Gegen Militarismus und Krieg: Was können wir von Karl Liebknechts Engagement lernen?
Karl Liebknecht

Karl Liebknecht (ca. 1911) Karl Paul August Friedrich Liebknecht[1] (* 13. August 1871 in Leipzig; † 15. Januar 1919 in Berlin) war ein prominenter Sozialist und Antimilitarist zu Zeiten des Deutschen Kaiserreiches. Seit 1900 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, war er von 1912 bis 1916 einer ihrer Abgeordneten im Reichstag, wo er den linksrevolutionären Flügel der SPD vertrat. Ab 1915 bestimmte er zusammen mit Rosa Luxemburg wesentlich die Linie der Gruppe Internationale. 1916 wurde er aufgrund seiner Ablehnung der Burgfriedenspolitik aus der SPD-Fraktion ausgeschlossen und wenig später wegen „Kriegsverrats“ zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach etwa zwei Jahren Haft wurde er knapp drei Wochen vor dem Ende des Ersten Weltkrieges freigelassen. Während der Novemberrevolution rief Liebknecht am 9. November 1918 vom Berliner Schloss die „freie sozialistische Republik Deutschland“ aus. Am 11. November gründete er gemeinsam mit Luxemburg, Leo Jogiches, Ernst Meyer, Wilhelm Pieck, Hugo Eberlein und anderen die Gruppe Internationale neu als Spartakusbund. Im Dezember wurde sein Konzept einer Räterepublik von der Mehrheit im Reichsrätekongress abgelehnt. Zum Jahreswechsel 1918/19 war Liebknecht einer der Gründer der Kommunistischen Partei Deutschlands. Kurz nach der Niederschlagung des Berliner Januaraufstands wurden er und Luxemburg von Angehörigen der Garde-Kavallerie-Schützen-Division nach Rücksprache mit Gustav Noske erschossen.
Karl Liebknecht
Militarismus und Antimilitarismus
Erster Teil Militarismus
II. Der kapitalistische Militarismus
Vorbemerkung
Der Militarismus ist nichts spezifisch Kapitalistisches. Er ist vielmehr allen Klassengesellschaftsordnungen, von denen die kapitalistische die letzte ist, eigen und wesentlich. Freilich entwickelt der Kapitalismus ebenso wie jede andere Klassengesellschaftsordnung seine besondere Sorte Militarismus [1]; denn der Militarismus ist seinem Wesen nach Mittel zum Zweck oder zu mehreren Zwecken, die je nach der Art der Gesellschaftsordnung verschieden und je nach ihrer Verschiedenheit auf verschieden gearteten Wegen zu erreichen sind. Das tritt nicht nur im Heerwesen zutage, sondern auch im übrigen Inhalt des Militarismus, der sich aus der Erfüllung seiner Aufgaben ergibt.
Der kapitalistischen Entwicklungsstufe entspricht am besten das Heer der allgemeinen Wehrpflicht, das aber, obwohl ein Heer aus dem Volke, kein Heer des Volkes, sondern ein Heer gegen das Volk ist, oder mehr und mehr dazu umgearbeitet wird.
Es tritt bald als stehendes Heer auf, bald als Miliz. Das stehende Heer, das aber auch keine Erscheinung nur des Kapitalismus ist [2], erscheint als seine entwickeltste, ja seine normale Form; das wird unten gezeigt werden.
1. „Militarismus nach außen“, Marinismus und Kolonialmilitarismus
Kriegsmöglichkeiten und Abrüstung
Die Armee der kapitalistischen Gesellschaftsordnung erfüllt ebenso wie die Armee der anderen Klassengesellschaftsordnungen einen doppelten Zweck.
Sie ist zuvörderst eine nationale Einrichtung, bestimmt zum Angriff nach außen oder zum Schutz gegen eine Gefährdung von außen, kurzum bestimmt für internationale Verwicklungen oder, um ein militärisches Schlagwort zu gebrauchen, gegen den äußeren Feind.
Diese Funktion der Armee ist auch durch die neuere Entwicklung keineswegs beseitigt. Für den Kapitalismus ist der Krieg in der Tat, um Moltkes Worte zu gebrauchen, „ein Glied in Gottes Weltordnung“. [3] Allerdings besteht innerhalb Europas selbst wenigstens die Tendenz zur Beseitigung gewisser Kriegsursachen und sinkt trotz Elsaß-Lothringens und der Sorgen um das französische Trifolium Clemenceau, Pichon, Picquart, trotz der orientalischen Frage, trotz des Panislamismus und trotz der sich eben in Rußland vollziehenden Umwälzung die Wahrscheinlichkeit eines aus Europa selbst herausbrechenden Krieges mehr und mehr. Dafür sind jedoch neue, höchst gefährliche Reibungsflächen entstanden infolge der von den sogenannten Kulturstaaten verfolgten kommerziellen und politischen Expansionsbestrebungen [4], die uns auch die orientalische Frage und den Panislamismus in erster Linie beschert haben, infolge der Weltpolitik, der Kolonialpolitik im besonderen, die – wie selbst ein Bülow am 14. November 1906 im Deutschen Reichstage rückhaltlos anerkannte [5] – ungezählte Konfliktsmöglichkeiten in sich birgt [6] und die gleichzeitig zwei andere Formen des Militarismus immer energischer in den Vordergrund drängt: den Marinismus und den Kolonialmilitarismus. Wir Deutschen können ein Lied von dieser Entwicklung singen!
Der Marinismus, der Flottenmilitarismus, ist das echte Geschwister des Landmilitarismus und trägt alle abstoßenden und bösartigen Züge dieses letzteren. Er ist in noch höherem Maße als gegenwärtig der Landmilitarismus nicht nur Folge, sondern auch Ursache internationaler Gefahren, der Gefahr eines Weltkrieges.
Wenn uns gute Leute und Betrüger glauben machen wollen, zum Beispiel die Spannung zwischen Deutschland und England [7] sei nur etwelchen Mißverständnissen, Hetzereien böswilliger Zeitungsschreiber, prahlerischen Redensarten schlechter Musikanten der Diplomatie zu verdanken, so wissen wir es besser. Wir wissen, daß diese Spannung eine notwendige Folge der sich verschärfenden wirtschaftlichen Konkurrenz Englands und Deutschlands auf dem Weltmarkte ist, also eine direkte Folge der zügellosen kapitalistischen Entwicklung und internationalen Konkurrenz. Der Spanisch- Amerikanische Krieg um Kuba, der Abessinische Krieg Italiens, der Transvaalkrieg Englands, der Chinesisch-Japanische Krieg, das chinesische Abenteuer der Großmächte, der Russisch-Japanische Krieg, sie alle, wenn auch noch so mannigfaltig in ihren besonderen Ursachen und Bedingungen, haben doch den einen großen gemeinschaftlichen Grundzug des Expansionskrieges. Und wenn wir uns der englisch-russischen Spannung in Tibet, Persien und Afghanistan, der japanisch-amerikanischen Unstimmigkeiten aus dem Winter 1906 und schließlich des Marokkokonfliktes glorreichen Angedenkens mit der französisch-spanischen Kooperation vom Dezember 1906 [8] erinnern, so erkennen wir, daß die kapitalistische Expansions- und Kolonialpolitik unter das Gebäude des Weltfriedens zahlreiche Minen gelegt hat, deren Zündschnuren in den verschiedensten Händen liegen und die gar leicht und unerwartet auffliegen können. [9] Gewiß mag eine Zeit kommen, wo die Aufteilung der Welt so weit fortgeschritten ist, daß man an eine Vertrustung in überhaupt möglichen Kolonialbesitzes unter die Kolonialstaaten, sozusagen an eine Ausschaltung der Kolonialkonkurrenz zwischen den Staaten denken kann, wie sie für die private Konkurrenz zwischen kapitalistischen Unternehmern in den Kartellen und Trusts in gewissem Umfange erfolgt ist. Aber das hat noch gute Weile und kann schon allein durch die wirtschaftliche und nationale Erhebung Chinas ins Unabsehbare weit hinausgeschoben werden.
So erscheinen denn alle die angeblichen Abrüstungspläne vorläufig nur als Narretei, Schaumschlägerei und Übertölpelungsversuche. Die Hauptautorschaft des Zaren an der Haager Komödie [1*] stempelt sie durchweg.
Gerade in unseren Tagen ist die Seifenblase der angeblichen engflachen Abrüstung lächerlich zerplatzt: Der Kriegsminister Haldane, der angebliche Förderer solcher Absichten, hat sich in scharfen Worten als Gegner jeder Minderung der aktiven Wehrmacht bekannt und geradezu als militaristischer Treiber entpuppt und betätigt [10], während gleichzeitig die englisch-französische Militärkonvention am Horizont aufgeht. Und zur nämlichen Stunde, wo die zweite „Friedenskonferenz“ vorbereitet wird, steigert Schweden meine flotte, wuchern in Amerika [11] und Japan die Militärbudgets immer höher ins Kraut, betont das Ministerium Clemenceau in Frankreich unter einer 208 Millionen-Mehrforderung [12] die Notwendigkeit einer starken Armee und Marine, wird von den Hamburger Nachrichten als Quintessenz der Stimmung in den herrschenden Klassen Deutschlands der Glaube an die alleinseligmachende militärische Rüstung geschildert und das deutsche Volk von der Regierung mit militärischen Mehrforderungen [13] beglückt, nach denen selbst unsere Liberalen mit allen zehn Fingern ausgreifen. [14] Man kann daran die Naivität ermessen, die der französische Senator d’Estournelles de Constant, ein Mitglied des Haager Gerichtshof es, in seinem jüngsten Aufsatz über die Beschränkung der Rüstungen [15] entwickelt. In der Tat: Für diesen politischen Phantasten macht nicht nur eine Schwalbe den Sommer der Abrüstung, ihm genügt schon ein Sperling. Herzerquickend fast mutet demgegenüber die ehrliche Brutalität an, mit der die Konferenzgroßmächte die Steadschen Vorschläge abfallen lassen und sich sträuben, die Abrüstungsfrage auch nur auf die Tagesordnung der zweiten Konferenz zu setzen.
Der dritte Sprößling des Kapitalismus auf militärischem Gebiete, der Kolonialmilitarismus, verdient noch einige Worte. Die Kolonialarmee, das heißt das stehende Kolonialheer, nicht die jetzt angeblich auch für Deutsch-Südwestafrika „geplante“ Kolonialmiliz [16], noch weniger die ganz differente Miliz der fast selbständigen englischen Kolonien, spielt für England eine außerordentlich große Rolle; ihre Bedeutung wächst auch für die übrigen Kulturstaaten. Während sie für England außer der Aufgabe einer Unterdrückung oder Inschachhaltung des kolonialen „inneren Feindes“, nämlich der Eingeborenen der Kolonien, die Aufgabe eines Machtmittels gegen den äußeren Kolonialfeind, zum Beispiel Rußland, erfüllt, fällt ihr, oft unter der Firma „Schutztruppe“ oder „Fremdenlegion“ [17], bei den übrigen Kolonialstaaten, besonders Amerika und Deutschland [18], fast ausschließlich die erste Aufgabe zu, die Aufgabe, die unglückseligen. Eingeborenen zur Fron für den Kapitalismus in die Bagnos zu treiben und, wenn sie ihr Vaterland gegen die fremden Eroberer und Blutsauger schützen wollen, erbarmungslos zusammenzuschießen, niederzusäbeln und auszuhungern. Die Kolonialarmee, die sich vielfach aus dem Abhub der europäischen Bevölkerung zusammensetzt [19], ist das bestialischste, abscheulichste aller Werkzeuge unserer kapitalistischen Staaten. Es gibt kaum ein Verbrechen, das der Kolonialmilitarismus und der in ihm geradezu gezüchtete Tropenkoller nicht gezeitigt hätten. [20] Die Tippelskirch, Woermann, Podbielski, die Leist, Wehlan, Peters, Arenberg und Genossen [3*] sind des auch für Deutschland Zeugen und Beweise; Sie sind die Früchte, an denen man das Wesen der Kolonialpolitik erkennt, jener Kolonialpolitik, die unter der Vorspiegelung [21], Christentum und Zivilisation zu verbreiten oder die nationale Ehre zu wahren, zum Profit der kapitalistischen Kolonialinteressen mit frommem Augenaufschlag wuchert und betrügt, Wehrlose mordet und notzüchtigt, den Besitz Wehrloser sengt und brennt, Hab und Gut Wehrloser raubt und plündert, Christentum und Zivilisation höhnt und schändet. [22] Vor Indien und Tongking, dem Kongostaat, Deutsch-Südwestafrika und den Philippinen erbleichen die Sterne selbst eines Cortez, selbst eines Pizarro.
2. Proletariat und Krieg
Wenn oben die Funktion des Militarismus gegen den äußeren Feind als eine nationale bezeichnet ist, so ist damit nicht gesagt, daß es eine Funktion sei, die den Interessen, der Wohlfahrt und dem Willen der kapitalistisch regierten und ausgebeuteten Völker entspricht. Das Proletariat der gesamten Welt hat von jener Politik, die den Militarismus nach außen notwendig macht, keinen Nutzen zu erwarten, seine Interessen widersprechen ihr sogar auf das aller- schärfste. Jene Politik dient mittelbar oder unmittelbar den Ausbeutungsinteressen der herrschenden Klassen des Kapitalismus. Sie sucht der regellos-wilden Produktion und der sinnlos-mörderischen Konkurrenz des Kapitalismus mit mein oder weniger Geschick über die Welt hinaus den Weg zu bereiten, indem sie alle kulturellen Pflichten gegen die minder entwickelten Völkerschaften niedertrampelt; und sie erreicht doch im Grunde genommen nichts, als eine wahnsinnige Gefährdung des ganzen Bestandes unserer Kultur durch die Heraufbeschwörung weltkriegerischer Verwicklungen.
Auch das Proletariat begrüßt den gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung unserer Tage. Es weiß aber, daß sich dieser wirtschaftliche Aufschwung auch ohne den gewappneten Arm, ohne Militarismus und Marinismus, ohne den Dreizack in unserer Faust und ohne die Bestialitäten unserer Kolonialwirtschaft friedlich entfalten könnte, sofern ihm vernünftig geleitete Gemeinwesen unter internationaler Verständigung und in Übereinstimmung mit den Kulturpflichten und Kulturinteressen dienen würden. Es weiß, daß unsere Weltpolitik zu einem großen Teil eine Politik der gewaltsamen und plumpen Bekämpfung und Verwirrung der inneren sozialen und politischen Schwierigkeiten ist, vor denen sich die herrschenden Klassen sehen, kurzum eine Politik bonapartistischer Täuschungs- und Irreführungsversuche. Es weiß, daß die Arbeiterfeinde ihre Suppe mit Vorliebe am Feuer des beschränkten Chauvinismus kochen, daß schon die von Bismarck skrupellos erzeugte Kriegsangst des Jahres 1887 der gemeingefährlichsten Reaktion gar trefflich Vorspann leistete und daß ein jüngst [23] enthülltes sauberes Plänchen hochgestellter Persönlichkeiten dahin ging, im trüben kriegerischer Hurrastimmung dem deutschen Volk „nach Heimkehr eines siegreichen Heeres“ das Reichstagswahlrecht wegzutischen. Es weiß, daß der Vorteil des wirtschaftlichen Aufschwunges, um dessen Ausnützung sich jene Politik bemüht, und daß im besonderen aller Vorteil unserer Kolonialpolitik nur der Unternehmerklasse, dem Kapitalismus, dem Erbfeind des Proletariats, in die weiten Taschen rinnt. Es weiß, daß die Kriege, die die herrschenden Klassen für sich führen, gerade ihm die unerhörtesten Opfer an Gut und Blut [24] auferlegen, für die es nach vollbrachter Arbeit mit jämmerlichen Invalidenpensionen, Veteranenbeihilfen, Leierkästen und Fußtritten aller Art regaliert wird. Es weiß, daß sich bei jedem Krieg ein Schlammvulkan hunnischer Roheit und Gemeinheit über die beteiligten Völker ergießt und die Kultur auf Jahre hinaus rebarbarisiert. [25] Es weiß, daß das Vaterland, für das es sich schlagen soll, nicht sein Vaterland ist, daß es für das Proletariat jedes Landes nur einen wirklichen Feind gibt: die Kapitalisten- klasse, die das Proletariat unterdrückt und ausbeutet; daß das Proletariat jedes Landes durch sein eigenstes Interesse eng verknüpft ißt mit dem Proletariat jedes anderen Landes; daß gegenüber den gemeinsamen Interessen des internationalen Proletariats alle nationalen Interessen zurücktreten und der internationalen Koalition des Ausbeutertums und der Knechtschaft die internationale Koalition der Ausgebeuteten, der Geknechteten gegenübergestellt werden muß. Es weiß, daß das Proletariat, sofern es in einem Kriege verwendet werden sollte, zum Kampfe gegen seine eigenen Brüder und Klassengenossen geführt würde und damit zum Kampfe gegen seine eigenen Interessen.
Das klassenbewußte Proletariat steht daher jener internationalen Aufgabe der Armee wie der gesamten kapitalistischen Ausdehnungspolitik nicht nur kühl bis ans Herz hinan, sondern in ernster und zielbewußter Feindschaft gegenüber. Es hat die vornehmste Aufgabe, den Militarismus auch in dieser Funktion bis aufs Messer zu bekämpfen, und es wird sich dieser seiner Aufgabe in immer stärkerem Maße bewußt- das zeigen die internationalen Kongresse, das zeigt der Austausch von Solidaritätskundgebungen zwischen deutschen und französischen Sozialisten beim Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges, der spanischen und amerikanischen Sozialisten beim Ausbruch des kubanischen Krieges, der russischen und japanischen Sozialisten beim Ausbruch des ostasiatischen Krieges von 1904 und der 1905 für den Fall eines schwedisch-norwegischen Krieges von den schwedischen Sozialdemokraten gefaßte Generalstreiksbeschluß, das hat weiter die parlamentarische Stellungnahme der deutschen Sozialdemokratie zu den Kriegskrediten von 1870 und zum Marokkokonflikt kundgetan, das beweist auch die Haltung des klassenbewußten Proletariats gegenüber der russischen Intervention.
weiter auf: Karl Liebknecht: Militarismus u. Antimilitarismus (1-2 Kapitalistischer Militarismus) (marxists.org)