von: Claudia Haydt | Veröffentlicht am: 27. August 2024
Wir erinnern an ihren Beginn: »Zum ersten Mal in der Geschichte wurde die Sprache der ‚Rüstungskontrolle‘ durch ‚Rüstungsreduzierung‘ ersetzt – in diesem Fall durch die vollständige Abschaffung einer ganzen Klasse von amerikanischen und sowjetischen Atomraketen.« Mit diesen Worten begleitete der damalige US Präsident Ronald Reagan seine Unterschrift unter den INF-Abrüstungsvertrag. Sein Vertragspartner Michail Gorbatschow hoffte auf eine historische Zäsur: »Möge der 8. Dezember 1987 zu einem Datum werden, das in die Geschichtsbücher eingeht, zu einem Datum, das die Zäsur markiert, die die Ära der wachsenden Gefahr eines Atomkriegs von der Ära der Entmilitarisierung des menschlichen Lebens trennt.«[1]
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Der INF Vertrag galt bis zum Ausstieg der USA 2019 als einer der Meilensteine zur Überwindung des Kalten Krieges, da mit ihm eine ganze Klasse von Waffensystemen abgeschafft wurde und die nukleare Bedrohung Europas durch strategische Waffen beendet wurde. Der Vertrag verpflichtete die USA und die Sowjetunion auf landgestützte ballistische Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern zu verzichten sowie ihre Startvorrichtungen und Infrastruktur zu verschrotten.
Mit der Ankündigung des deutschen Kanzlers Olaf Scholz (SPD), dass die USA ab 2026 Mittelstreckenraketen mit der Kommandozentrale im hessischen Wiesbaden stationieren werden, ist dieses Kapitel der Abrüstungsgeschichte für alle sichtbar beendet. Im Folgenden soll sowohl ausgeführt werden was über die geplante Neustationierung bekannt ist und welche Auswege es geben könnte.
Was wird stationiert?
Am 10. Juli 2024, am Rande des NATO-Gipfels in Washington, verkündete die deutsche Regierung zusammen mit den USA, dass geplant ist ab 2026 wieder US-Raketen mit größerer Reichweite in Deutschland zu stationieren. Damit würde die Abschreckung gegen Russland verbessert. Doch was bedeutet dies konkret? Auch wenn viele Details noch offen sind, so ist doch bereits klar, dass es um drei verschiedene Waffensysteme geht, die zu der Typenklasse gehören, die durch den INF-Vertrag verboten war.
Tomahawk Marschflugkörper haben eine Reichweite von über 1.600 Kilometern (manche Berichte sprechen auch von über 2.500km) und nähern sich ihrem Ziel mit einer Geschwindigkeit von etwa 900 Stundenkilometern. Im Tiefflug können sie von gegnerischem Radar schlecht erfasst werden.
Ebenfalls stationiert werden soll eine Boden-Boden Version der SM-6 Standard-Rakete, diese kann wie die Tomahawk vom neuen Startgerät Typhon abgeschossen werden. Wird Typhon auf Lastwagen montiert so ist es möglich durch eine Verlegung an die Bündnisgrenze die Reichweite der Raketen deutlich zu vergrößern. Die aktuelle SM-6 Reichweite lieg unter 500 Kilometern. Allerdings soll eine neue Version mit einer Reichweite von rund 1600 Kilometern bald einsatzfähig sein. Sie soll Hyperschallgeschwindigkeit erreichen, also schneller als 6200 Kilometer pro Stunde fliegen.
Die Dark Eagle Hyperschallwaffe befindet sich noch in der Entwicklung, die jedoch spätestens 2025 abgeschlossen sein soll. Dieses Waffensystem soll mit 17facher Schallgeschwindigkeit ihr Ziel erreichen können.
Die Mittelstreckensysteme sind Teil der Multidomain Task Force (MDTF) der US Armee mit Hauptsitz in der Wiesbadener Clay Caserne. Die MDTF besteht aus Einheiten verschiedener Teilstreitkräfte. Konkret geht es um Kräfte für die elektronische Kampfführung, die Feldartillerie, die Flug- und Raketenabwehr sowie Cyberwarfare und militärische Aufklärung. Diese Einheit wurde bereits 2021 aufgestellt.
Der Fokus der MDTF ist es in einer Kriegssituation jederzeit und überall agieren zu können ohne feindliche Schutzschilde oder massive feindliche Gegenschläge berücksichtigen zu müssen. Die MDTF richtet sich gegen die Fähigkeit möglicher Gegner, das US-Militär auf Abstand zu halten. Militärisch gesprochen soll mit den MDTF Einheiten die Fähigkeit von Gegner für „Anti Access / Area Denial“ (A2/AD) durchbrochen werden. Grob übersetzt geht es bei A2/AD also um die Verweigerung des externen Zugriffs in ein Operationsgebiet, während etwa ein strategischer Hafen oder eine Stadt erobert wird.
Area Access betrifft die Bewegung zu einem Einsatzgebiet und Area Denial die Bewegung innerhalb eines Einsatzgebietes. A2/AD bezieht sich meist auf eine Strategie, die von einem schwächeren Gegner zur Verteidigung gegen einen Gegner mit überlegenen Fähigkeiten eingesetzt wird. Genau diese Möglichkeit soll durch MDTF-Einheiten unterbunden werden. Im Moment verfügt das US-Militär über 3 MDTF-Einheiten (insgesamt sind derzeit fünf geplant). Mit Ausnahme der 2.MDTF, die in Wiesbaden stationiert ist, sind alle in den USA stationiert. Wobei einige Komponenten der 2.MDTF ab 2025 Fort Drum/NY stationiert sein sollen. Militärisch relevant ist dies besonders durch die Anbindung an ein Multi Domain Effects Battalion (MDEB), das ein weites Spektrum an weltraumgestützten Fähigkeiten eröffnet. Die 1.MDTF ist eine hochmobile experimentelle Einheit, während die 3.MDTF dem indopazifischen Kommando unterstellt ist. Zu jeder dieser Einheiten gehören Mittelstreckenraketen als integraler Bestandteil ihrer Strategie. Entsprechend war ab der Ankündigung der Stationierung der MDTF in Wiesbaden auch die Stationierung von Mittelstreckenraketen absehbar.
Die Mittelstreckenraketen standen in den 1980er Jahren im Zentrum der Abrüstungsbemühungen, weil es sich um eine hochgradig gefährliche Waffengattung handelt, mit der innerhalb weniger Minuten eine umfassende militärische Konfrontation ausgelöst werden kann, die weite Regionen umfasst. Auch wenn im Moment noch keine nukleare Bewaffnung der Systeme geplant ist, können Raketen tief in feindliches Gebiet eindringen und dort Hauptquartiere, Kommandoeinrichtungen oder „Hochwertziele“ zerstören. Solche „Enthauptungsschläge“ stellen für jede Seite eine massive Bedrohung dar. Durch zunehmende Nervosität wächst auch die Gefahr eines versehentlich ausgelösten Krieges.
Europäische Waffen als Alternative?
Einen Tag nach der Ankündigung der US-Pläne unterzeichneten mehrere EU-Staaten eine Absichtserklärung zur gemeinsamen Entwicklung eines »Präzisionsschlagsystems« unter dem Programmnamen ELSA (European Long-Range Strike Approach). Dabei soll es sich um bodengestützte Marschflugkörper mit einer Reichweite von 1.000 bis 2.000 Kilometers handeln. Am 24. Juli 2024 unterzeichneten deutsche und britische Vertreter eine Erklärung, die ebenfalls eine engere Kooperation bei der Entwicklung von Langstreckenfähigkeiten zum Ziel hat.
Zwischenzeitlich werden erste Entwicklungsverträge für Waffensysteme mit entsprechenden Fähigkeiten ausgearbeitet. Das Interesse an eigenständigen Fähigkeiten liegt auch darin, dass die US-Waffen zwar in Deutschland stationiert sein werden, die tatsächliche Verfügungsgewalt über deren Einsatz aber höchstwahrscheinlich in Washington verbleiben wird. Wer die machtpolitische Bedeutung der Waffensysteme positiv bewertet und deren Einsatz aber selbst bestimmen will, setzt logischerweise auf eigene Entwicklungen – auch wenn hier mit Entwicklungszeiten von mehr als 10 Jahren und Kosten in mindestens zweistelliger Milliardenhöhe gerechnet wird.
Gleichzeitig ändert die europäische Hand am Abzug nichts an der konfrontativen Aufrüstungsdynamik. Je mehr einsatzbereite Waffen mit immer kürzerer Vorwarnzeit auf beiden Seiten vorhanden sind, umso mehr wächst das Risiko eines globalen Krieges und die Sicherheitslage verbessert sich somit nicht, sondern wird immer volatiler. Jeder Stationierungsort ist potentiell zugleich Ausgangspunkt und Ziel von Angriffen.
Rüstungswettlauf stoppen
Der laufende Prozess des Wettrüstens muss gestoppt werden. Das geht nur mit neuen globalen Abrüstungsverträgen. Wie in den 1980er Jahren müssen dazu die Gegner verhandlungsbereit sein. Nötig ist hier die Einbeziehung aller relevanten Akteure. Dabei geht es neben den USA, Russland und den EU-Staaten auch um China. Die Methoden für Abrüstung und gegenseitige Kontrolle müssen nicht neu erfunden werden. Verifikationsmechanismen sind längst erprobt und können eine erste Grundlage für gegenseitige Vertrauensbildung sein. Neu gefunden werden muss jedoch der politische Wille zur Abrüstung und zur Wiederbelebung der Diplomatie. Da dieser zurzeit bei den politisch Verantwortlichen kaum vorhanden ist, kommt es auf den Druck aus der Bevölkerung an.
Eine kürzere Version dieses Artikels erscheint im österreichischen Magazin „Die Volksstimme“.
Informationsstelle Militarisierung (IMI) » Ein neues europäisches Raketen-Zeitalter? (imi-online.de)
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