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Folter, Hinrichtungen - in Niederlande schlägt ein Report zur Kolonialgewalt des Landes hohe Wellen

Aktualisiert: 2. Juni 2022

Kolonialgeschichte der Niederlande:Wenn die Vergangenheit zurückkehrt: In den Niederlanden schlägt ein Report zu Kolonialgewalt hohe Wellen. Kommt ein verdrängtes Kapitel der Geschichte des Landes auf den Tisch? Die Niederlande waren einmal eine der bedeutendsten Kolonialmächte der Welt. Gestützt auf die Handelsgesellschaften Westindien-Kompanie und Vereinigte Ostindische Kompanie erwarb und eroberte man ab dem 17. Jahrhundert Gebiete in Amerika (Surinam, das 1975 unabhängig wurde, Teile der Antillen und Brasiliens sowie das heutige New York) und Asien (unter anderem im heutigen Sri Lanka sowie das indonesische Archipel). Sklaverei Daneben spielte das Land eine wichtige Rolle im transatlantischen Sklavenhandel: Rund 550.000 Menschen aus Westafrika wurden auf niederländischen Schiffen nach Amerika gebracht. Auch im heutigen Indonesien wurden geschätzt 600.000 bis 1 Million Menschen versklavt. „Heute vergisst man hier, dass dieses Land seinen Reichtum mit Blut an den Händen erlangte, und zwar 350 Jahre lang.“

Ein Artikel von Tobias Müller 19.5.2022, 11:09 Uhr

Außergerichtliche Hinrichtungen. Folter durch Stromschläge und Schein-Exekutionen. Festgenommene, die nach dem Ende ihres Verhörs erschossen wurden, willkürliche Massenverhaftungen. In Brand gesteckte Dörfer. Es ist ein Kaleidoskop des Horrors, das sich entfaltet, als Mitte Februar in den Niederlanden ein Report präsentiert wird. „Unabhängigkeit, Dekolonisierung, Gewalt und Krieg in Indonesien, 1945–1950“ lautet sein Titel. Das Fazit: Um den indonesischen Unabhängigkeitskampf zu unterdrücken, wandten niederländische Soldaten „systematisch extreme Gewalt“ an, deren Ausmaß jahrzehntelang verschwiegen worden ist.

Wenig später tritt Premierminister Mark Rutte vor die Fernsehkameras. „1945 bis 1949 führten die Niederlande einen kolonialen Krieg in Indonesien“, so beginnt er. Rutte spricht der dortigen Bevölkerung sein tiefes Bedauern „für die systematische und weitverbreitete extreme Gewalt von niederländischer Seite und das Wegschauen früherer Kabinette“ aus.


Tatsächlich ist die dreieinhalb Jahrhunderte andauernde Beherrschung Indonesiens durch die Niederlande und ihre Ostindien-Kompanie in diesem Frühjahr ein großes Thema im Land des einstigen Kolonisators geworden. Schon kurz vor der Präsentation des Reports wird im Amsterdamer Rijksmuseum eine Ausstellung mit dem Titel „Revolution! Indonesien unabhängig“ eröffnet, die noch bis in den Juni zu sehen sein wird. Aus der Sicht von Freiheitskämpfern und Zivilisten, Journalisten, Künstlern, aber auch Kolonisten und der gemischten, sogenannten indo-niederländischen Bevölkerung blickt die Schau auf die Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der Krieg nach dem Krieg

Im damaligen Niederländisch-Indien endete der Weltkrieg nach einer dreijährigen japanischen Besatzung mit der Kapitulation Tokios im August 1945. Danach rief der angehende Präsident Sukarno die Unabhängigkeit Indonesiens aus. Re­prä­sen­tan­t*in­nen des kolonialen Systems und der Kollaboration verdächtigte Menschen wurden attackiert.

Niederländische Truppen versuchten dagegen die alten Machtverhältnisse mit Gewalt wiederherzustellen. Dafür entstand der Begriff „Polizeiliche Aktionen“: ein überaus euphemistischer Ausdruck für einen Krieg, der 100.000 In­do­ne­sie­r*in­nen und 5.000 niederländische Soldaten das Leben kostete. Erst 1949 akzeptierten die Niederlande die Unabhängigkeit Indonesiens.



Stimmen, die einen kritischeren Blick auf die Verhältnisse im einstigen Niederländisch-Indien werfen, finden in der breiten Öffentlichkeit meist wenig Anklang. Eine Ausnahme ist da der Historiker Reggie Baay. 2015 publizierte er das Buch „Daar werd wat gruwelijks verricht“, im Deutschen „Dort wurde etwas Schreckliches vollbracht“ über Sklaverei im Geburtsland seiner Eltern. Der Titel ist eine Anspielung auf ein Zitat von Jan Pieterszoon Coen, dem berüchtigten Gouverneur der Ostindien-Kompanie, der in Indonesien „Großes vollbringen“ wollte.

Die Niederlande und ihr Kolonialreich Kolonien Die Niederlande waren einmal eine der bedeutendsten Kolonialmächte der Welt. Gestützt auf die Handelsgesellschaften Westindien-Kompanie und Vereinigte Ostindische Kompanie erwarb und eroberte man ab dem 17. Jahrhundert Gebiete in Amerika (Surinam, das 1975 unabhängig wurde, Teile der Antillen und Brasiliens sowie das heutige New York) und Asien (unter anderem im heutigen Sri Lanka sowie das indonesische Archipel). Sklaverei Daneben spielte das Land eine wichtige Rolle im transatlantischen Sklavenhandel: Rund 550.000 Menschen aus Westafrika wurden auf niederländischen Schiffen nach Amerika gebracht. Auch im heutigen Indonesien wurden geschätzt 600.000 bis 1 Million Menschen versklavt. Stolz Die Schandtaten der Vergangenheit treten nur langsam in das Bewusstsein der niederländischen Bevölkerung. In einer Umfrage vom vorigen Jahr nannten 50 Prozent der Teilnehmenden die koloniale Vergangenheit „eher etwas, auf das man stolz sein kann” – weit mehr als in jeder anderen früheren Kolonialmacht. (taz)


Kurz nach Veröffentlichung des besagten Reports erreicht die taz Reggie Baay telefonisch. Der Report vom Februar käme 70 Jahre zu spät, bemängelt er. Bisher habe der niederländische Staat jede Verantwortung abgestritten. Baay kritisiert, dass der Fokus des Reports alleine auf der Zeit des Unabhängigkeitskriegs liegt. „Dabei ging dem eine koloniale Periode von 350 Jahren voraus, in der vor allem seit Beginn des 20. Jahrhunderts hart gegen das Unabhängigkeitsbestreben vorgegangen wurde.“


In der niederländischen Gesellschaft, findet Baay, herrsche ein „eklatanter Mangel an historischem Verständnis“, wenn es um das Thema Indonesien geht. Diese Einschätzung bestätigt sich häufig im Alltagsleben – etwa dadurch, dass Nasi oder Bami Gareng, Gado-Gado-Salat und Saté- Spieße zwar zu den kulinarischen Standards im Land zählen, der Grund dafür aber kaum je zur Sprache kommt. Wenn Schulkinder Zeit­zeu­g*­in­nen aus der kolonialen Periode treffen, erzählen diese durchaus eindrucksvoll davon, was sie in japanischen Internierungslagern erleben mussten, doch was sie eigentlich auf jenem Archipel am anderen Ende der Welt trieben, wird dabei nicht infrage gestellt.

Unwillkürlich denkt man bei den Worten Baays an den früheren niederländischen Premier Jan Peter Balkenende, der seinem Land noch vor sechzehn Jahren eine Rückbesinnung auf die Mentalität in der Ostindien-Kompanie empfahl. Balkenende ging es dabei um große Ambitionen und hochgesteckte Ziele, ähnlich der der Handelsgesellschaft, die ab dem 17. Jahrhundert von Jakarta aus den internationalen Gewürzhandel kontrollierte. Dass die Ostindien-Kompanie wirtschaftlichen Belangen häufig mit Gewalt Nachdruck verlieh, übersah nicht nur der Premier geflissentlich, es wird vielmehr bis heute ausgeblendet. „Vor allem die jüngeren Generationen wissen oft nicht einmal, dass es eine Kolonie namens Niederländisch-Indien gab“, bemerkt Baay. „Meine Eltern und ich wurden häufig gefragt, was wir eigentlich hier machen.“


Ein T-Shirt als Statement

Zum Termin mit der taz erscheint Pondaag in einem weißen T-Shirt, auf dem die drei Buchstaben VOC in blutroter Farbe stehen. Die Abkürzung steht für die Ostindien-Kompanie. Dabei ist das „O“ als Kopf stilisiert, der an einem Strick baumelt. Darunter steht ein Schriftzug: „Belanda Maling“. Das erste Wort bedeutet „Niederländer“, das zweite „Dieb“.

Pondaag hat vier Fotos mitgebracht, die aus einem Krieg auf Aceh vor etwa 120 Jahren stammen. Sie zeigen Tote und Verwundete zwischen Palmen und Hütten, Soldaten des Kolonialheeres posieren davor. „Ist das nicht deutlich genug? Sind das keine Kriegsverbrechen?“, fragt er. Auch drei Plastiktütchen zieht er aus seiner Tasche: Nelke, schwarzer Pfeffer, Muskatnüsse. Auf diesen Gewürzen basierte einst die niederländische Dominanz im Welthandel.

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„Heute vergisst man hier, dass dieses Land seinen Reichtum mit Blut an den Händen erlangte, und zwar 350 Jahre lang.“ Auch, dass das unabhängige Indonesien zur Übernahme von viereinhalb Milliarden Gulden kolonialer Schulden genötigt wurde, macht ihn wütend: „Wie kommen die Niederlande dazu zu denken, dass ein Land, das 18.000 Kilometer entfernt liegt, ihnen gehört?“


Dass sich im öffentlichen Bewusstsein nun etwas verändert, kann Pondaag nicht erkennen. In Teilen, so räumt er ein, komme zwar Bewegung in die Debatte, strukturell aber bleibe alles beim Alten. Als Beispiel nennt er genau den Report vom Februar. „Dort ist von ‚extremer Gewalt‘ die Rede, aber nicht von ‚Kriegsverbrechen‘. Dieses Wort haben sie vermieden. Das ist noch immer dieses Glattbügeln, das wir schon seit Jahrzehnten kennen.“


Was die Diskussion um Zwarte Piet angeht, aber auch das Eingestehen der Rolle im transatlantischen Sklavenhandel und der Unterdrückung in den karibischen Kolonien, ist in den Niederlanden in den letzten Jahren durchaus einiges in Bewegung geraten. Im Sommer 2020, als international die Black-Lives-Matter-Kampagne begann, entstand eine neue Dynamik, die diesmal auch das Thema Indonesien nicht aussparte. Ähnlich wie in anderen westeuropäischen Ländern kamen auch hier koloniale Denkmäler in die Kritik. Das „Indische Monument“ in Den Haag, gewidmet den Opfern der japanischen Besatzung, wurde mit antikolonialen Parolen besprüht, und auch am Standbild des Gouverneurs Jan Pieterszoon Coen von der Indischen Handelskompanie in dessen Heimatstädtchen Hoorn gab es Proteste.

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Inzwischen steht Coen, der der Ansicht war, man könne ohne Krieg keinen Handel betreiben und der von seinen Geg­ne­r*in­nen als „Schlächter“ bezeichnet wird, wieder ungestört auf seinem Sockel mitten in der pittoresken Altstadt, auf dem ein weiteres seiner Zitate zu lesen ist: „Verzweifelt nicht!“ Von der Kontroverse um seine Person zeugt ein knapper, pflichtschuldiger Satz auf einer Tafel: „Unumstritten ist das Standbild nicht. Laut Kritikern verdient Coens gewalttätige Handelspolitik im indischen Archipel keine Ehrung.“ Für weitere Informationen lässt sich ein QR-Code scannen, auch ein Besuch im gegenüberliegenden Westfriesischen Museum wird empfohlen.

In der Abendsonne kommen zwei Männer auf das Denkmal zu, ein junger und ein älterer. Sie beginnen sich davor gegenseitig zu fotografieren. Was sie von der Debatte um Coen halten, von der Forderung, das Monument zu entfernen? „Ich denke, dass es hier stehen muss. Es ist ein Teil der Geschichte“, sagt der Jüngere entschieden. Dass der Gouverneur in Indonesien „Großes vollbrachte“, findet er allerdings nicht.

Der Ältere hat kurz nach der russischen Invasion in der Ukraine einen zeitgenössischen Vergleich parat. „Was Putin heute macht, tat Coen damals. Früher habe ich gelernt, ihn als Helden zu sehen. Diese Meinung habe ich geändert.“

https://taz.de/Kolonialgeschichte-der-Niederlande/!5852582/


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