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Günter Verheugen: Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht

Autorenbild: Wolfgang LieberknechtWolfgang Lieberknecht


Antworten auf die Frage, warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht, gibt ein kürzlich erschienener Sammelband zum Thema Ukraine-Krieg. Darin beschäftigen sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen und aus verschiedenen Ländern sowie zwei ehemalige deutsche Außenpolitiker mit den Ursachen und Folgen des Krieges in und um die Ukraine. „Kein Frieden ohne Diplomatie“ ist auf dem Buchrücken zu lesen. Der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen hat das Buch am Dienstag in Berlin vorgestellt. Ein Bericht von Tilo Gräser. „Es ist wieder passiert. Wie in Kriegen zuvor gerieren sich viele Medien im russischen Krieg gegen die Ukraine nicht als Vierte Gewalt, die grundsätzlich alles infrage stellt, sondern vielfach als Kriegspartei.“ Das stellt die Kommunikationswissenschaftlerin Sabine Schiffer in ihrem Beitrag im kürzlich erschienenen Sammelband „Ukrainekrieg – Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht“ fest. Sie meinte damit nicht etwa russische Medien, sondern die der westlichen Staaten, einschließlich der Bundesrepublik.

„Stimmen, die Zweifel an der militärischen Aufrüstung der Ukraine als alleinigem Mittel gegen den russischen Angriff anmelden, werden seit Kriegsbeginn attackiert“, so Schiffer. In den etablierten Medien würden sie im Framing als Unbelehrbare vorkommen, aber nicht als Anlass zu kritischen Recherchen zur Kriegspropaganda. Die Kommunikationswissenschaftlerin attestiert auch den deutschen etablierten Medien „Feindbildpflege durch Dämonisierung und Doppelstandards“ sowie „Schuldzuweisung statt Recherche“.

Das bestätigte am Dienstag in Berlin mit Günter Verheugen ein ehemaliger hochrangiger deutscher Politiker. Er stellte gemeinsam mit den beiden Herausgebern Sandra Kostner und Stefan Luft den im Westend-Verlag erschienenen Band vor. Der ehemalige FDP- und SPD-Außenpolitiker sowie frühere EU-Kommissar wünscht sich von den Medien, „nicht einfach das zu übernehmen, was ihnen angeliefert wird“. Ihm drehe sich „immer der Magen um“, wenn er sehe, wie gezielte Informationen aus US-Geheimdiensten über US-Zeitungen wie „New York Times“ und „Washington Post“ in deutsche und europäische Medien gelangen.

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Kritische Stimmen diffamiert, Vorgeschichte als Tabuthema,

Lange vorbereiteter Regime Change

Der Westen habe alle roten Linien Moskaus überschritten, vor allem jene klar geäußerte zur 2008 angekündigten Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato. Die Warnung davor sei ignoriert worden, so der Ex-EU-Kommissar mit Blick auf die Folgen. Er erinnerte auch an das „Schlüsseljahr 2013/14“: „Der Maidan ist auch so eine Geschichte, die bei uns nicht hinterfragt werden darf“. Neben dortigen spontanen Demonstrationen sei das Geschehen auf dem zentralen Platz in Kiew „auch Teil einer seit längerem vorbereiteten Regime-Change-Operation“ gewesen.

Die USA seien dabei federführend gewesen, wovon nicht nur das „Fuck the EU“-Telefonat von Victoria Nuland zeuge. Aber auch einige EU-Staaten, „einschließlich Deutschland“, seien an dem Staatsstreich in Kiew im Februar 2014 beteiligt gewesen, stellte Verheugen klar. „Dieser Regime Change ist vorbereitet worden und das Maidan-Ergebnis, obwohl ein eindeutiger Verfassungsbruch in der Ukraine, ist auch sofort akzeptiert worden.“

Der ehemalige EU-Kommissar, der unter anderem für die EU-Osterweiterung zuständig war, berichtete davon, dass er den Kiewer Ex-Präsidenten Petro Poroschenko sehr gut kenne. „Ich weiß, was er im Kopf hatte.“ Das sei „nicht das, was passiert ist. Aber ich weiß auch, unter welchen Zwängen er stand.“ Verheugen fügte erklärend hinzu: „Sie haben den rechtsradikalen, nationalistischen Geist aus der Flasche gelassen und bis heute haben sie ihn nicht wieder reingekriegt.“

(..) Überhöhung des Konfliktes, „Deutschland ist Kriegspartei“, Frieden nur mit Russland möglich (..)

Chancen für eine Lösung

Dohnanyi sieht die Ursache des Krieges in und um die Ukraine in der Frage ihrer künftigen geopolitischen Einbindung. Darin sieht er zugleich „Chancen für eine Lösung und für Frieden nicht nur in Europa“. Und erklärt: „Einen Frieden für die Ukraine und für Europa kann es nur mit Russland und nicht gegen Russland geben“. „Allen schnellfüßigen Kritikern der deutschen Russlandpolitik“ der vergangenen Jahrzehnte gibt Dohnanyi ein Zitat Willy Brandts auf den Weg: „Außenpolitik ist Generalstabsarbeit am Frieden.“ Und fügt hinzu: „Vielleicht gibt es ja noch einen Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, der Frau Baerbock wenigstens diesen einen Satz mal zum Lesen gibt.“

Dem vorgestellten Buch sind viele Leser zu wünschen. Die erste Auflage, auch wenn sie nicht sonderlich hoch war, sei innerhalb von vier Wochen ausverkauft gewesen, berichtete Mitherausgeber Luft. Die Frage aus dem Publikum, warum junge Menschen das Buch lesen sollten, beantwortete er so: „Junge Leute sollten das Buch lesen, weil man, ohne die Vergangenheit zu kennen, die Zukunft nicht erleben wird“.

Für Mitherausgeberin Kostner ist es wichtig, dass Jüngere, die die Entspannungspolitik nicht kennengelernt haben, die Hintergründe des Krieges besser verstehen können. Es gehe auch darum, zu verstehen, wie Konfrontation und Dynamiken sich aufbauen und wie schwierig es ist, ab einem gewissen Punkt aus diesen Konfrontationen herauszukommen. „Entspannungspolitik ist eine Notwendigkeit, damit man in einer sehr unterschiedlichen Welt, wo es sehr unterschiedliche Interessen gibt, friedlich miteinander koexistieren kann“, fügte sie hinzu.


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