»Haben Sie eine solche Häufung von Krisenzutaten schon einmal erlebt?«. Dieser antwortet: »Ich glaube nicht, dass wir das schon einmal hatten.
- Wolfgang Lieberknecht
- 13. Aug. 2024
- 21 Min. Lesezeit
Frank Deppe VSA: Der »neue« und der »alte« Kalte Krieg Frank Deppe Zeitenwenden? Der »neue« und der »alte« Kalte Krieg Frank Deppe ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Zuletzt erschien vom ihm im Jahr 2021 bei VSA: »SOZIALISMUS. Geburt und Aufschwung – Widersprüche und Niedergang – Perspektiven«. Gemeinsam mit Kim Lucht und Klaus Dörre gab er 2023 den Diskussionsband »Sozialismus im 21. Jahrhundert?« heraus. Frank Deppe Zeitenwenden? Der »neue« und der »alte« Kalte Krieg VSA: Verlag Hamburg © VSA: Verlag 2023, St. Georgs Kirchhof 6, D-20099 Hamburg Alle Rechte vorbehalten Umschlagfotos: Amerikanische und russische Panzer auf beiden Seiten der Sektorengrenze am Checkpoint Charly in Berlin im Oktober 1961; Bundeskanzler Olaf Scholz bei seiner »Zeitenwende«Rede am 27.2.2022 im Deutschen Bundestag. Druck und Buchbindearbeiten: CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-96488-197-7 www.vsa-verlag.de
Inhalt Kapitel 1 Vom Geist der Zeit: Polykrise, Epochenbruch, Zeitenwende .............. 7 1. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine und die globale Blockbildung .............................................................. 10 2. Der Bundeskanzler verkündet die »Zeitenwende« ............................ 13 3. Der Bellizismus (oder: die Kriegsbesessenheit) des liberalen Imperialismus .................................................................. 21 4. Krise der Hegemonie im Weltsystem ................................................ 31 Kapitel 2 Der alte Kalte Krieg .................................................................................. 35 1. Die Truman-Doktrin ............................................................................ 38 2. Die bipolare Blockbildung und die Kriege in Asien ........................ 43 3. Die inneren Schließungen ................................................................... 55 4. Der wirtschaftliche Aufschwung zum Golden Age of Capitalism ........................................................... 66 5. Die militärische Überlegenheit und die globale politische Macht der USA ......................................... 71 6. Spannungen in den Bündnissen, Ansätze von Entspannungspolitik ...................................................... 75 Kapitel 3 Der neue Kalte Krieg ................................................................................ 79 1. Zurück zur Truman-Doktrin? ............................................................. 79 2. Historisierung und Kontextualisierung .............................................. 87 3. Epochenbruch statt Zeitenwende ........................................................ 94 4. Differenzen zwischen dem alten und dem neuen Kalten Krieg ...... 106 5. Niedergang des Westens? .................................................................... 121 6. Eine Epoche imperialer geopolitischer Rivalität? ............................. 138 Literatur .................................................................................................... 159
Kapitel 1 Vom Geist der Zeit: Polykrise, Epochenbruch, Zeitenwende Dass unsere »Zeit aus den Fugen«1 geraten sei, gehört seit gut einem Jahrzehnt zum zeitdiagnostischen Vokabular führender Politiker*innen verschiedener Richtungen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (im Folgenden: FAZ), Sprachrohr des konservativ-neoliberalen Flügels der deutschen Bourgeoisie, präsentierte im Sommer 2022 einen »Krisencocktail« von Inflation, Zinswende, Gasknappheit, Corona: »Die Lieferkettenprobleme und die extrem hohe Inflation, das allein sind Zutaten für einen Krisencocktail, der der Weltwirtschaft nicht gut bekommt. Leider gibt es noch ein paar giftige Zutaten mehr: Die Zentralbanken Federal Reserve und EZB leiten die Zinswende ein und stressen damit Finanzmärkte rund um den Globus. In mehreren Staaten, darunter Deutschland, rollt die nächste Corona-Welle an. Überall fehlen Fachkräfte. China sperrt seine Bürger ein und wird vom Sehnsuchtsort deutscher Industrieunternehmen zum Klumpenrisiko. Und über allem schwebt der russische Angriffskrieg in der Ukraine und die Gefahr, dass Wladimir Putin Deutschland das Gas ganz abdreht«. Die FAZ fragt Prof. Dr. Clemens Fuest vom ifo-Institut München als einen der führenden Vertreter der ökonomisch herrschenden Meinung: »Haben Sie eine solche Häufung von Krisenzutaten schon einmal erlebt?«. Dieser antwortet: »Ich glaube nicht, dass wir das schon einmal hatten. Die Gefahr einer Rezession ist sehr hoch.«2 Im Jahr 2023 bestätigt sich diese Prognose. Das vergangene Jahrzehnt stand bereits im Zeichen beständiger und thematisch ausgreifender Krisenprozesse: von der Finanzkrise der Jahre 2008/09 zur Eurokrise 2010/11 – von der Flüchtlingskrise 2015 zur Co1 Das ursprüngliche Zitat findet sich in Shakespeares Drama »Hamlet« (1603/04), in der 5. Szene des 1. Aktes: »The time is out of joint: O cursed spite / That ever I was born to set it right!« (I.v. 189–190). Die Übersetzung von August Wilhelm von Schlegel lautet: »Die Zeit ist aus den Fugen; Fluch der Pein, muss ich sie herzustelln geboren sein!«. Hamlet beklagt dabei die Zustände im Staate Dänemark, der Vater ermordet, die Mutter mit dem Königsmörder liiert. Der Held soll handeln, hat aber keinen Plan. Orientierungslos spielt er den Verrückten und kommt dem Wahnsinn immer näher. Er neigt zu Ausbrüchen, reißt sich und andere ins Verderben. 2 Winand von Petersdorff/Johannes Pennekamp: Kommt jetzt die große Krise? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.6.2022, S. 19. Zur Bestätigung der Prognose von Fuest vgl. Joachim Bischoff 2022. 8 rona-Krise ab 2019 und schließlich zur Katastrophe des Ukrainekrieges und seiner wirtschaftlichen wie politischen Folgen. Die Jahre 2022/23 stehen im Zeichen der Inflation, der Energiekrise und der Angst vor Stagnation und Rezession – gleichzeitig ist die Flüchtlingskrise erneut in den Vordergrund getreten. Dabei wird mehr und mehr bewusst, dass in den entwickelten kapitalistischen Staaten des Westens nicht allein die Permanenz solcher Krisen (»Vielfachkrise«), sondern gerade die Verschränkung sozial-ökonomischer Prozesse mit der Klimakrise und den Folgen der Umweltzerstörung (»ökonomisch-ökologische Zangenkrise«), sowie mit Störungen der gesellschaftlichen Reproduktion durch weltweit wirkende Seuchen und Epidemien bestimmt wird, die die Mängel des öffentlichen Gesundheitssystems offenlegen. Die Krise der Reproduktion muss jedoch weiter gefasst werden. In der Infrastruktur und im Verkehrswesen, bei Bildung und Wissenschaft, in der Pflege und der Alterssicherung, aber auch im Bereich der öffentlichen Sicherheit brechen jetzt die Widersprüche einer jahrzehntelangen neoliberalen Politik auf, mit der im Zeichen der Austeritätspolitik bzw. der »Schuldenbremse« privatisiert und Kosten »eingespart« wurden. Die Schwächung der Gewerkschaften hat dazu beigetragen, dass die Reallöhne über einen längeren Zeitraum in der Regel kaum angestiegen sind. Mit der Rückkehr der Inflation wird für die Mehrheit der Lohnabhängigen das Absinken des Lebensstandards zur Alltagserfahrung. Dies verbindet sich mit der Wahrnehmung zunehmender Ungleichheit in der Gesellschaft, der Kluft zwischen den oberen 10% der Einkommenspyramide und dem »Rest«, vor allem aber mit der Zunahme einer Unterschicht des Prekariats auf ca. 20% der Erwerbstätigen. Die Armut – bzw. das Armutsrisiko – hat zugenommen. Seit Anfang des Jahres 2023 rollt eine Welle von Streiks und politischen Massendemonstrationen durch Westeuropa. Es handelt sich in einigen Ländern um die heftigsten Auseinandersetzungen der Gewerkschaften mit den Kapitalverbänden sowie mit den Regierungen ihrer Länder seit den 70erJahren des vergangenen Jahrhunderts. Optimistische Zukunftsprognosen, die noch auf die »Rettung« der Welt und des Klimas gerichtet sind, sind desavouiert. Bei weiten Teilen der Bevölkerung – vor allem auch bei Jugendlichen – verfestigen sich pessimistische Zukunftserwartungen.3 Der 3 Eine Umfrage von Infratest im Oktober 2022 bestätigte diese Tendenz: »Die sich aktuell überlappenden krisenhaften Entwicklungen sorgen für eine massive Verunsi
Kapitel 1: Vom Geist der Zeit: Polykrise, Epochenbruch, Zeitenwende 9 Krisenbegriff wird zunehmend durch den der »Katastrophe« ersetzt. Die wirtschaftlichen Krisenprozesse, die Klimakrise und die globale Epidemie werden durch den Krieg in Europa und seine Folgen zu einem noch einmal zugespitzten Katastrophenszenario verbunden. Die individuelle Angst um die Zukunft geht mit einem Vertrauensverlust gegenüber der »politischen Klasse« sowie den regierenden Parteien einher. Die Regierungen befinden sich im Modus einer permanenten Krisenbewältigung, die mit immer neuen Herausforderungen konfrontiert wird. Die Stabilität einer Regierungspolitik der (rechten oder linken) »Mitte«, die von klaren Mehrheiten im Ergebnis von allgemeinen Wahlen getragen wird, zerfällt. Die »Krise der Repräsentation«, die sich z.B. in sinkender Wahlbeteiligung oder im Niedergang von »Altparteien« manifestiert, stellt die Legitimation von knappen Mehrheiten in den Parlamenten (als Basis der Regierungen) zunehmend infrage. Rechtspopulistische – teils auch neofaschistische – Bewegungen und Parteien machen die »liberalen Eliten« und die Politik der »Globalisierung« für die Krisen unserer Zeit verantwortlich. Sie fordern eine Rückkehr zum Primat nationaler Politik (»America [oder ein anderes Land] first«) sowie die konsequente Abwehr der Migration aus dem »Süden«. Ihre Wahlerfolge signalisieren zunächst einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen den pessimistischen Zukunftserwartungen in der Bevölkerung, dem Vertrauensverlust in die »politische Klasse«, samt ihrer Parteien, und dem Aufschwung rechter Bewegungen. Auf der anderen Seite öffnet sich innerhalb des herrschenden Blocks die Bereitschaft, eine neue Mehrheit durch die Öffnung nach rechts zu sichern, die mit einer Aufwertung des Nationalstaats zur Bewältigung der Krisen verbunden ist. Dieser Nationalstaat soll Antworten finden auf die
cherung in der deutschen Bevölkerung. Nach 59% im Vorjahr sind aktuell nur noch 20% zufrieden mit der wirtschaftlichen Lage. Gut jeder Zweite rechnet zudem damit, dass sich die ökonomische Situation in der Bundesrepublik weiter verschlechtern wird. Knapp sechs von zehn fürchten, dass die rapide Inflation sie überfordern könnte. Zudem ist fast jeder fünfte Beschäftigte in Sorge um seinen Arbeitsplatz. In Summe liefern die aktuellen Verhältnisse für nur 11% Anlass zur Zuversicht, 85% sind beunruhigt. Ein neuer Tiefstand in der Geschichte des seit 1997 erhobenen ARD-DeutschlandTREND. Neben den energie- und wirtschaftspolitischen Folgen des Ukraine-Krieges sorgt der Kriegsverlauf im Osten Europas weiter für Verunsicherung. Mehr als die Hälfte fürchtet, die Bundesrepublik könnte direkt in den Krieg hineingezogen werden. Entsprechend plädiert fast jeder Zweite dafür, in Fragen der militärischen Unterstützung der Ukraine eher zurückhaltend zu agieren, um Russland nicht zu provozieren, während 43% eine größere Entschlossenheit und Härte einfordern.« (infratest dimap 2022). 10 neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen, die im Gefolge der Zuspitzung globaler Konflikte zwischen der von den USA geführten »freien Welt« und den »autokratischen Regimen« um die Volksrepublik China und Russland, etwa dem Ukrainekrieg, erscheinen. Die Bewältigung nationaler Krisen ist zunehmend mit den Dynamiken der Veränderung der Weltordnung und den daraus resultierenden geopolitischen Krisen und Kriegen verknüpft. Dabei verstärkt das Versagen der Regierenden im Inneren die Tendenz, durch Kriege und militärische Operationen oder auch durch forcierte Aufrüstung und die materielle und ideologische Unterstützung von Kriegsparteien von dem systemischen Charakter der Poly-Krise (Adam Tooze) und der Krise der Politik im eigenen Lande abzulenken.
1. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine und die globale Blockbildung
Vom 18. bis 20. Februar 2022 fand die 58. Münchner Sicherheitskonferenz statt, an der von russischer Seite erstmals kein Regierungsvertreter teilnahm. Die Konferenz stand ganz im Zeichen der Zuspitzung des Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland. Die Mehrheit der westlich orientierten Teilnehmer warnte Russland vor einem militärischen Angriff und drohte mit massiven Sanktionen. US-Außenminister Antony Blinken wollte sich noch mit dem russischen Kollegen Sergej Lawrow treffen. Der chinesische Außenminister betonte die Souveränität der Ukraine, kritisierte jedoch die Osterweiterung der NATO. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte mehr Unterstützung durch den »Westen« sowie die zeitnahe Aufnahme seines Landes in die NATO. Zur gleichen Zeit wurde die russische Invasion vorbereitet: Die »Volksrepubliken« Donezk und Lugansk im Osten der Ukraine wurden am 21. Februar von Moskau – flankiert von einer extrem nationalistischen Rede von Putin, in der die Ostukraine als »historisch-russisches Gebiet« bezeichnet wurde – zum Teil Russlands erklärt. Unmittelbar danach gab Putin, unter Berufung auf das am selben Tag abgeschlossene »Freundschaftsund Hilfsabkommen« mit den Separatistenregionen, der russischen Armee den Befehl, nach Donezk und Lugansk – und damit auf ukrainisches Territorium – vorzurücken. Dem folgten schnell russische Truppen von Norden, die sich auf die Hauptstadt Kiew zubewegten. Der Ukrainekrieg war eröffnet. Das Ziel war offenbar, einen Sturz der Regierung in Kiew herbeizuführen, um einen Verzicht des Landes auf den Beitritt zur NATO und
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die Akzeptanz der russischen Annexionen von 2014 (Krim) und der Donbass-Republiken durchzusetzen. Im Westen wurde das Vorgehen Russlands als eklatanter Verstoß gegen das Völkerrecht und die Souveränität der Ukraine, gegen das Abkommen von Minsk und gegen die territoriale Integrität des Landes verurteilt. Die Verteidiger der russischen Politik berufen sich hingegen darauf, dass die Angriffe der Ukraine auf Donezk und Lugansk, die permanenten Manöver mit NATO-Soldaten an der russischen Westgrenze, Vereinbarungen zwischen den USA und der Ukraine über strategische Partnerschaft, die Blockierung des Minsk-II-Abkommens durch die ukrainische Regierung sowie die Ankündigung, die Krim zurückerobern zu wollen, einen russischen Angriff provoziert hätten.4 Seit dem 21. Februar 2022 tobt der Krieg in der Ukraine – mit allen Verwüstungen, Menschenopfern, Massenexodus von Flüchtlingen nach Westen, Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung etc. Die russischen Ziele eines »Blitzkrieges«, der zum Zusammenbruch des politischen Regimes in Kiew führen würde, wurden offensichtlich nicht erreicht. Der Krieg frisst sich in den Randgebieten im Osten und Süden des Landes fest. Die Ukraine wird vom Westen (von NATO- und EU-Mitgliedstaaten) – vor allem aber von den USA – massiv mit Waffen, militärischer Beratung und Ausbildung sowie durch finanzielle Hilfen unterstützt. Die Nachbarstaaten der Ukraine haben fast fünf Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Die Führung des Landes proklamiert das Ziel, Russland zu besiegen und die Krim zurückzuerobern. Indem die USA und die NATO diese Position (materiell 4 »Nüchtern betrachtet muss man sich wundern, dass die russische Regierung überhaupt so lange stillgehalten hat« (Guerot/Ritz 2022: 131). Ulrike Guerot, Professorin an der Universität Bonn, wurde von Kollegen mit massiven Vorwürfen konfrontiert »unwissenschaftlich, verschwörungstheoretisch, antiamerikanisch«, (es fehlt noch »antisemitisch«) zu sein; dazu kamen Vorwürfe des Plagiats in früheren Schriften zu Europa: »Nachdem die Universität Bonn es im Februar 2023 als erwiesen ansah, dass Guérot plagiiert hatte, und zwar in einem Text, der für ihre Berufung als Professorin von Belang gewesen sei, und sie sich auch ›während ihrer Dienstzeit an der Universität Bonn fremdes geistiges Eigentum angeeignet hätte, ohne dieses kenntlich gemacht zu haben‹, leitete die Universität arbeitsrechtliche Schritte ein. Nach Informationen der Neuen Zürcher Zeitung bezogen sich die Vorwürfe auf ihr 2016 erschienenes Buch Warum Europa eine Republik werden soll. Guérot wurde Ende Februar 2023 durch die Universität Bonn gekündigt. Guérot hat gegen die Kündigung geklagt. Ihre Kündigung wurde zum 31. März vorerst nicht wirksam« (Wikipedia).
1. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine und die globale Blockbildung 12 und politisch-militärisch) unterstützen, befinden sie sich in einem »Stellvertreterkrieg mit Russland«.5
Der Ukrainekrieg ist längst über einen Krieg zwischen zwei Staaten hinausgewachsen und zum zentralen Thema der weltpolitischen Konfrontation zwischen dem »Westen« auf der einen sowie Russland und der Volksrepublik China auf der anderen Seite geworden. Dabei haben sich wichtige Länder des »Südens« – China, Indien, Brasilien, Südafrika und viele andere Staaten – bei Abstimmungen in der UNO nicht auf die Seite des Westens gestellt. Darüber hinaus ist der Krieg auch zentrales Thema der Innenpolitik, d.h. einer innenpolitisch-ideologischen Offensive geworden, die über die Kritik an der Politik von Putin und Russland hinausgeht. Mehr noch: durch die Inszenierung einer moralisch hoch aufgeladenen »Russophobie« soll wieder jene – klassenübergreifende – Massenstimmung erzeugt werden, die in der Zeit des Kalten Krieges nach dem Zweiten Weltkrieg für stabile politische Herrschaftsverhältnisse im Zeichen des »Antikommunismus« und der US-amerikanischen Hegemonie gesorgt hatte. Die NATO scheint alle Krisen der letzten Jahrzehnte überwunden zu haben. Alle Regierungen der Mitgliedstaaten werden von Parteien getragen, die die russische Politik scharf verurteilen. Beim NATO-Gipfel im Juni 2022 in Madrid wurde nicht nur die Geschlossenheit der Allianz (um die USA und gegen Russland) demonstriert. Zugleich suchen skandinavische Länder wie Schweden und Finnland, die in der Periode des Kalten Krieges ihre Neutralität verteidigten, den Schutz der NATO – und das heißt immer auch der USA.6 Der Krieg spaltet und schwächt die politische Linke und die Friedensbewegungen im Westen. Vor allem die deutsche Sozialdemokratie soll (und will sich) von ihrer Programmatik einer europäischen Friedensordnung verabschieden, die die friedliche – vor allem auch ökonomische – Kooperation mit Russland ins Zentrum rückte und von Kanzlern wie Willy Brandt und Gerhard Schröder vertreten wurde. Die abrechnende Kritik trifft jedoch auch die Altkanzlerin Angelika Merkel von der CDU, der nunmehr Illusionen ihrer Ost- und Migrationspolitik vorgehalten werden. Die grüne Regierungspartei, die einst aus der neuen Friedensbewegung der späten 5 So Katrina van den Heuvel im Vorwort zu Benjamin/Davies 2022: 5.; vgl. dazu: Solty, Ingar (2023 b). 6 Dass das NATO-Land Türkei, das selbst im Inneren wie in Syrien Krieg führt, den Beitritt Schwedens zu blockieren sucht, deutet auf eigene Widerspruchskonstellationen im westlichen Militärbündnis hin. Kapitel 1: Vom Geist der Zeit: Polykrise, Epochenbruch, Zeitenwende 13 1970er-Jahre (mit Petra Kelly und dem ehemaligen General Gert Bastian) hervorgegangen ist, stellt mit der Außenministerin Annalena Baerbock und den Parlamentsabgeordneten Anton Hofreiter und Reinhard Bütikofer (EP) die radikalsten Wortführer jener Menschenrechtsbellizisten, die sich für die massive militärische Unterstützung der ukrainischen Regierung (einschließlich schwerer Waffen) sowie für einen Siegfrieden gegen Russland einsetzen. Die NATO wird nun – wie einst im Kalten Krieg – als militärischer Schutzschild der »freien Welt« gegen die bösen autokratischen Mächte im Osten gewürdigt. In der Oberhessischen Presse bekennt der »Politikwissenschaftler und Grünen-Promi Prof. Dr. Hubert Kleinert« – in der Gründungsphase der Grünen ein echter antiautoritärer Revoluzzer, langsam zum Lehrer an einer hessischen Polizeifachschule gereift: »Gut, dass es die NATO gibt!« 2. Der Bundeskanzler verkündet die »Zeitenwende« Am 18. Juli 2022 publizierte die FAZ unter dem Titel »Nach der Zeitenwende« einen Beitrag des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD).7 Dessen zentrale These lautet: Mit dem »Krieg Putins« ist der »Imperialismus zurück in Europa«. Scholz fordert zumal für die deutsche Politik tiefgreifende Veränderungen. »Viele hatten die Hoffnung, enge wirtschaftliche Verflechtung und gegenseitige Abhängigkeiten würden zugleich für Stabilität und Sicherheit sorgen.« Diese Hoffnung wird durch den Krieg zerstört. Die russischen Raketen treffen nicht allein die Menschen in der Ukraine, sondern legen auch »die europäische internationale Friedensordnung der vergangenen Jahrzehnte in Schutt und Asche«.8 Die Zeitenwende – so der Kanzler – fordert von der deutschen Regierung eine Neubestimmung ihrer sicherheitspolitischen Doktrin. Die Bundeswehr soll durch ein Sofortprogramm von 100 Milliarden Euro – die »größte Wende in der Sicherheitspolitik der Bundesrepublik« – aufgerüstet werden; die Ukraine soll finanziell, politisch und militärisch massiv unterstützt werden. Die NATO rückt zusammen und stellt beim Treffen in Madrid fest: »Wir können einen Angriff auf die territoriale Integrität der Alli7 www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/faz-bk-ukraine-2063006. 8 Ausführlicher wird diese Position des deutschen Kanzlers vom ehemaligen Botschafter der Bundesrepublik in Moskau vertreten: von Fritsch 2022. 2. Der Bundeskanzler verkündet die »Zeitenwende« 14 ierten nicht ausschließen.« Das heißt, die Möglichkeit eines großen Krieges wird nicht ausgeschlossen. Allerdings will Scholz dafür sorgen, dass die »NATO nicht zur Kriegspartei wird«. Dennoch unterstützt die Bundesrepublik die Ukraine finanziell sowie durch Waffenlieferungen und die Ausbildung von Soldaten. Die Leitmedien des Landes reihen sich unisono in die Front gegen Putin und Russland ein. Die Leitartikler der FAZ feiern den Krieg – im Geiste eines Carl Schmitt (vgl. Schmitt 1932) – als die Wiedergeburt eines Begriffs des Politischen, der die Sicherheit des Staates – in der Freund-Feind-Beziehung nach außen wie nach innen – als obersten Richtwert anerkennt.9 Stimmen aus hohen Militärkreisen, die vor einer Eskalation des Konfliktes warnen, werden ebenso verschwiegen oder diskreditiert wie kritische Positionen von US-Experten für internationale Beziehungen (z.B. John Mearsheimer und Jeffrey Sachs), die die Rolle der USA bei der Entstehung des Konfliktes und seiner Eskalation hervorheben. Der einst (in der Zusammenarbeit mit Iring Fetscher in Frankfurt) kritische Politikwissenschaftler Herfried Münkler, an der Humboldt-Universität zum hyper-realistischen, bellizistischen Regierungsberater aufgestiegen, verurteilte einen Friedensaufruf von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer, der inzwischen von fast einer Million Menschen unterschrieben wurde, als »gewissenloses Manifest«. Mit der Forderung an den Bundeskanzler, die »Eskalation der Waffenlieferungen« an die Ukraine zu stoppen und eine »starke Allianz für Friedensverhandlungen« zu unterstützen, »betreiben« die Unterstützer des Aufrufs – so Professor Münkler gegenüber dem »Kölner Stadt-Anzeiger« – ganz im Stile des Kalten Krieges – »mit kenntnislosem Dahergerede Putins Geschäft«. So ruft es aus dem »Vorhof der Macht«. Der Kanzler verkündet gleichzeitig, dass wir »unsere energiepolitische Abhängigkeit von Russland beenden«. Russische Importe von Kohle und Öl werden gestoppt; die Gaslieferungen sollen deutlich reduziert werden. Damit kommen auf die Menschen in Deutschland schwere Belastungen – vor allem durch Preissteigerungen im Energiesektor – zu, die sich mit den weltwirtschaftlichen Krisenprozessen verbinden: »Unterbrochene Lieferketten, knappe Rohstoffe, die kriegsbedingte Unsicherheit an den Energiemärkten – all dies treibt weltweit die Preise«. Angesichts dieser Heraus9 Vgl. die beiden Artikel von Ingar Solty über die Schrift von Carl Schmitt »Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus« (1923) und ihre aktuelle Bedeutung für den Rechtspopulismus in der Tageszeitung Junge Welt vom 18. und 19.7.2023, jeweils S. 12/13. Kapitel 1: Vom Geist der Zeit: Polykrise, Epochenbruch, Zeitenwende 15 forderungen beschwört der Kanzler die nationale Solidarität: »Wir müssen zusammenhalten und uns unterhaken, so wie wir es hierzulande im Rahmen der Konzertierten Aktion zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften, Wissenschaft und politischen Entscheidungsträgern verabredet haben«. Um die Abhängigkeit von Energieimporten zu verringern, müssen die »erneuerbaren Energien viel schneller« ausgebaut werden »als bisher«. Darüber hinaus haben Deutschland und die EU-Staaten Sanktionspakete gegen Russland in Kraft gesetzt, die nicht nur die politische Administration, sondern vor allem die Wirtschaft treffen sollen. Dabei handelt es sich um Personen bzw. um Organisationen, deren Vermögen eingefroren werden und die nicht in die EU reisen dürfen. Dazu kommen Einfuhrverbote im Wert von sieben Milliarden Euro sowie Ausfuhrbeschränkungen, durch die der russischen Armee und ihren Zulieferern spezifische Güter und Ausrüstung entzogen werden. Durch diese Sanktionen soll die russische Wirtschaft als auch die Kampfkraft der Armee geschwächt werden. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass militärische Misserfolge und wirtschaftliche Krisenprozesse im eigenen Lande die Unzufriedenheit bei breiten Bevölkerungsgruppen steigern werden und schließlich einen »Regime-Change« herbeiführen könnten. Auf diesem Terrain bewegen sich – wie in der Zeit des Kalten Krieges zwischen Ost und West – die Geheimdienste der Staaten, deren Arbeit auf die Destabilisierung der inneren sozialen und politischen Verhältnisse in den »Feindstaaten« gerichtet ist. Der Ukrainekrieg ist also in einen »Wirtschaftskrieg« übergegangen, der vor allem von den USA und ihren europäischen Verbündeten geführt wird. Die »Zeitenwende« erkennt den Primat der Sicherheitspolitik sowie die damit verbundene Steigerung der Rüstungsanstrengungen und der Modernisierung der Bundeswehr an. Dabei steht das von den USA geführte Militärbündnis der NATO an erster Stelle. In einer Rede an der Prager KarlsUniversität am 29. August 2022 hat Kanzler Olaf Scholz von dem »Glück« gesprochen, dass »mit Präsident Biden ein überzeugter Transatlantiker im Weißen Haus sitzt« und dass deshalb »die NATO […] heute geschlossener denn je« dasteht. Da den Europäern bekannt ist, »dass sich der Blick Washingtons stärker auch auf den Wettbewerb mit China und auf den asiatisch-pazifischen Raum richtet«, entstehen in Europa – in der Auseinandersetzung mit Russland – neue Aufgaben und Verantwortlichkeiten. Hier richtet der Kanzler seine Überlegungen auf die Entwicklung und Bedeutung der Europäischen Union (EU) in einer »multipolaren Welt«. Sie muss sich erweitern und nach innen die Entscheidungsprozesse optimieren. Er 2. Der Bundeskanzler verkündet die »Zeitenwende« 16 schlägt u.a. vor, angesichts der »Zeitenwende« »in der gemeinsamen Außenpolitik, aber auch in anderen Bereichen wie der Steuerpolitik, schrittweise zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen«. Also: »Schluss mit den egoistischen Blockaden europäischer Beschlüsse durch einzelne Mitgliedsstaaten, mit nationalen Alleingängen, die Europa als Ganzem schaden. Nationale Vetos, etwa in der Außenpolitik, können wir uns schlicht nicht mehr leisten, wenn wir weitergehört werden wollen in einer Welt konkurrierender Großmächte«.10 Damit ist der entscheidende Punkt benannt: Die EU muss »zum geopolitischen Akteur werden« (FAZ). In der Prager Rede wird dieses Ziel noch sehr viel deutlicher herausgearbeitet: »Wir müssen das Gewicht des geeinten Europas viel stärker zur Geltung bringen. Zusammen haben wir allerbeste Chancen, das 21. Jahrhundert in unserem europäischen Sinn mitzuprägen und zu gestalten – als Europäischer Union aus 27, 30 oder 36 Staaten mit dann mehr als 500 Millionen freien und gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern, mit dem größten Binnenmarkt der Welt, mit führenden Forschungseinrichtungen, Innovationen und innovativen Unternehmen, mit stabilen Demokratien, mit einer sozialen Versorgung und einer öffentlichen Infrastruktur, die auf der Welt ihresgleichen suchen. Das ist der Anspruch, den ich mit einem geopolitischen Europa verbinde.« Damit erweitert sich der Imperialismus-Begriff. Er bezeichnet eben nicht allein eine Beziehung zwischen einer Großmacht und einem kleineren Anrainerstaat, der mit Gewalt gezwungen werden soll, die Sicherheitsinteressen seines großen Nachbarn anzuerkennen. Er bezeichnet auch die Beziehungen – die Konkurrenz- und Machtverhältnisse – zwischen den Großen Mächten und Machtblöcken auf der globalen Ebene der Weltwirtschaft und der Weltpolitik. Deren Interessen beziehen sich auf die Verteilung des Reichtums, aber auch auf die Verteilung der politischen und militärischen Macht. Das geopolitische Gewicht der EU – so Olaf Scholz – muss nicht nur gegen Russland gerichtet sein, sondern auch in neue Kooperationsformen mit den Ländern des »Globalen Südens« eingebracht werden. Gerade hier entscheidet sich die Auseinandersetzung zwischen den »Autokraten« (angeführt von Russland und China) und denen, die sich »zur Demokratie bekennen«. Hier übernimmt er die Einteilung der Welt in Gut und Böse, 10 www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-ander-karls-universitaet-am-29-august-2022-in-prag-2079534. Kapitel 1: Vom Geist der Zeit: Polykrise, Epochenbruch, Zeitenwende 17 in Demokratien und Autokratien, die Joe Biden schon vor dem Ukrainekrieg als Rahmen US-amerikanischer Hegemoniepolitik (»world leadership«) festgelegt hatte. Der Westen muss sich aber bemühen, mit dem »Globalen Süden« zu kooperieren. Scholz denkt dabei nicht nur an die ärmsten Länder des Südens, sondern auch große und wirtschaftlich starke Staaten – er nennt Indien, Südafrika, Indonesien, Senegal und Argentinien. Er will mit dem »Süden« an der Lösung globaler Probleme – Nahrungsmittelkrise, Klimawandel, Pandemie – zusammenarbeiten, weiß zugleich natürlich, dass viele dieser Länder bereits enge Kooperationsbeziehungen mit der Volksrepublik China (zum Teil auch mit Russland) eingegangen sind und dass die sogenannten BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, China, Indien und Südafrika) bereits seit mehr als einem Jahrzehnt erfolgreich zusammenarbeiten. Während des G-7-Gipfels in Ellmau (Österreich, Juni 2022) fand in Beijing ein Gipfeltreten der BRICS-Staaten statt, der nicht nur diese Kooperation bestätigte, sondern auch eine Erklärung zu den Prinzipien einer künftigen multilateralen Weltordnung – jenseits der Vorherrschaft des Westens – verabschiedete.11 Der Kanzler fragt sich nicht, warum diese Länder des »Südens« die Kooperation mit China und auch mit Russland suchen. Diese verstehen die »regelbasierte Ordnung«, auf die sich die führenden Politiker des Westens berufen, einerseits als eine Ordnung, in der völkerrechtswidrige militärische Interventionen der USA und ihrer Verbündeten noch nicht einmal lange zurückliegen. Andererseits dienen diese »Regeln« den wirtschaftlichen Interessen des Westens (»Globalisierung«, freie Märkte, »Washington Consensus«). Schließlich bildet – als Basis dieser Regeln – der poltisch-militärische Führungsanspruch der USA (mit den 800 US-Militärstützpunkten in der ganzen Welt) eine Voraussetzung für die Marginalität der postkolonialen Staaten des »Südens« auf der Bühne der Weltpolitik und der Weltwirtschaft sowie für deren innere Widersprüche. Als Politiker*innen der Grünen um das Jahr 2000 noch zum Weltwirtschaftsforum nach Porto Alegre oder Genua pilgerten und der Losung »Die Welt ist keine Ware« applaudierten, war ihnen dieser Zusammenhang durchaus bewusst. Der Kanzler – als ehemals linker Sozialdemokrat – hat sicher inzwischen seine alten Schriften von Luxemburg und Lenin oder die 11 Vgl. dazu weiter unten, S. 115ff. 2. Der Bundeskanzler verkündet die »Zeitenwende« 18 der »Weltsystemtheorie« (Immanuel Wallerstein, Giovanni Arrighi, Samir Amin und André Gunther Frank) entsorgt. Der Imperialismus-Begriff von Olaf Scholz ist relativ schlicht. Er bezeichnet die Politik von Großmächten (»Imperien«), die kleine Nachbarstaaten an ihren Grenzen (oder in ihrem »Hinterhof«, den sie selbst definieren) bedrohen oder militärisch angreifen, sofern diese eine konfliktreiche (und nicht kooperative) Politik mit ihrem großen Nachbarn betreiben und zugleich den (politisch-militärischen, wirtschaftlichen und ideologischen) Schutz von konkurrierenden Großmächten oder Staatenbündnissen suchen. Den Anhängern der realistischen Schule der internationalen Beziehungen gilt das Interesse einer Großmacht, an ihren Grenzen die Entstehung eines solchen sicherheitspolitischen Risikos bzw. Krisenherdes zu verhindern, als legitimes Staatsinteresse. Im Austausch für dieses Interesse gewährt die Großmacht dem kleineren Nachbarn Sicherheit und Schutz. Nach dem Ende der Sowjetunion haben die russischen Regierungen – vor allem unter Putin – immer wieder die Anerkennung dieses Interesses durch den Westen (u.a. im Deutschen Bundestag 2001 oder 2007 bei der Münchener Sicherheitskonferenz) gefordert und auch hinsichtlich der NATO-Mitgliedschaft (z.B. von Georgien und der Ukraine) »rote Linien« definiert. Modernes Vorbild für dieses imperialistische Verhalten von Großmächten sind die USA selbst, die seit der Monroe-Doktrin des Jahres 1823 (gegen die alten europäischen Kolonialmächte) Mittel- und Südamerika zu ihrem »Hinterhof« (d.h. zu ihrer Einflusssphäre) erklärt haben. Daraus haben sie ihr Recht auf eine hohe Zahl von militärischen und politischen Interventionen in Lateinamerika abgeleitet, Regierungen zu stürzen oder zu verhindern, die sich von dieser Dominanz – und den damit verbundenen Formen der Ausbeutung, Abhängigkeit und Unterdrückung für die breiten Massen des Volkes – befreien wollten (vgl. dazu Galeano 1972). Die Forderung nach der Stärkung der EU als »geopolitischen Akteur« in einer »Welt konkurrierender Großmächte« impliziert natürlich auch eine Erweiterung des Imperialismus-Begriffs, die über die Kritik an dem Verhalten einer Großmacht gegenüber einem »kleinen Nachbarn« hinausgeht. Scholz fordert eine Stärkung der EU, in der es keine »nationalen Alleingänge« mehr geben darf. »Das können wir uns schlicht nicht mehr leisten, wenn wir weiter gehört werden wollen in einer Welt konkurrierender Großmächte«, in der sich die EU als Großmacht behaupten muss. Dabei fällt Deutschland – aufgrund seiner wirtschaftlichen Macht sowie aufgrund der geopolitischen Herausforderungen, die mit seiner »Mittellage in EuKapitel 1: Vom Geist der Zeit: Polykrise, Epochenbruch, Zeitenwende 19 ropa« verbunden sind – eine Führungsrolle zu. Nach Scholz kann die Lösung der Weltprobleme nur gelingen, »wenn Deutschland in dieser schwierigen Zeit Verantwortung für Europa und in der Welt übernimmt. Führen, das kann nur heißen, zusammenführen, und zwar im doppelten Wortsinn. Indem wir zusammen mit anderen Lösungen erarbeiten und auf Alleingänge verzichten. Und indem wir, als Land, das auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges lag, Ost und West, Nord und Süd in Europa zusammenführen« (siehe Anm. 7). Nach den beiden Weltkriegen, nach dem Ende des »Zeitalters der Extreme« (Eric Hobsbawm), war diese Frage nach einer deutschen Führungsrolle in Europa und der Welt auch in den westlichen Bündnissystemen geklärt und für die Außenpolitik der BRD tabuisiert. Deutschland musste sich in der NATO den USA (und den anderen Atommächten) unterordnen. Lange Zeit galt als Basisprämisse amerikanischer Europapolitik im Kalten Krieg: »To keep communism out and Germany down!«. Noch in der großen Wendezeit der Jahre 1989 bis 1991 – nach dem Ende der Sowjetunion, des Kalten Krieges und der deutschen Einigung – fürchteten die großen Verbündeten im Westen die Macht und Rolle eines geeinten Deutschlands in einem nach Osten erweiterten Europa; denn die Nachkriegszeit war nun endgültig abgeschlossen.12 Zur gleichen Zeit hatte der amerikanische Präsident George W. Bush sr. im Jahre 1989 (in einer Rede in Mainz) im Beisein des deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl von den USA und der BRD als »Führer in Partnerschaft« (leaders in partnership) gesprochen und damit große Erwartungen geweckt. Er fügte hinzu: »Natürlich hat Führung einen ständigen Begleiter: Verantwortung.« Nunmehr wurde auch in der deutschen Debatte immer deutlicher gefordert, dass das Land mehr »Verantwortung« im Rahmen von militärischen Operationen des Westens übernehmen muss.13 Im 12 In der Zeitschrift »International Security« hatte im Jahre 1990 der US-amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer – einer der führenden Köpfe der sog. Realistischen Schule der internationalen Beziehungen – die (viel diskutierte) These vertreten, dass mit dem Ende der Systemkonkurrenz Europa zu den zwischenimperialistischen Spannungen der Periode vor 1914 zurückfallen könne und dass dabei die zukünftige Rolle Deutschlands im Zentrum stehe. Er empfahl sogar, Deutschland mit Atomwaffen auszustatten, um damit einen Beitrag zur Stabilität in Europa zu leisten (Mearsheimer 1990). 13 Im Jahre 2013 wurde ein Papier mit dem Titel »Neue Macht – Neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch« der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und des German Marshall Fund of the United States (GMF) veröffentlicht. Darin wurde eine Neuorientierung deutscher 2. Der Bundeskanzler verkündet die »Zeitenwende« 20 Jugoslawienkrieg der NATO sprach der deutsche (sozialdemokratische) Bundeskanzler davon, dass Deutschland (jetzt auch militärisch) aus dem »Schatten der Geschichte« des »schrecklichen« 20. Jahrhunderts herausgetreten sei – und es war kurz danach ein Verteidigungsminister von der SPD davon überzeugt, dass mit dem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan »auch am Hindukusch die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland« verteidigt werde. Jetzt verkündet der deutsche Bundeskanzler (wieder ein Sozialdemokrat) angesichts des Krieges in der Ukraine eine »Zeitenwende«,14 in der Deutschland seine Sicherheitspolitik im Rahmen der NATO auf die Abwehr der »russischen Bedrohung« konzentrieren und verstärken muss. Dabei wird Deutschland eine Führungsrolle in einer erweiterten EU zu spielen haben, die im geopolitischen Kräftemessen innerhalb einer multipolaren Weltordnung (mit den Großmächten USA, China, Russland) auch strategisch eine eigenständige Rolle zu spielen hat. Aus der Sicht von George Friedman, einem US-amerikanischen Experten für globale Geopolitik (in der Tradition von Henry Kissinger und Zbigniew Brzezinski),15 stellt sich schon 2015 »wieder einmal die deutsche Frage«: »Die Europa-Frage ist wieder einmal die Deutschland-Frage: Was will Deutschland? Was fürchtet Deutschland, was wird es tun, was nicht? Es ist die alte Europa-Frage und sie geht einAußenpolitik in diesem Sinne gefordert. Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck übernahm diese Vorschläge in einer Rede vor der Münchener Sicherheitskonferenz im Januar 2014. Vgl.: Deppe 2014: 11ff. 14 Und der aktuelle deutsche (wieder ein Sozialdemokrat) Verteidigungsminister findet, dass die Bundeswehr »kriegstüchtig werden« und die gesamte Gesellschaft dafür aufgestellt werden muss. 15 Zbigniew Brzezinski war der Sicherheitsberater demokratischer Präsidenten (von Jimmy Carter bis Bill Clinton). Im Jahre 1997 veröffentlichte er unter dem Titel »Das große Schachbrett« eine Studie über die »amerikanische Vorherrschaft (primacy) und ihre geostrategischen Imperative«. Darin vertrat er die Auffassung, dass die Ukraine für Russlands Zukunft und den Frieden der Schlüssel sein wird; denn in der Ukraine entscheide sich, ob Russland sich nach Europa orientiert oder in imperiales Auftrumpfen zurückfällt. »Allein schon die Existenz einer unabhängigen Ukraine hilft, Russland zu verändern. Ohne die Ukraine hört Russland auf, ein eurasisches Imperium zu sein. Es kann zwar immer noch imperialen Status beanspruchen, würde dann aber in Konflikte mit den zentralasiatischen Staaten verwickelt. Auch China würde sich erneuter russischer Dominanz in Zentralasien entgegenstellen. Wenn Russland aber die Kontrolle über die Ukraine zurückgewinnt, wäre es wieder eine Imperialmacht« (Brzezinski 1997: 113). All die westlichen Hoffnungen, dass Russland sich öffnet und modernisiert, dass es zu einem demokratischen Partner eines demokratischen Amerika wird, sind aus Brzezinskis Sicht davon abhängig, dass Russland den Herrschaftsanspruch über die Ukraine aufgibt. Kapitel 1: Vom Geist der Zeit: Polykrise, Epochenbruch, Zeitenwende 21 her mit der allerältesten Frage in Europa: Wann bricht der nächste Krieg aus und wo?« (Friedman 2015: 213) 3. Der Bellizismus (oder: die Kriegsbesessenheit) des liberalen Imperialismus Die Positionen des deutschen Bundeskanzlers werden von einer breiten Koalition politischer Kräfte sowie von Journalisten und Wissenschaftlern unterstützt. Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hielt am 28. Oktober 2022 eine »Rede an die Nation«, in der er den 24. Februar, den Tag der »russischen Invasion«, als einen »Epochenbruch« bezeichnete, an dessen »Morgen [...] die Welt eine andere geworden [...] war« (Steinmeier 2022). Kurz zuvor war er mit anderen Politikern in die Ukraine gereist und verbrachte während eines russischen Angriffes einige Zeit in einem »Luftschutzkeller«. Als Außenminister unter Angela Merkel hatte Steinmeier in der Ukrainekrise des Jahres 2014 – zusammen mit dem französischen Außenminister – wesentlich an den sogenannten Minsker-Vereinbarungen mitgewirkt. Die USA waren daran nicht beteiligt und unterstützten danach die Bemühungen der Kiewer Regierung und von Präsident Selenskyj, die Umsetzung des Abkommens zu sabotieren. Steinmeier wurde mit dem Beginn des Krieges aus der Ukraine bzw. vom rechtsradikalen Ukraine-Botschafter Andrij Melnyk in Berlin scharf kritisiert.16 Inzwischen hat sich der Bundespräsident voll auf die Position von Kanzler Scholz begeben. Im ideologischen Krieg um die Weltordnung stehen Spitzenpolitiker der Partei Die Grünen – mit der Außenministerin Annalena Baerbock und dem Fraktionsvorsitzenden Anton Hofreiter – in der vordersten Frontlinie der Streiter für die »Zeitenwende«. Sie fordern, die Ukraine mit mehr Waffen zu unterstützen, werben für einen »Siegfrieden« gegen Russland, der die Rückeroberung des Donbass und der Krim einschließt, und sie fordern die Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO. Sie wissen, dass diese Forderungen den Krieg auf unbestimmte Zeit verlängern, solange diese mit der politischen Führung der USA abgesprochen sind. Gleichzeitig sind sie mit den 16 Der ukrainische Botschafter in Berlin hatte dem Bundespräsidenten deshalb im Tagesspiegel vorgeworfen, »seit Jahrzehnten ein Spinnennetz der Kontakte mit Russland geknüpft« zu haben. »Für Steinmeier war und bleibt das Verhältnis zu Russland etwas Fundamentales, ja Heiliges, egal..
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