I.L.A. Kollektiv: Du bist politisch aktiv und engagierst dich für gesellschaftlichen Wandel? Eure Gruppe hetzt von Aktionstag zu Demo, doch es fehlt die Zeit für den Blick auf das große Ganze? Du siehst, dass euer Protest oder euer Stadtteilgarten gedeiht, aber bist unschlüssig, wie daraus ein gutes Leben für alle wachsen kann? Dann spürst du sicher auch, dass maßgebliche Schritte für nachhaltige, weitreichende politische Entscheidungen nicht absehbar sind - und das, obwohl die Zeit immer mehr drängt! Da bist du nicht allein: Zahlreiche Menschen haben kluge Gedanken zum Thema Transformation zu Papier gebracht. Leider verstauben viele dieser Erkenntnisse in dicken wissenschaftlichen Büchern. Gleichzeitig haben soziale Bewegungen wertvolle Erfahrungen gesammelt und einzelne wichtige Kämpfe für gesellschaftliche Veränderungen gewonnen. Dieses Handbuch bringt Theorie und Praxis zusammen. Es führt verständlich in zentrale Begriffe ein und stellt vielfältige Übungen vor. So kann es Gruppen und einzelne Personen, die sich der sozial-ökologischen Linken zugehörig fühlen, darin unterstützen, Strategien für gesellschaftliche Transformation zu schärfen.
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I.L.A. Kollektiv (Hrsg.)
Die Welt auf den Kopf stellen
Strategien für radikale Transformation. Ein Handbuch für Menschen in sozialen Bewegungen
ISBN: 978-3-96238-405-0 Softcover, 128 Seiten Erscheinungstermin: 01.09.2022 DOI: https://doi.org/10.14512/9783962389642 CC-Lizenzart: CC BY-NC-ND 4.0
Transformieren ist ein Tu-Wort!
Viele tolle Gruppen setzen sich dafür ein, dass sich unsere Gesellschaft grundlegend und langfristig in eine solidarische Zukunft entwickelt. Mit diesem Handbuch wollen wir diese Menschen dabei unterstützen, zielgerichtete Perspektiven und Strategien für ihr Engagement zu entwickeln – und so erfolgreicher zu werden. Solidarität zeigt sich immer wieder kurzfristig als Reaktion auf akute Krisensituationen. Dann werden nicht nur einzelne Personen aktiv, sondern auch die breite Gesellschaft. Dies zeigten beispielsweise Krisen wie Covid-19 oder der Ukrainekrieg, die die Verletzlichkeit der globalisierten Welt von heute auf morgen deutlich machten. Doch der kapitalistische Normalbetrieb läuft in der Regel weiter wie gehabt. Ausbeutung, sowohl von Menschen als auch von nicht-menschlicher Natur, und Diskriminierung sind weiterhin allgegenwärtig. Solidarität endet an Nationalgrenzen und die EU lässt Menschen unter unwürdigen Bedingungen an den europäischen Außengrenzen erfrieren. Statt solidarische Gesundheitssysteme auszubauen, werden Milliarden in klimaschädliche Industrien und militärische Aufrüstung gesteckt. Während viele Menschen ihre Miete nicht mehr zahlen können, steigen die Gewinne von Immobilienkonzernen. Damit der globale Kapitalismus ungestört weiterläuft, wird das Wohlergehen von Mensch und Mitwelt hintangestellt. Die Problemursachen stecken in den Strukturen unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems und ermöglichen einigen ein Leben auf Kosten anderer Menschen und der nichtmenschlichen Natur. Auch unser Alltag ist verwoben mit Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen – das nennen wir imperiale Lebens-, Produktions- und Reproduktionsweise.1 Was wäre, wenn es anders ginge? Wenn wir es schaffen würden, nicht auf Kosten anderer zu leben, also eine solidarische Lebensweise aufzubauen? Unterschiedliche soziale Bewegungen werfen diese Fragen immer wieder auf. Trotz der Kämpfe gegen das Bestehende, in denen Perspektiven für ein gutes Leben für alle durchscheinen, ist ein Systemwandel jedoch nicht in Sicht. Die imperiale Lebensweise ist beharrlich und taucht in unterschiedlichen Formen immer wieder auf. Umso dringlicher sind die Fragen: Wie schaffen wir es, die Weichen hin zu einem Guten Leben für alle zu stellen? Wie können wir eine solidarische, sozial-ökologische Lebensweise breit und dauerhaft aufbauen? Welche Strategien gibt oder braucht es in der gesellschaftlichen Linken dafür? 1 Der Begriff wurde geprägt von den Sozialwissenschaftlern Ulrich Brand und Markus Wissen (2017): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. Oekom. Wenn wir im Folgenden von imperialer Lebensweise sprechen, meinen wir immer auch die imperiale Produktions- und Reproduktionsweise. Layout_DWADKS_3.indd 6 26.07.2022 13:14:02 7 Radikale Transformation – Worum geht’s hier eigentlich? Kurz gesagt: Transformation meint Prozesse, die einen umfassenden gesellschaftlichen Wandel hervorbringen und die herrschenden Verhältnisse überwinden. Daher auch der Titel unseres Buchs, der von der Idee des Pachakuti inspiriert ist. Pachakuti ist ein Begriff aus dem Andenraum, aus der indigenen Aymara-Sprache. Der Chronist Waman Puma de Ayala hat ihn als „die Welt auf den Kopf stellen“ übersetzt. Gemeint ist ein radikaler Wandel der Welt, wie wir sie kennen. Wie der uruguayische Aktivist und Intellektuelle Eduardo Gudynas beschreibt, meint Pachakuti, mit den bestehenden Verhältnissen revolutionär zu brechen und sie aufzulösen – und gleichzeitig schon etwas Neues zu schaffen.2 Im Alltagshandeln, in neuen Beziehungsweisen mit Mensch und nicht-menschlicher Natur, in neuen Vorstellungswelten und politischen Praktiken entsteht eine Vielzahl von neuen Welten. Die Inhalte und die Richtung von gesellschaftlichem Wandel sind umkämpft – auch reaktionäre und marktliberale Akteur*innen sprechen über die Notwendigkeit gesellschaftlicher Transformationsprozesse. Wir knüpfen an der zuvor beschriebenen Idee an und fassen Transformation als einen umfassend emanzipatorischen Begriff, der die radikale Überwindung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse von unten betont. Eine sozial-ökologische Transformation zielt bei diesem Prozess auf eine sozial gerechte und ökologisch stabile Gesellschaft ab (→ Kapitel: TRANSFORMATION HEISST SYSTEM CHANGE). Darüber hinaus bedeutet Transformation, dass vielfältige Übergangsprozesse den Systemwandel herbeiführen – diese können mal schnell, laut und abrupt und mal schleichend, kontinuierlich und unscheinbar sein. Transformation verbindet revolutionäre Veränderungen mit reformartigem Umbau. Menschen suchen Ansatzpunkte, um das Hier und Heute vor Ort zu verbessern und verweisen damit gleichzeitig auf ein besseres Morgen, in dem das Zusammenleben ganz anders – solidarisch, ökologisch und herrschaftsfrei – gestaltet ist. Dafür gibt es keinen Masterplan und kein zentrales Trans2 Eduardo Gudynas (2019): Revolution. In: Ashish Kothari et al. (Hrsg.): Pluriverse. A Post-Development Dictionary. Tulika & Authors Upfront. S. 293-296. formationskomitee, das den Systemwandel steuert. Es ist ein kollektiver Suchprozess nach einem Guten Leben für alle und den Wegen dorthin (→ Kapitel: WIE KOMMT DER WANDEL IN DIE WELT?). Emanzipatorische Transformation wird von vielen gemacht und dreht sich unserer Meinung nach ganz zentral um den Aufbau wirkungsvoller Gegen-Hegemonie von unten (der Begriff der Gegen-Hegemonie wird im → Kapitel: SOLIDARISCHE GEGEN-HEGEMONIE AUFBAUEN genauer erläutert). Bei der Aushandlung von Transformationsprozessen spielen die bestehenden Institutionen und (staatlichen) Rahmenbedingungen, in denen wir uns als Menschen auf der Suche nach einem Guten Leben für alle bewegen, eine wichtige Rolle (→ Kapitel: HEGEMONIE UND STAAT). Und nicht zuletzt stellt sich die Frage, wie wir gegen die starken Beharrungskräfte und gewaltvollen Verhältnisse der imperialen Lebensweise ankommen (→ Kapitel: TRANSFORMATION DURCH ESKALATION?). Wofür und für wen ist dieses Handbuch? Schon unzählige Menschen haben sich kluge Gedanken zum Thema Transformation gemacht. Leider verstauben viele dieser Ideen und Erkenntnisse in wissenschaftlichen Studien und Sammelbänden. Gleichzeitig haben soziale Bewegungen wertvolle Erfahrungen gesammelt und einzelne Kämpfe für gesellschaftliche Veränderungen gewonnen – und manchmal bleibt wenig Zeit für den Blick aufs große Ganze. Wir wollen in diesem Handbuch beides zusammenbringen – in einer Form, die für linken (Bewegungs-)Alltag brauchbar ist. Daher ist dieses Handbuch in erster Linie für Aktivist*innen im breiten sozial-ökologischen Bewegungsspektrum gedacht. Wir schreiben für Menschen, die in verschiedenen Kontexten gesellschaftliche Transformation von unten anstoßen und erkämpfen. Wir möchten kleinere und größere Gruppen darin unterstützen, an ihrem politisch-strategischen Wissen zu feilen und ihnen Vokabular und Methoden an die Hand geben, um transformative Strategien zu entwickeln. Strategie Layout_DWADKS_3.indd 7 26.07.2022 13:14:02 8 meint dabei, ein Ziel vor Augen zu haben und den langfristigen Weg dorthin zu planen und zu beschreiten. Der Begriff kommt ursprünglich aus der militärischen Praxis und setzt ein hohes Maß an Planbarkeit voraus. Diese Logiken lassen sich nicht auf emanzipatorische Transformationsprozesse übertragen. Trotzdem glauben wir, dass es für soziale Bewegungen wichtig ist, strategisch zu denken. Denn vielleicht stellt auch ihr euch folgende Fragen, wenn ihr über die Wirksamkeit eurer Arbeit und eure Theorie gesellschaftlichen Wandels (Theory of Change) nachdenkt: Wo wollen wir hin? Wie erreichen wir eine Vision vom Guten Leben für alle? Und was sind wichtige Hebelpunkte, Handlungsschritte und Fragen auf dem Weg dorthin? Dieses Handbuch möchte euch dabei helfen, Antworten auf diese Fragen zu finden und eure Theory of Change zu entwickeln, zu überprüfen und zu schärfen – und zwar speziell mit Blick auf die Frage, wie eure politische Arbeit gegenhegemoniale Wirksamkeit entfalten kann. Wie funktioniert das Handbuch? Ihr findet zu Beginn der Kapitel häppchenweise aufbereitetes Theorie-Wissen und dann einzelne anwendungsbezogene Strategie-Bausteine. In den Bausteinen verweisen wir auf Beispiele aus sozialen Bewegungen und es gibt Tipps, wo ihr euch weiter informieren könnt. Außerdem findet ihr zu allen Strategie-Bausteinen auch Übungen, die ihr allein oder als Gruppe machen könnt. Du kannst das Handbuch von vorne bis hinten durchlesen, oder du pickst dir raus, was dich gerade interessiert. Die Querverweise kannst du nutzen, um die Verbindungen zwischen den einzelnen Strategie-Bausteinen und Themen besser zu verstehen. Wir hoffen, dass euch dieses Buch unterstützt, über Transformationsstrategien und eure Theory of Change nachzudenken – und loszulegen! Denn: Transformieren ist ein Tu-Wort
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