, Schanghai, Shenzhen, kann sich heute mit dem des Westens messen. Wenn es um bargeldloses Bezahlen, Onlineshopping und Digitalisierung geht, ist China dem sogenannten Westen sogar um einiges voraus. 2020 hat China offiziell das Ende der Armut verkündet. In dem Land, das in seiner Geschichte die meisten Hungertoten der Welt verzeichnen musste, hat heute jeder genug zu essen. Gleichzeitig ist die größte Mittelschicht der Welt entstanden: neugierig, reiselustig und vor allem konsumfreudig. Die Kommunistische Partei, sie feiert sich zum Geburtstag – und sie demonstriert Härte. Ihr Chef, Xi Jinping, längst auch Chinas Staatschef, sagte am Donnerstag in Peking, das chinesische Volk werde ausländischen Kräften niemals erlauben, es zu "schikanieren, unterdrücken und unterjochen". Jeder, der es dennoch versuchen würde, wird sich auf einem Kollisionskurs mit einer großen Mauer aus Stahl finden, die 1,4 Milliarden Chinesen geschmiedet haben". In seiner über einstündigen Rede rief der Parteichef auch zur Modernisierung der Streitkräfte auf. Er wandte sich gegen "Unabhängigkeitskräfte" in dem von ihm als Teil der Volksrepublik betrachteten demokratischen Taiwan und rief zur "friedlichen Wiedervereinigung" mit der Insel auf. Es folgten harte Jahre – und erst dann, erst jüngst, der Aufbau der neuen chinesischen Mittelschicht. Für die Welt, besonders die USA und Europa, war diese Mittelschicht ein Segen: Die Millionen an neuen Konsumenten kauften amerikanische iPhones und deutsche Autos, und tranken jedes Jahr mehr französischen Rotwein. Da schien es doch nur noch eine Frage der Zeit, bis mit den westlichen Produkten und dem Lebensstil auch die Ideen von Freiheit, Marktwirtschaft und politischer Teilhabe in das Land Einzug halten würden.
"Wandel durch Handel" nannte man dieses Konzept, und vielleicht wäre es auch so gekommen, hätte nicht 2012 Xi Jinping die Macht übernommen. Tatsache ist, dass seit Mao niemand die Partei mehr geprägt hat als der amtierende Staatspräsident. Xi hat sich zum obersten Führer des Militärs gemacht und seine eigene Amtszeitbegrenzung abgeschafft: Vor ihm konnte ein chinesischer Präsident maximal zwei Perioden von jeweils fünf Jahren im Amt bleiben. Xi steht über jeder Kritik: Sein Leben, seine Gedanken, seine Taten – all dies ist in China 2021 sakrosankt: Personenkult ist das eine, absolute Härte gegen Andersdenkende das andere Element, das den hundertsten Geburtstag der kommunistischen Partei Chinas prägt.
Die Demokratiebewegung in Hongkong ist zerschlagen. Die Kommunistische Partei hat die vertraglich zugesicherte Autonomie der Stadt beendet und sich damit über den Willen von Millionen von Hongkongern und über internationale Vereinbarungen hinweggesetzt. An die permanente Überwachung haben sich die Chinesen längst gewöhnen müssen. Ein Heer von Zensoren achtet darauf, dass nichts Regierungskritisches im ohnehin schon zensierten chinesischen Internet veröffentlicht wird. Bald soll ein Social-Credit-System Punkte an brave Bürger verteilen. Den nicht so braven drohen Reise- und Kreditsperren, sprich Entzug der Bürgerrechte. Einem Hightech-Albtraum gleich ist die Provinz Xinjiang, Heimat der muslimischen Uiguren. Um die kulturelle Identität des Volkes zu brechen, hat Xi ein System von Lagern errichten lassen, in denen bis zu zwei Millionen Menschen für Monate Gehirnwäsche, Propaganda, Folter und Zwangssterilisierung ausgesetzt sind. Wer die Lager überlebt, findet sich in einem Freiluftgefängnis wieder, in dem Kameras mit Gesichtserkennungssoftware jeden Schritt überwachen. (Auch hier Vorsicht vor arroganter Verurteilung, wenn wir an die KZ zur Tötung der jüdischen Bevölkerung zur Schaffung einer ethnischen "deutschen" Volksgemeinschaft denken, den Ausrottungen oder Zwangs-Zivilisierung der Einheimischen selbst in westlichen Musterländern wie Australien, Schweden, Kanada, USA durch Europäer oder aus Europa kommende Siedler.)
Lange kann ein System, das so autoritär regiert, doch nicht überleben, denken sich viele im Westen oft. Doch die Feier zum 100. Geburtstag zeigt: Mit einer Kombination aus Wirtschaftswachstum, quasireligiösem Führerkult und Hightech-Unterdrückungsmethoden geht das länger, als man denkt. (Philipp Mattheis aus Schanghai, red, 1.7.2021)