Harald Kujat: Die europäischen Politiker haben nichts aus der Geschichte gelernt, denn aus dem Ukraine-Krieg könnte ein gesamteuropäischer Krieg entstehen.
- Wolfgang Lieberknecht
- 26. Juli 2024
- 20 Min. Lesezeit
Vor den Folgen einer weiteren Eskalation im Ukraine-Krieg warnt der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur und frühere Vorsitzende des NATO-Militärausschusses Harald Kujat seit Längerem. Im ersten Teil des Interviews äußert er sich zur Lage in der Ukraine ebenso wie den neuen NATO-Beschlüssen, den russischen Verhandlungsangeboten und der „Friedensmission“ von Ungarns Premier Viktor Orbán. Mit dem General a. D. sprach Éva Péli.
NachDenkSeiten: Sie warnen davor, dass der Krieg in der Ukraine zur „Ur-Katastrophe des 21. Jahrhunderts“ werden könnte. Warum?
Harald Kujat: Der Erste Weltkrieg wurde von George F. Kennan als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet, weil er bereits den Keim des Zweiten Weltkriegs und damit des Kalten Krieges in sich getragen habe. Gerade hat die NATO ihr 75-jähriges Bestehen gefeiert. In diesen Jahren hat sie einen entscheidenden Beitrag zur Unabhängigkeit, Freiheit und Sicherheit ihrer Mitgliedstaaten geleistet. Aber seit zweieinhalb Jahren ist wieder Krieg in Europa, und es hat den Anschein, als hätten die europäischen Politiker nichts aus der Geschichte gelernt, denn aus dem Ukraine-Krieg könnte ein gesamteuropäischer Krieg entstehen.
Auch ein großer Krieg zwischen den Weltmächten USA und China scheint nicht mehr ausgeschlossen zu sein. Das 21. Jahrhundert ist geprägt vom Aufstieg Chinas als wirtschaftliche und militärische Weltmacht und von der Rivalität der großen Mächte, den Vereinigten Staaten, Russland und China. Der Ukraine-Krieg hat Klarheit geschaffen, dass China der einzige Konkurrent der Vereinigten Staaten ist, der zunehmend über das wirtschaftliche, diplomatische, militärische und technologische Potenzial verfügt, die führende Macht der Welt zu werden.
Deshalb verfolgen die Vereinigten Staaten das Ziel, Russland, den zweiten geopolitischen Rivalen, politisch, wirtschaftlich und militärisch so weit zu schwächen, dass sie sich auf die Auseinandersetzung mit China konzentrieren können. Ein Blick in den US-amerikanischen Verteidigungshaushalt zeigt bereits die Ausrichtung auf eine Auseinandersetzung mit China. Um ihr strategisches Ziel zu erreichen, brauchen die Vereinigten Staaten einen engen Schulterschluss mit den europäischen NATO-Verbündeten. Die europäischen NATO-Staaten sollen gemeinsam mit Australien, Japan, Neuseeland und Südkorea ein indopazifisches Netzwerk von Partnern und Alliierten bilden und mit der gleichen Geschlossenheit wie in der Auseinandersetzung mit Russland in den Konflikt mit China eingebunden werden.
Im strategischen Konzept der NATO wird China als systemische Herausforderung für die euro-atlantische Sicherheit bezeichnet. Auf dem Jubiläumsgipfel der NATO in Washington vom 9. bis 11. Juli gingen die Staats- und Regierungschefs der Allianz einen Schritt weiter. Sie erklärten, China sei durch seine grenzenlose Partnerschaft und umfangreiche Unterstützung der russischen Verteidigungsindustrie zu einem entscheidenden Faktor für den Krieg Russlands gegen die Ukraine geworden. Dadurch sei die Bedrohung, die Russland für seine Nachbarn und die euro-atlantische Sicherheit darstellt, erhöht worden.
Der Indopazifik sei für die NATO wichtig, weil die Entwicklungen in dieser Region direkte Auswirkungen auf die euro-atlantische Sicherheit hätten. Die NATO geht damit auf einen Konfrontationskurs zu China. Wir Europäer müssen uns entscheiden, ob wir uns an einer künftigen militärischen Auseinandersetzung zwischen China und den Vereinigten Staaten beteiligen oder die Fähigkeit zur politischen, wirtschaftlichen und militärischen Selbstbehauptung stärken und zu einem unabhängigen Faktor internationaler Stabilität mit der Fähigkeit zur Konfliktverhütung und Konflikteindämmung werden wollen.
Wie schätzen Sie die aktuelle Lage im Ukraine-Krieg ein? Einige Experten sahen zum Jahresbeginn ein nahes Ende des Krieges. Das scheint aber bisher nicht erkennbar. Dagegen wird der Krieg anscheinend mit Hilfe neuer westlicher Waffenlieferungen weiter verlängert. Wie sehen Sie das?
Nach dem Scheitern der mit großen Erwartungen verbundenen ukrainischen Offensive 2023 ist die militärische Lage der Ukraine sehr kritisch geworden und wird jeden Tag schwieriger. Die ukrainischen Streitkräfte haben die Fähigkeit zu einer offensiven Landkriegführung weitgehend verloren. Sie sind deshalb auf Anraten der USA in die strategische Defensive gegangen, um die hohen personellen Verluste zu reduzieren und das noch von ihnen kontrollierte Territorium zu halten. Dadurch konnten sie bisher das Vorrücken der russischen Streitkräfte verlangsamen.
Allerdings ist die Ukraine gegenwärtig in drei für eine erfolgreiche Verteidigung wichtigen Bereichen äußerst verwundbar: in der Luftverteidigung, wegen des Mangels an Artilleriemunition und insbesondere aufgrund des großen Defizits an ausgebildeten Soldaten. Das ist besonders kritisch, weil die ukrainischen Verteidigungslinien an der 1.300 Kilometer langen Front überdehnt sind. Zudem sind die ukrainischen Soldaten erschöpft und zunehmend demoralisiert. Die Kriegsmüdigkeit der ukrainischen Bevölkerung wächst; sie will Frieden und verlangt eine diplomatische Lösung.
Die russischen Streitkräfte haben die Initiative übernommen und an mehreren Angriffsschwerpunkten ukrainisches Gebiet erobert. Seit dem 10. Mai haben die Russen im Raum Charkiw größere Geländegewinne erzielt. Das Ziel war zunächst offenbar, die ukrainischen Streitkräfte im Raum Charkiw zurückzudrängen, um den Abstand zur russischen Grenze zu vergrößern und den Beschuss der grenznahen russischen Stadt Belgorod zu unterbinden. Die Zivilbevölkerung von Belgorod ist mehrfach angegriffen worden, auch mit US-amerikanischen Streubomben.
Das taktisch geschickte russische Vorgehen bei der Eroberung von Awdijiwka und der chaotische Rückzug der ukrainischen Streitkräfte könnten exemplarisch für den weiteren Verlauf der Kampfhandlungen sein. Russland beabsichtigt jedoch offenbar nicht, einen großen Durchbruch zu erzielen, sondern zeigt, dass es in der Lage ist, an mehreren Angriffsschwerpunkten der Front unaufhaltsam vorzurücken und seine Geländegewinne auszubauen.
Die westlichen Waffenlieferungen stärken die ukrainische Fähigkeit zur Verteidigung für eine begrenzte Zeit. Wie lange die Verteidigung ohne weitere große Gebietsverluste fortgesetzt werden kann, hängt davon ab, ob die USA die Unterstützung während des US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs im erforderlichen Umfang aufrechterhalten. Waffen können jedoch die Defizite der wichtigsten Ressource, des Personals, nicht ausgleichen. Entscheidend ist deshalb, ob die Ukraine die erforderliche Zahl an Soldaten mobilisieren kann und mit welcher Intensität die russischen Streitkräfte die Kampfhandlungen fortsetzen.
Nun wird debattiert und angekündigt, westliche Soldaten als Ausbilder und Berater direkt zu den ukrainischen Einheiten an die Front zu schicken. Der ungarische Ministerpräsident Victor Orbán sagte kürzlich in einem Interview, dass die westlichen Einheiten bereits da sind. Die NATO will die Koordination der Waffenlieferungen und Ausbildung der ukrainischen Truppen übernehmen. Wie sehen Sie das?
Dass sich westliche militärische Berater in der Ukraine aufhalten, dürfte allgemein bekannt sein. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass sich seit Dezember letzten Jahres der US-amerikanische General Antonio Aguto mit einem Beraterteam in Kiew aufhält, um der militärischen Führung der Ukraine „über die Schulter zu schauen“. Aguto ist der Chef der in Wiesbaden stationierten „Security Assistance Group Ukraine“ der US-Armee, die Waffenlieferungen und die Ausbildung ukrainischer Soldaten koordiniert, die ukrainischen Streitkräfte bei der Operationsplanung unterstützt und sie mit Informationen versorgt. Sollten reguläre Kampftruppen aus NATO-Staaten Seite an Seite mit den ukrainischen Streitkräften im Einsatz sein, ließe sich das kaum geheimhalten. Wenn sich jedoch eine militärische Niederlage der Ukraine abzeichnet, wird es sicherlich Forderungen geben, den westlichen Waffen westliche Soldaten folgen zu lassen.
Diese Diskussion ist bereits von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron angestoßen worden. Macron hat wiederholt die Entsendung französischer Landstreitkräfte in die Ukraine thematisiert. Er erhielt dafür von einigen NATO-Staaten Zustimmung. Macron hat die Begründung für das Eingreifen westlicher Truppen mehrfach variiert. Zuletzt sagte er: „Wenn die Russen die Frontlinie durchbrechen sollten, wenn es eine ukrainische Bitte gibt – was bis heute nicht der Fall ist –, dann sollten wir uns die Frage berechtigterweise stellen.“
Inzwischen gibt es die Bitte der Ukraine, 150.000 Rekruten in unmittelbarer Nähe der Front auszubilden. Ich bin sicher, dass die ukrainische Regierung sich der Konsequenzen sehr bewusst ist, anders als einige NATO-Staaten, die offenbar dazu bereit sind. Angesichts des großen Risikos, dem die NATO-Ausbilder ausgesetzt wären, müssten Schutzmaßnahmen ergriffen werden – beispielsweise durch bodengestützte Luftverteidigung. Dadurch würde eine bisher eingehaltene rote Linie überschritten, denn die Soldaten könnten direkt in Kampfhandlungen mit Russland verwickelt werden.
Bisher lehnten die USA es kategorisch ab, US-Kampftruppen in die Ukraine zu verlegen, und forderten die Verbündeten auf, dies auch nicht zu tun. Aber der US-amerikanische Vorsitzende der „Joint Chiefs of Staff“, General Charles Q. Brown, erklärte, der Einsatz von NATO-Ausbildern sei unvermeidlich: „Mit der Zeit werden wir dort ankommen.“ Nicht nur der Bundeskanzler, auch der italienische und der ungarische Außenminister haben eine militärische Beteiligung ihrer Streitkräfte am Ukraine-Krieg ausgeschlossen. Innerhalb der Allianz wächst zudem die Zahl der Staaten, die nicht mit dem bisherigen Kurs einverstanden sind.
Ob sich deren Position durchsetzt, erscheint angesichts der aktuellen Entwicklung zweifelhaft. Es sieht eher danach aus, als könnte die NATO ähnliche Fehler begehen wie die USA, die zum Vietnamkrieg führten: Beginnend mit einem Beraterteam im Einsatzland, dem Ausbilder folgen, die in Kampfhandlungen verwickelt werden und Verluste erleiden, was den Anlass gibt, mit größeren Kampftruppen-Verbänden in den Krieg einzugreifen. Damit wäre eine Zerreißprobe für die Allianz vorprogrammiert. Sollte es tatsächlich so kommen, wäre die NATO am Ende nicht mehr das, was sie einmal war.
Herr Kujat, wie bewerten Sie die aktuellen Ereignisse wie die neuen Friedensvorschläge von Wladimir Putin, die Friedensmission des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán sowie den jüngsten NATO-Gipfel in Washington? Bringen diese Ereignisse Bewegung in Richtung Ende des Krieges in der Ukraine?
China hatte im Februar des vergangenen Jahres vorgeschlagen, Friedensverhandlungen ausgehend von dem in Istanbul erreichten Ergebnis aufzunehmen. Darauf ist Russlands Präsident Wladimir Putin eingegangen, indem er die Vereinbarungen von Minsk und Istanbul als Grundlage für Verhandlungen bezeichnete. Er hat die Ukraine aufgefordert, zuerst das Verbot aufzuheben, mit Russland zu verhandeln, und verlangt, was er als „Anerkennung der entstandenen Realitäten“ bezeichnet: den vollständigen Abzug der ukrainischen Truppen aus den von Russland annektierten Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson innerhalb der ehemaligen Verwaltungsgrenzen. Sobald sich die Ukraine dazu bereit erklärt und mit dem Abzug beginnt sowie offiziell notifiziert, dass sie ihre Pläne für einen NATO-Beitritt aufgibt, werde Russland die Kampfhandlungen einstellen und sei bereit, mit den Verhandlungen am nächsten Tag zu beginnen.
US-Präsident Joseph Biden hat immer wieder betont, dass nur die ukrainische Regierung entscheidet, ob, wann und unter welchen Bedingungen sie verhandelt. Putins Vorschlag wurde von den westlichen Unterstützerstaaten der Ukraine abgelehnt. Einer der ersten war der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der sagte, „dies ist kein Friedensvorschlag. Dies ist ein Vorschlag für mehr Aggression, mehr Besatzung.“ Damit erweckt er den fatalen Eindruck, dass er auf Putins Ankündigung als Betroffener reagiert, so als sei die NATO bereits direkt an diesem Krieg beteiligt.
Dass der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán sowohl mit Wolodymyr Selenskyj als auch mit Putin und Xi Jinping Möglichkeiten erörtert, den Krieg mit einem Waffenstillstand und einem Verhandlungsfrieden zu beenden, zeigt, dass er einen Weg aus der Sackgasse sucht, in die sich die Europäer durch ihr unrealistisches und strategieloses Agieren manövriert haben.
Anstatt sein Bemühen um europäische Handlungsfähigkeit zu unterstützen, wurde Orbán kritisiert, er habe kein Mandat beziehungsweise seine Gespräche seien nicht abgestimmt gewesen. Es entstand sogar eine öffentliche Erörterung darüber, ob und wie man Orbán die EU-Ratspräsidentschaft entziehen könne – ein bemerkenswertes Verhalten, wenn man bedenkt, dass die Europäische Union 2012 den Friedensnobelpreis erhalten hat, weil sie „aus einem Kontinent des Krieges einen Kontinent des Friedens gemacht“ habe.
Zuspruch erhielt Orbán dagegen vom slowakischen Ministerpräsidenten Fico: „Ich möchte dem ungarischen Ministerpräsidenten meine Bewunderung dafür aussprechen, dass er ohne zu zögern nach Kiew und nach Moskau gereist ist. Wenn mein Gesundheitszustand es zugelassen hätte, wäre ich gerne mitgekommen.“ Orbán schloss seine Friedensmission unmittelbar nach dem NATO-Gipfel mit einem Besuch bei Donald Trump ab und schrieb danach: „Wir haben über Wege gesprochen, Frieden zu schließen. Die gute Nachricht des Tages: Er wird es lösen.“ Trump bestätigte dies auf seiner Internetplattform: „Danke Viktor. Es muss Frieden geben, und zwar schnell.“
Der Schwerpunkt des Washingtoner NATO-Gipfels war erwartungsgemäß die Ukraine-Politik – allerdings nicht mit dem Ziel, einen Weg zu einem Ende der Kampfhandlungen und zu einem Verhandlungsfrieden zu finden. Es ging vielmehr um die weitere finanzielle und materielle Unterstützung mit dem erklärten Ziel eines militärischen Sieges der Ukraine sowie um deren Forderung nach einem NATO-Beitritt.
Beides sollte „Trump-sicher“ geregelt werden, deshalb wurde lange über die richtige Wortwahl diskutiert. Schließlich einigte man sich darauf, dass die Mitgliedstaaten die Ukraine auf ihrem irreversiblen Weg zu einer vollen euro-atlantischen Integration, einschließlich der NATO-Mitgliedschaft, unterstützen werden. Allerdings wurde auch betont, die NATO werde dann in der Lage sein, eine Einladung auszusprechen, wenn alle Alliierten zustimmen und alle Bedingungen erfüllt sind. Nicht alle NATO-Staaten sind bereit, eine Einladung auszusprechen.
Auch US-Präsident Biden hat noch am 4. Juni in einem Interview des Time-Magazins gesagt, die Ukraine werde nicht Teil der NATO; die USA würden ihre Beziehungen zur Ukraine wie zu anderen Staaten gestalten, denen sie Waffen liefern, damit sie sich verteidigen können. Er sei derjenige, der sagte, er sei nicht bereit, die „NATO-isierung“ der Ukraine zu unterstützen.
Zu den beschlossenen Maßnahmen gehört die Aufstellung einer NATO-Dienststelle für die Koordinierung der Unterstützung und der Ausbildung ukrainischer Soldaten neben dem weiter bestehenden US-Unterstützungskommando in Wiesbaden. Außerdem wurde ein Finanzpaket in Höhe von 40 Milliarden Euro für das nächste Jahr beschlossen. Angekündigt wurde zudem die Lieferung weiterer Luftverteidigungssysteme und das baldige Eintreffen der ersten F-16-Kampfflugzeuge.
Die NATO hat die historische Chance vertan, sich ähnlich wie 1967 aus Anlass des sogenannten Harmel-Berichts als euro-atlantischer Friedens- und Stabilitätsanker zu präsentieren. Der Harmel-Bericht zur Lage der Allianz in der Zeit der NATO-Strategie der „Massiven Vergeltung“ forderte, dass das Bündnis durch eine Politik der militärischen Sicherheit und Entspannung zu einem Faktor des dauerhaften Friedens wird.
Ein Ergebnis des NATO-Gipfels war die Vereinbarung zwischen der US-Regierung und der Bundesregierung, wieder „Tomahawk“-Marschflugkörper und andere US-Langstreckenwaffen in Deutschland zu stationieren. Das erinnert an die Situation in den 1980er-Jahren mit dem NATO-Doppelbeschluss und dem daraus folgenden INF-Vertrag, der genau diese Waffen aus Europa verbannte – und von den USA 2019 gekündigt wurde. Führt eine solche Vereinbarung uns noch näher an einen großen Krieg in Europa, und warum macht Berlin das mit?
Am 10. Juli wurde mit einer kurzen bilateralen Erklärung bekannt gegeben, dass die USA 2026 mit der zeitweisen Verlegung konventioneller weitreichender Systeme in Deutschland beginnen werden, die später dauerhaft stationiert werden sollen. Es handelt sich um eine Entscheidung der USA, SM-6-Raketen, „Tomahawk“-Marschflugkörper und später Hyperschall-Waffensysteme, die noch in der Entwicklung sind, in Deutschland zu stationieren. Vom Marschflugkörper „Tomahawk“ gibt es zahlreiche Varianten mit einer Reichweite bis zu 2.500 Kilometern. Die Reichweite der künftigen Hyperschall-Marschflugkörper wird voraussichtlich noch größer sein. Mit diesen Waffensystemen wird die sogenannte „2nd Multi-Domain Task Force“ ausgerüstet. Der Verband wird seit 2021 in Wiesbaden aufgestellt und soll 2026 voll einsatzbereit sein; weltweit werden fünf Verbände dieses Typs disloziert (Anm. Red.: verlagert).
Ob damit eine Fähigkeitslücke der NATO geschlossen wird oder ob es sich um eine nationale Komponente der US-Strategie handelt, muss sich noch erweisen. Jedenfalls ist eine Abschreckungswirkung eher zweifelhaft, denn Russland verfügt über ein breites Spektrum weitreichender, leistungsfähiger Hyperschall-Waffen und damit über die Eskalationsdominanz in diesem Fähigkeitssegment.
Der stellvertretende russische Außenminister Sergej Rjabkow erklärte, dass dieser Schritt von Russland erwartet wurde und bereits „kompensierende Gegenmaßnahmen“ entwickelt werden. Dies sei ein weiterer handfester Beweis für die extrem destabilisierende Politik der USA im Bereich des von ihnen einseitig gekündigten INF-Vertrages. Russland werde sein einseitiges Moratorium bezüglich der Stationierung von bodengestützten Mittelstrecken- und Kurzstreckenraketen sorgfältig überdenken, ebenso die potenziellen Maßnahmen.
Es ist wichtig zu verstehen, dass Russland den Aufbau eines eurostrategischen Angriffspotenzials der USA in Deutschland ebenso wie zuvor das NATO-Ballistic-Missile-Defence-System mit US-amerikanischen Aegis-Startrampen nicht als Verstärkung der Verteidigungsfähigkeit der NATO, sondern als eine nationale Maßnahme der USA betrachtet, durch die Stationierung in Europa einen geostrategischen Vorteil zu erlangen, um das russisch-amerikanische interkontinentalstrategische Gleichgewicht zum Nachteil Russlands zu verändern. Immerhin haben die beiden Verteidigungsminister telefoniert, um die gefährliche Eskalation unter Kontrolle zu halten.
Hier können Sie den zweiten Teil des Interviews nachlesen.
Vor den Folgen einer weiteren Eskalation im Ukraine-Krieg warnt der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur und frühere Vorsitzende des NATO-Militärausschusses Harald Kujat seit Längerem. Im zweiten Teil des Interviews äußert er sich unter anderem zur Gefahr eines dritten Weltkriegs, zu den Verhandlungen in Istanbul 2022 sowie zu den Ursachen des Konflikts. Zugleich wagt er einen Ausblick. Mit dem General a. D. sprach Éva Péli.Hier können Sie den ersten Teil des Interviews noch einmal nachlesen.
NachDenkSeiten: Gibt es einen westlichen Eskalationsplan, eine entsprechende Strategie, von Beginn an? Oder sind da „Schlafwandler“ am Werk, wie es der Historiker Christopher Clark für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg beschrieben hat?
Harald Kujat: Jede Strategie enthält Elemente der Eskalation, denn die Aktionen und Reaktionen des Gegners müssen vorbedacht werden. Der Verlauf des Ukraine-Krieges zeigt, dass die USA die Stärke der russischen Streitkräfte und deren Rekonstitutionsfähigkeit (Anm. Red.: die Fähigkeit der Wiederherstellung) unterschätzt haben. Deshalb musste immer wieder auf die sich verändernde Lage mit einer Steigerung der Unterstützungsmaßnahmen reagiert werden, um das geostrategische Ziel weiter verfolgen zu können. Die kritische Lage der Ukraine zwingt den Westen, die Eskalation durch immer leistungsfähigere Waffensysteme zu steigern. Er bewegt sich damit in einer Grauzone zwischen indirekter und direkter Kriegsbeteiligung. Dazu gehört beispielweise die Erlaubnis, US-amerikanische Waffensysteme gegen Ziele auf russischem Territorium einzusetzen, die Präsident Biden mehr als zwei Jahre verweigert hat, um, wie er es formulierte, „einen dritten Weltkrieg zu vermeiden“.
Nachdem er seine Meinung geändert hat, muss man wohl fragen, ob er nicht mehr besorgt ist, einen dritten Weltkrieg auszulösen, oder ob er angesichts der kritischen Lage der Ukraine bereit ist, dieses Risiko einzugehen. Auch die Bekämpfung russischer Raketen im ukrainischen Luftraum mit Kampfflugzeugen aus dem Luftraum von NATO-Nachbarstaaten ist eine erhebliche Steigerung der Eskalation. Demnächst können F-16-Kampfflugzeuge mit ihren weitreichenden Luft-Luft-Flugkörpern russische Flugzeuge bekämpfen, bevor diese aus über 70 Kilometern Entfernung zur ukrainischen Grenze Gleitbomben ausklinken. Auch die Ausbildung ukrainischer Soldaten in unmittelbarer Frontnähe, in Reichweite russischer Waffen, gehört dazu.
Diese und ähnliche Maßnahmen sind auch zusammen nicht geeignet, die militärische Lage zugunsten der Ukraine zu ändern, aber jede einzelne birgt das Risiko einer direkten Konfrontation mit Russland. Da der Ukraine-Krieg auf einen Scheitelpunkt zuläuft, verstärkt sich der Eindruck, dass Selenskyj bis zu einem Krieg zwischen Russland und der NATO eskalieren will, denn das ist für ihn der einzige Weg, eine katastrophale militärische Niederlage zu verhindern und als ukrainischer Präsident zu überleben.
Nicht nur der Bundeskanzler, auch der italienische, der ungarische Außenminister und Präsident Biden haben eine militärische Beteiligung ihrer Streitkräfte am Ukraine-Krieg ausgeschlossen. Der ungarische Ministerpräsident Orbán hat sogar festgestellt: „Was heute in Brüssel und Washington passiert – vielleicht mehr in Brüssel als in Washington –, ist eine Art Vorbereitungsstimmung für einen möglichen direkten militärischen Konflikt; wir können es getrost nennen: Vorbereitung Europas auf einen Krieg.“ Innerhalb der Allianz wächst allerdings die Zahl der Staaten, die nicht mit dem bisherigen Konfrontationskurs einverstanden sind. Jetzt hat auch der tschechische Präsident Petr Pavel, ein ehemaliger Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, seine Meinung geändert und Realismus statt Naivität gefordert sowie eine Verhandlungslösung in der Form eines Kompromisses vorgeschlagen.
Es gab 2022 frühzeitig Gespräche zwischen Kiew und Moskau über ein Ende der Kampfhandlungen, mit erstaunlicher Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten. Sie haben im Herbst 2023 gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Hajo Funke eine Analyse zu den Istanbuler Verhandlungen im März 2022 veröffentlicht. Jüngst gab es neue Veröffentlichungen dazu, die von einem möglichen Friedensvertrag im April 2022 sprechen. Warum und von wem wurde diese Friedenschance vertan?
Über diese Tatsache wurde die deutsche Öffentlichkeit lange Zeit nicht informiert. US-amerikanische Medien hatten dagegen schon sehr früh darüber berichtet, beispielsweise Anfang September 2022 die Fachzeitschrift Foreign Affairs: „Russische und ukrainische Unterhändler scheinen sich vorläufig auf die Umrisse einer verhandelten Übergangslösung geeinigt zu haben. Russland würde sich auf seine Position vom 23. Februar zurückziehen, als es einen Teil der Donbass-Region und die gesamte Krim kontrollierte. Im Gegenzug würde die Ukraine versprechen, keine NATO-Mitgliedschaft anzustreben und stattdessen Sicherheitsgarantien von einer Reihe von Ländern zu erhalten.“
Obwohl in den USA immer mehr Veröffentlichungen zu den Istanbuler Verhandlungen erscheinen, beispielsweise in Foreign Affairs vom 16. April 2024, wird die Bedeutung der Verhandlungen in Istanbul und die Chancen für ein Ende des Krieges bestritten. Am 15. Juni 2024 hat die New York Times jedoch unter dem Titel „Ukraine-Russia Peace Is as Elusive as Ever. But in 2022 They Were Talking“ („Der Frieden zwischen der Ukraine und Russland ist so schwer zu erreichen wie eh und je. Aber im Jahr 2022 haben sie geredet“) mit der Veröffentlichung der in den Verhandlungen angefertigten Dokumente den Verhandlungsfortschritt dargestellt. Aus dem Beitrag geht auch hervor, dass einige NATO-Staaten über den Verlauf der Verhandlungen informiert und im Besitz der Dokumente waren. Obwohl die Verhandlungen noch bis Mitte April andauerten, hat der damalige britische Premierminister Boris Johnson bei seinem Besuch in Kiew am 9. April nach Angaben der Online-Zeitung Ukrainska Pravda vom 5. Mai 2022 eine wesentliche Rolle beim Abbruch der Verhandlungen gespielt.
Auch in Deutschland sind sorgfältig recherchierte Dokumentationen veröffentlicht worden, die den Einfluss des Westens auf die Beendigung der Istanbuler Friedensverhandlungen belegen. Wer jedoch in Deutschland auf die Möglichkeit einer frühzeitigen Beendigung des Krieges hinweist, wird verleumdet, „Kreml-Narrative“ zu verbreiten. Selbst die Aussagen des ukrainischen Verhandlungsführers Dawyd Arachamija finden kein Gehör:
„Die Russen waren bereit, den Krieg zu beenden, wenn wir – wie einst Finnland – der Neutralität zugestimmt und uns verpflichtet hätten, der NATO nicht beizutreten.“ Und weiter: „Als wir aus Istanbul zurückkamen, kam Johnson nach Kiew und sagte, dass wir überhaupt nichts unterschreiben und einfach kämpfen sollten.“
Dies ist eine der schwerwiegenden Fehleinschätzungen, die dem Westen unter der Führung der USA unterlaufen sind. Die wirtschaftlichen Konsequenzen für Europa haben bereits jetzt ein enormes Ausmaß erreicht. Sie werden noch viele Jahre nach dem Ende des Krieges zu schultern sein. Wie auch immer dieser Krieg einmal endet, die Verlierer stehen schon heute fest: das ukrainische Volk und Europa.
Deutsche Regierungspolitiker wie Außenministerin Annalena Baerbock sprechen immer wieder nicht nur vom „Angriffskrieg“ Russlands, sondern vom „Vernichtungskrieg“ gegen die Ukraine. Immer wieder wird auch erklärt, „Russland darf nicht gewinnen“, bis hin zu Aussagen, den „Krieg nach Russland tragen“ zu wollen. Wie ist das zu bewerten?
Ich möchte nicht auf einzelne Wortmeldungen eingehen. Ganz allgemein bin ich der Auffassung, dass ein wesentlicher Grund für unqualifizierte Aussagen vor allem der Mangel an sicherheitspolitischem Weitblick und strategischem Urteilsvermögen ist. In Deutschland kann man viel Unsinniges von sich geben und doch der medialen Aufmerksamkeit sicher sein, solange man den vorherrschenden Meinungskorridor nicht verlässt. Das ist vor allem möglich, weil die Diskussion über den Ukraine-Krieg überwiegend von Inkompetenz, Ignoranz und Ideologie geprägt ist.
Wie sehen Sie die Rolle der deutschen Medien in dem Konflikt?
Die deutschen Medien haben überwiegend und ohne jede Einschränkung Partei für die von Russland angegriffene Ukraine ergriffen. Das ist eine verständliche emotionale Reaktion. Denn dass der russische Angriff völkerrechtswidrig ist und die Ukraine das in der UN-Charta verbriefte Recht auf Selbstverteidigung wahrnimmt, kann nicht bestritten werden. Die UN-Charta nennt allerdings als Hauptziel der Vereinten Nationen die Erhaltung und Wiederherstellung des Friedens. Dieser Aspekt spielt in den Medien bedauerlicherweise keine Rolle.
Die Medien haben in einer offenen, pluralistischen Gesellschaft einen Informationsauftrag, dem sie glaubwürdig nur durch die Achtung vor der Wahrheit gerecht werden können. Diese Glaubwürdigkeit haben deutsche Medien durch einseitige Berichte und ausufernden Meinungsjournalismus weitgehend eingebüßt. Als besonders gravierend haben sich die Fehleinschätzungen der sogenannten Experten erwiesen, die fast ausschließlich in den Medien zu Wort kommen. Ich halte einseitige Darstellungen auch deshalb für fatal, weil der Einfluss der veröffentlichten Meinung auf Politiker bekanntlich groß ist und oft auch bei ihren Entscheidungen eine Rolle spielt. Auch dass mit jeder Forderung nach einem neuen Waffensystem der Eindruck erweckt wird, damit würde sich das Blatt zugunsten der Ukraine wenden und sie könnte politische Ziele erreichen, die nicht erreichbar sind, mag der ukrainischen Regierung entgegenkommen, ist jedoch gegenüber dem ukrainischen Volk unverantwortlich.
Verschiedene Autoren und Experten wie unter anderem Alexander Rahr sehen in der NATO-Osterweiterung eine der wichtigsten Ursachen des aktuellen Geschehens. Sie waren bei der NATO für eine der Erweiterungsrunden zuständig. Wie bewerten Sie das?
Die NATO hat auf die Entwicklungen in Russland und die Auflösung des Warschauer Paktes bereits im November 1991 mit einem Strategischen Konzept reagiert, mit dem der Kalte Krieg überwunden und eine neue Phase der Beziehungen mit Russland eingeleitet werden sollte. Für die ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes beziehungsweise die ehemaligen Sowjetrepubliken öffnete sich ein Fenster zum Westen; sie waren jedoch skeptisch, dass es auf Dauer offen bleiben würde. Deshalb strebten sie einen schnellen Beitritt zur NATO und zur Europäischen Union an. Insbesondere die deutsche Politik stand diesem Wunsch aus historischer Verantwortung und der kulturellen Zugehörigkeit dieser Staaten zu Mitteleuropa sehr positiv gegenüber. Zudem haben die Beitrittsverhandlungen mit der NATO und bereits die Aussicht auf eine Mitgliedschaft in diesen Ländern viele positive innerstaatliche und zwischenstaatliche Veränderungen bewirkt.
Russlands vorrangiges Interesse war dagegen bereits Mitte der 90er-Jahre, eine Pufferzone im Bereich der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten und früheren Sowjetrepubliken entstehen zu lassen, um mögliche Spannungen und Krisen, die zu einem Krieg zwischen Russland und der NATO eskalieren könnten, gemeinsam einvernehmlich beizulegen. Dieser Aspekt spielte auch in den Verhandlungen über den NATO-Russland-Grundlagenvertrag eine wichtige Rolle. Das geostrategische Interesse an einem „cordon sanitair“ („Sperrgürtel“) zwischen Russland und der NATO kam vor einiger Zeit in abgewandelter Form auch wieder im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg auf. Russland hat dann im Zuge der NATO-Erweiterung jeden Einzelfall sehr differenziert unter bilateralen historischen Gesichtspunkten und hinsichtlich der geostrategischen Auswirkung auf das Gleichgewicht zwischen der NATO und Russland bewertet.
Die NATO hat versucht, russische Bedenken gegen die Erweiterung durch eine strategische Partnerschaft mit Russland auf der Basis des NATO-Russland-Grundlagenvertrages auszuräumen. Und in der Tat entwickelte sich eine enge politische Abstimmung im NATO-Russland-Rat und eine konstruktive militärische Zusammenarbeit. Aber bereits ab 2002 sah Russland das Gleichgewicht der Kräfte durch die einseitige Kündigung des ABM-Vertrags bei gleichzeitigem Aufbau eines ballistischen Raketenabwehrsystems durch die NATO in Polen und Rumänien gefährdet. Weitere einseitige Kündigungen wichtiger Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge durch die USA folgten. Dazu gehört auch der INF-Vertrag über eurostrategische nukleare Mittelstreckenraketen, der durch die beabsichtigte Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckensysteme in Deutschland wieder höchst aktuell ist.
Der politische Bruch wurde eingeleitet, als der damalige US-Präsident George W. Bush auf der NATO-Gipfelkonferenz 2008 in Bukarest versuchte, eine Einladung der Ukraine und Georgiens zum NATO-Beitritt durchzusetzen. Damit wäre das Gleichgewicht der Kräfte aus russischer Sicht vollends in ein gravierendes geostrategisches Risiko für Russland umgeschlagen.
Ich halte insbesondere die Suspendierung des NATO-Russland-Rates für ein Problem, denn mit dem NATO-Russland-Rat verfügt man sowohl auf politischer als auch auf militärischer Ebene über einen Mechanismus für ein wirkungsvolles Krisenmanagement. Es zeugt nicht von rationalem politischem Handeln, etwas, das in einer Zeit vertrauensvoller Zusammenarbeit für den Abbau von Spannungen und zur Beherrschung einer Krise geschaffen wurde, dann zu verwerfen, wenn diese entstehen.
Der Krieg in der Ukraine wird in westlichen Ländern als Grund für eine verstärkte Aufrüstung genutzt. Die wird mit der neuen „russischen Gefahr“ begründet, auch mit der wiederholten Behauptung, dass Russland in einigen Jahren ein NATO-Land angreifen würde. Wie schätzen Sie die neue „russische Gefahr“ ein?
Weder aus den sicherheitspolitischen und strategischen Grundsatzdokumenten der russischen Regierung noch aus öffentlichen Äußerungen Putins lassen sich Pläne für Angriffe auf NATO-Staaten ableiten. Selbst die offiziellen Bedrohungsanalysen der US-Regierung – einschließlich der von 2024 – geben keinen Hinweis auf eine entsprechende russische Absicht, obwohl dies auch von US-amerikanischen Politikern behauptet wird. In der aktuellen Bedrohungsanalyse der USA heißt es:
„Russland will mit ziemlicher Sicherheit keinen direkten militärischen Konflikt mit den Streitkräften der USA und der NATO und wird seine asymmetrischen Aktivitäten unterhalb der seiner Schätzung nach globalen militärischen Konfliktschwelle fortsetzen.“
Der bisherige Kriegsverlauf berechtigt ebenfalls nicht zu dieser Annahme. Bei Beginn des Angriffs auf die Ukraine hatte das russische Kontingent eine Stärke von etwa 190.000 Soldaten. Die Eroberung und Besetzung eines großen Landes wie der Ukraine gegen mehr als doppelt so starke, vom Westen acht Jahre lang gut ausgerüstete und ausgebildete ukrainische Streitkräfte, ist ausgeschlossen und von Russland offensichtlich auch nicht beabsichtigt. Dies wäre sinnlos gewesen. Das wäre jedoch notwendig gewesen, wenn Russland die Ukraine als Sprungbrett für einen späteren Angriff auf ein NATO-Land nutzen wollte. Je länger der Krieg dauert und sich die militärische Lage der Ukraine verschärft, desto größer auch das Risiko der Ausweitung und Eskalation zu einem NATO-Russland-Krieg, obwohl Russland und die USA eine direkte Konfrontation vermeiden wollen.
Wir sollten uns wieder auf eine Strategie des militärischen Gleichgewichts besinnen, wie sie Helmut Schmidt vertreten hat. Ein elementarer Grundgedanke dieser Strategie ist, dass man einen Zustand herstellt, bei dem keine Seite stärker als die andere ist – und somit ein Krieg gar nicht erst in Erwägung gezogen wird. Es sollte also die Fähigkeit der Bundeswehr zur Landes- und Bündnisverteidigung – wie es die Verfassung fordert – endlich wiederhergestellt und gemeinsam mit unseren Verbündeten Russland die Entschlossenheit signalisiert werden, keine Veränderung des dann entstandenen Gleichgewichts zuzulassen.
Schmidt hat allerdings betont, dass ein Gleichgewicht der Kräfte zwar ein notwendiges, aber kein hinreichendes Element ist, den Frieden zu bewahren. Hinzukommen muss die Bereitschaft, das militärische Gleichgewicht politisch zu stabilisieren. Dazu gehört, die Verbindung zur anderen Seite aufrechtzuerhalten, um zu verstehen, wo deren Probleme und Interessen liegen. Dazu gehören auch stabilisierende Vereinbarungen, militärische vertrauensbildende Maßnahmen sowie Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge, die wichtige Elemente einer neuen Sicherheitsarchitektur sind und das gegenseitige Vertrauen sowie die politische und militärische Berechenbarkeit stärken.
Politiker wie Verteidigungsminister Boris Pistorius und andere wollen, dass Deutschland wieder „kriegstüchtig“ wird. Sie selbst plädieren dafür, dass die Bundeswehr wieder die Aufgabe der Landesverteidigung wahrnehmen kann, wozu sie derzeit nicht in der Lage sei. Was ist der Unterschied zwischen beiden Sichten? Und wer und was bedroht die Bundesrepublik konkret?
Für mich ist die Verfassung der Maßstab für außen- und sicherheitspolitisches Handeln, und das sollte er auch für die Bundesregierung sein. Die Verfassung sagt in Artikel 87a, „der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf“. In Verbindung mit Artikel 24 (2) – „der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen“ –, also der Nordatlantischen Allianz, bedeutet dies die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung. Die damalige Bundesregierung hat 2011 zunächst aus finanziellen Gründen die Wehrpflicht ausgesetzt und dann eine Reform durchgeführt – die Neuausrichtung der Bundeswehr –, durch die die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung aufgegeben wurde.
Die Begründung war, eine konventionelle Bedrohung Europas und Deutschlands sei nicht gegeben und die Beziehungen zu Russland hätten sich positiv entwickelt. Das war ein klarer Verfassungsbruch und – was wir schon damals hätten wissen müssen – eine Fehleinschätzung. Verteidigungsminister Pistorius gebührt das Verdienst, diese Fehlentwicklung korrigieren zu wollen. Aus meiner Sicht ist dafür keine weitere Begründung erforderlich als die, den Verfassungsauftrag zu erfüllen. Denn wir haben uns 2011 in der Beurteilung der sicherheitspolitischen Lage und der Bedrohungsanalyse geirrt, ein erneuter Irrtum könnte uns teuer zu stehen kommen.
Sie warnen vor der Gefahr einer Ausweitung des Ukraine-Krieges zu einem globalen Konflikt. Aus Sicht mancher Beobachter hat der dritte Weltkrieg schon begonnen. Sie sprachen jüngst von einem „Zeitalter der Unsicherheit und der großen Konflikte“. Können Sie das kurz erklären?
Je länger der Krieg dauert und eine militärische Niederlage der Ukraine sich abzeichnet, umso größer wird das Risiko der Ausweitung zu einem großen europäischen Krieg, einschließlich der Gefahr einer nuklearen Eskalation. Andere Konfliktzonen, die das Potenzial zu einem großen Krieg haben, sind der Persische Golf und der Nahe Osten einschließlich der ungelösten Palästinafrage, die Rivalität zwischen Saudi-Arabien und dem Iran sowie die Spannungen zwischen dem Iran und den USA, das regionale Hegemonialstreben der Türkei und die Verschärfung der Spannungen zwischen Nord- und Südkorea. Kim Jong-un bezeichnete Südkorea im Januar als Feindstaat. Auch der wachsende russische Einfluss im Mittleren Osten, in Afrika und Südamerika wird von den USA mit Sorge betrachtet. Schließlich das Südchinesische Meer und die Straße von Malakka wegen der Taiwanfrage und der geopolitischen Rivalität der USA und China.
Wie könnte aus Ihrer Sicht ein europäisches System der Sicherheit aussehen, das Russland miteinbezieht?
Ob es gelingt, eine europäische Friedens- und Sicherheitsordnung zu schaffen, hängt davon ab, wie der Ukraine-Krieg endet. Die Chance, die Istanbuler Verhandlungen mit einer friedlichen Lösung auf der Grundlage eines Interessenausgleichs abzuschließen, wurde vertan. Selbst wenn es gelingen sollte, die bilateralen Verhandlungen wieder aufzunehmen, wäre das gleiche Ergebnis nach allem, was sich inzwischen ereignet hat, nicht erreichbar. Trotzdem halte ich den von China vor mehr als einem Jahr in ihrem Zwölf-Punkte-Papier vorgeschlagenen Ansatz nach wie vor für sinnvoll, weil er die von beiden Seiten aufgebauten Hürden überwindet.
Die Initiative des ungarischen Ministerpräsidenten scheint in die gleiche Richtung zu gehen. Nach seinen Gesprächen mit Selenskyj und Putin sprach er mit Xi Jinping und Donald Trump, die nicht nur ihr Interesse an einem Ende des Krieges geäußert haben, sondern auch über die Macht verfügen, einen Waffenstillstand und einen Verhandlungsfrieden durchzusetzen. Es bleibt zu hoffen, dass aus Orbáns Friedeninitiative eine neue europäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur entsteht, die den Sicherheitsinteressen aller Europäer entspricht, von Dauer ist und Europa der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Selbstbehauptung näherbringt.
Titelbild: Quelle: Nato, CC BY-SA 4.0 – nato.int
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