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Dohnanyi: Russland sollte kein Feind bleiben. Putin verstehen, heißt nicht, Krieg zu rechtfertigen

Wir befinden uns in einer Zeitenwende, die allerdings mehr von Entspannung braucht und nicht weniger. Wir sehen ja jetzt, was es bedeutet, dass die USA sich gleichzeitig mit China und Russland anlegten: China steht nun auf der Seite Russlands! Das europäische Russland ging verloren. Noch immer bestimmen die USA die Aussen- und Sicherheitspolitik Europas.


Über Putin-Versteher, Entspannungsdiplomatie und divergierende Interessen zwischen Europa und den USA: Der Jurist und langjährige SPD-Politiker im Gespräch.

Nationale Interessen werden in einer Welt der Vernetzung immer relevanter, weil jeder einzelne Staat von den internationalen Veränderungen unterschiedlich betroffen wird, auch innerhalb der EU: Frankreich will Atomenergie, Deutschland nicht. In Zeiten globaler Krisen und Umbrüche ist angesichts dieser Renationalisierung der Politik die internationale Kooperation besonders wichtig, gerade zwischen den Grossmächten USA, China und Russland.


Aber es gab seitens der westlichen Partner, auch auf deutscher Seite, Bemühungen um Verhandlungen, bevor der Krieg ausgebrochen ist. Sehen Sie das nicht so?

Die Deutschen haben da nichts zu sagen und die Franzosen auch nicht: Washington und der Nato-Generalsekretär Stoltenberg bestanden doch darauf, man dürfe mit niemandem darüber verhandeln, wer in die Nato aufgenommen werden dürfe. Eine Art Ehrensache.


Was wäre denn die Alternative zur Nato-Erweiterung gewesen? Erweist sich der Weg jetzt nicht als genau richtig, um der imperialen Grossmacht Russland entgegenzutreten?

In dieser Frage teile ich die Auffassung des heutigen Chefs der CIA, William Burns, der noch 2019 die Fortsetzung der Nato-Erweiterung im Wesentlichen für eine sinnlose Provokation hielt. Ich teile auch die Auffassung von Professor Jack Matlock, der als US-Botschafter in Moskau im Februar 1990 dabei war, als Aussenminister James Baker Gorbatschow versprach, die Nato nicht über Deutschland hinaus zu erweitern. Gentlemen, don’t disagree about facts!


Welche Alternative hat die Ukraine, wenn sie nicht Mitglied der Nato wird?

Dieselbe Möglichkeit wie Österreich, Finnland, Schweden und Irland: Wir haben neutrale Staaten innerhalb der EU, die nicht in der Nato sind und die auch einen generellen Schutz geniessen. Der beste Schutz bleibt allerdings immer: Verständigung mit dem Gegner.


Sie haben immer wieder gefordert, der Westen müsse sich bemühen, Russland und auch Putin «zu verstehen». Sind aber die vermeintlichen Putin-Versteher nicht gerade die Ursache für die gegenwärtige Eskalation?

Hätte man Putin verstanden, dann hätte man auch sehen können, dass er eventuell aggressiv wird, wenn man in der Nato-Frage nicht nachgibt. Verstehen heisst nicht billigen. Es heisst aber, dass man sich auch in den Kopf und in die Überlegungen des anderen hineinversetzt. Wer sagt, man müsse Putin nicht verstehen, der sollte mal darüber nachdenken, warum es den Krieg jetzt gibt; man hatte ihn offenbar nicht verstanden.


Stimmt die Beobachtung, dass wir gerade in einer Zeitenwende leben?

Ja, wir befinden uns in einer Zeitenwende, die allerdings mehr von Entspannung braucht und nicht weniger. Wir sehen ja jetzt, was es bedeutet, dass die USA sich gleichzeitig mit China und Russland anlegten: China steht nun auf der Seite Russlands! Das europäische Russland ging verloren. Noch immer bestimmen die USA die Aussen- und Sicherheitspolitik Europas. Hatte Biden innenpolitisch nicht den Mut, die Nato-Frage in die Verhandlungen einzubeziehen? War ein amerikanisches Wahlergebnis am Ende wichtiger als eine friedliche Lösung der Ukraine-Krise?


Der ukrainische Botschafter Andri Melnik ist sehr verärgert darüber, dass Deutschland ein Embargo russischer Gaslieferungen ablehnt. Er wirft der Bundesregierung Untätigkeit und Verantwortungslosigkeit vor. Können Sie das verstehen?

Ich kann die Erregung der Ukraine verstehen. Das Land hat eine lange Geschichte mit wiederholten Versuchen, sich freizumachen von Beherrschung – entweder von Polen oder von Russland. Die Ukraine hat den Drang nach Selbstbestimmung in ihren Genen. Insofern kann ich natürlich verstehen, dass man jetzt den Versuch macht, den Rest der Welt für die Ukraine zu mobilisieren. Aber hat die jahrelange Aufrüstung der Ukraine durch die USA die Ukraine vor Zerstörung geschützt? Hätte man nicht besser das Minsk-Abkommen realisieren sollen? Für das alles ist es nun zu spät, und nichts rechtfertigt den Krieg, den Putin begonnen hat.


https://www.nzz.ch/international/mehr-entspannung-wagen-interview-mit-klaus-von-dohnanyi-ld.1675261?trco=21021291-05-18-0001-0004-009651-00000009&s_kwcid=AL%216521%213%21590451012392%21%21%21g%21%21&gclid=Cj0KCQjw2MWVBhCQARIsAIjbwoPLU88f2MU8dvJP9jlMa-8RQ1mBo7-gxPsFnAmwjckXInJNdmKJZtMaAhZAEALw_wcB

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