In Chile ihres Landes beraubte und ausgegrenzte Indigene wird Präsidentin der Verfassungsversammlung
Die weißen europäischen Einwanderer nahmen den Mapuche ihr Land. Jetzt wählten die von den Chilen:innen eine Versammlung, die eine neue Verfassung ausarbeiten soll. An ihrer Spitze seht die Mapuche-Indigene Elisa Loncón. Sie stammt aus ärmsten Verhältnissen und hat sich zu einer weltweit anerkannten Wissenschaftlerin mit Studien an nationalen und internationalen Universitäten, zwei Doktortiteln und einer Professur an der Universität von Santiago hochgekämpft. Ihre Wahl ist ein starkes Symbol für den Aufbruch in neue Zeiten.

Unter Pinochet hatte Loncóns eigener Grossvater einst im Gefängnis gesessen, weil er für die Rückgabe von Mapuche-Land kämpfte. Nun forderte seine Enkeltochter stellvertretend für ihr Volk, dass die neue Verfassung ein plurinationales Chile nach dem Vorbild des Nachbarlandes Bolivien begründet. Elisa Loncón tritt ein die Rückgabe der traditionellen indigenen Territorien sowie eine Entschädigung für das Jahrhunderte währende Unrecht verlangt. 1883 wurde das Land durch das chilenische Militär erobert. Sie hatten es lange gegen die weißen Siedler verteidigt.
Loncóns Vorfahren kämpften damals gegen die Eroberer, mussten jedoch hinnehmen, dass die Mapuche schliesslich die Kontrolle über ihr einst 10 Millionen Hektaren grosses Territorium verloren. Den auf ihre Reduktionen zurückgeworfenen Indigenen blieben lediglich noch 500 000 Hektaren übrig. Auch in ihrem traditionellen Siedlungsgebiet südlich des Biobío-Flusses sind die Mapuche nicht ihr eigener Herr.
Bis heute führt ein Teil der Mapuche einen Untergrundkampf gegen die auf ihre Gebiete vorgerückten europäischen Siedler – viele von ihnen mit Schweizer und deutscher Herkunft – sowie gegen die Unternehmer aus dem Norden, die Wasserquellen privatisieren, die Gewässer leerfischen und das Gelände mit Pinien- und Eukalyptusplantagen für den Holzexport nach China überziehen. Der Protest fordert immer wieder Opfer auf beiden Seiten: von der Polizei erschossene Mapuche und von den Indigenen getötete Siedler, deren Farmen und Lastwagen sie abbrennen. Die Polizei und das Militär stützen sich in ihren Aktionen auf das aus Pinochets Zeiten stammende Anti-Terror-Gesetz.
Mit einer Millionen Angehörigen stellen die Mapuche die grösste Indigenengruppe dar. Die Hälfte von ihnen lebt in der Hauptstadt Santiago de Chile, wo sie sich meist mit Aushilfsjobs über Wasser halten. Dort, im europäischen, weissen Chile, hält man sie für faul. In der modernen, auf Effizienz gepolten Metropole belächelt man ihre bunten Trachten und ihre auf Mapugundun exerzierten Rituale. Oder betrachtet es gar als rückständiges Zeug. In den Schulen wird kaum Mapugundun, sondern meist nur Spanisch unterrichtet. Das führt zu einem kulturellen Bruch zwischen den älteren, in den Traditionen lebenden Mapuche und jüngeren, hispanisierten Mapuche. Viele Jugendliche schämen sich für ihre angeblich rückständige Kultur.
Der Konvent soll in den nächsten neun Monaten – verlängerbar notfalls um drei weitere Monate – eine neue Verfassung ausarbeiten. Und damit die unter dem Diktator Augusto Pinochet erlassene Verfassung ablösen, die einst Chiles Umbau in eine neoliberale Gesellschaft zementierte. Die Mapuche machen zehn bis fünfzehn Prozent der Bevölkerung aus. Sie könnten zu den grossen Gewinnern einer neuen Verfassung gehören, die das neoliberale Gesellschaftsmodell gegen einen sozialeren Staat mit pluri-ethnischem Charakter eintauscht.
Bei den weissen Eliten und besonders bei den Militärs schrillen angesichts solcher Forderungen die Alarmglocken. Die Anerkennung regionaler Sonderrechte war für sie bisher ein absolutes No-Go. Statt auf Plurinationalität setzten sie auf die Schaffung einer einheitlichen nationalen Identität, der «chilenidad». Irgendwann würden sich die Indigenen schon in «normale» Chilenen mit folkloristischem Hintergrund verwandeln, so die Hoffnung.
Da autonome und linke Vertreter im Verfassungskonvent die Mehrheit haben, könnten derartige Forderungen tatsächlich in die neue Verfassung aufgenommen werden. Allerdings ist es zweifelhaft, ob die Bevölkerung eine derartig verfasste Magna Charta annehmen wird. Rechte Wählergruppen waren den Wahlen zum Verfassungskonvent zwar ferngeblieben. Ein Verfassungsentwurf, der Chiles Gesellschaft radikal auf den Kopf stellen würde, dürfte sie jedoch zurück an die Urnen treiben.
Auszüge aus der NZZ: