Die Katastrophe im Ahrtal zeigt: Extremwetter können auch hier Menschen zu Klimaflüchtlingen machen
Auf der Welt gibt es bereits 20 Millionen Klimaflüchtlinge. Sie haben bisher in Deutschland und Europa wenig Beachtung gefunden und auch nicht zu einer entschiedenen Klimaschutzpolitik geführt, denn die Industrie- und Schwellenländer und in ihnen vor allem 100 Konzerne sind die Hauptverantwortlichen für die Klimazerstörung. Prognosen rechnen bald mit weltweit 100 Millionen Klimaflüchtlingen. Die Katastrophe im Ahrtal führt uns vor Augen, was die Zunahme an Extremwettern für uns alle bedeuten wird, dass auch hier Regionen nicht mehr bewohnbar sind; im Ahrtal überlegen viele, ob sie das Risiko eingehen wollen, dort wohnen zu bleiben: Klimaforscher warnen vor solchen Ereignissen auch in Mitteleuropa seit etwa dreissig Jahren. Grund für sie sei die Erderwärmung. Denn mit jedem zusätzlichen Grad Celsius kann die Luft 7 Prozent mehr Wasserdampf aufnehmen. Ihre Warnungen erweisen sich schon lange als gerechtfertigt; Starkregen-Ereignisse nehmen seit zwanzig Jahren zu. In den Tagen vor der Flut hatte sich warme Luft über dem Mittelmeer und dem Atlantik mit Wasserdampf angereichert, bevor sie nach Deutschland weiterzog und dort festsass. Es waren gigantische Wolkentürme, die sich durch die starken Aufwärtsbewegungen warm-feuchter Luftmassen gebildet hatten. Kann es nicht vielleicht sein, dass erstmals im hochtechnisierten, reichen Mitteleuropa die Spezies Mensch in einem Lebensraum selbst die bedrohte Art ist? «Dem lieben Gott können wir das nicht in die Schuhe schieben. Das haben wir uns selbst zuzuschreiben.» «Diese Fluten sind die Folge der Klimakatastrophe, die wir alle verursacht haben.»
Wird es jetzt, wo auch nicht mehr nur in Afrika, Mittelamerika oder Asien, sondern in Deutschland, im Mittelmeerraum, in den USA und Russland viele Menschen durch die Folgen die Klimawandels existentiell bedroht sind ein Umdenken kommen, die Gesellschaft sich des Themas Klimaschutz ernsthaft annehmen? Werden wir dafür sorgen, dass wir den Politikern nicht mehr erlauben, unsere Steuern in die Rüstung zu stecken, obwohl das Militär erheblich zum Klimawandel beiträgt? Wird die Menschheit verstehen, dass es jetzt keine Zeit mehr ist, sich zu konfrontieren und zu bekriegen, sondern weltweite Kooperation für das Überleben der Menschheit nötig ist? Werden wir das in der Politik durchsetzen können? Wir können alle daran mitwirken, dass es passiert.

Und hier der erschütternde Bericht aus dem Ahrtal mit einem Video:
Auszüge aus einem Artikel der Neuen Züricher Zeitung
Die verheerende Flut in Ahrweiler – eine Video-Rekonstruktion des Hochwassers.:
Starkregen ist kein starker Regen und Sturzflut kein normales Hochwasser. Die Katastrophe im Ahrtal führt uns vor Augen, was die Zunahme an Extremwettern für uns alle bedeuten wird. In mancher Kulturlandschaft wird die Spezies Mensch zur bedrohten Art.
Vor Starkregen war seit Tagen gewarnt worden. Und Klimaforscher tun das für Mitteleuropa seit etwa dreissig Jahren. Grund sei die Erderwärmung. Denn mit jedem zusätzlichen Grad Celsius kann die Luft 7 Prozent mehr Wasserdampf aufnehmen. Ihre Warnungen erweisen sich schon lange als gerechtfertigt; Starkregen-Ereignisse nehmen seit zwanzig Jahren zu. Doch ein markantes Merkmal des Starkregens ist es, sich lokal sehr begrenzt zu ergiessen, so dass seine Folgen – egal wie dramatisch – bisher kaum je über das betroffene Gebiet hinaus in die Medien und das öffentliche Bewusstsein gelangten.
Denn was heisst schon Starkregen? «Vor Regen haben wir eigentlich keine Angst», sagte in den Tagen nach der Katastrophe ein Feuerwehrmann in einem Fernsehinterview. Doch Starkregen ist kein starker Regen. Vor allem kommt er selten allein, sondern provoziert Sturzfluten. Und Sturzfluten sind keine normalen Hochwasser.
In einem 400 Seiten dicken Handbuch über «Die unterschätzten Risiken – Starkregen und Sturzfluten», das das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe 2015 für Bürger und Kommunen herausgegeben hat, heisst es: «Starkregen und Sturzflut sind – um dies auf den Punkt zu bringen: Anarchie! Denn sie sind: unvorhersagbar, ungezügelt, unverhältnismässig und unregulierbar.» Wie ein Mantra wird in dem Handbuch wiederholt: Starkregen und Sturzfluten sind eine grosse globale Gefahr für Leib und Leben, Hab und Gut. Sie können jeden treffen – auch dort, wo es keine Flüsse gibt. Auch dort, wo es nicht geregnet hat.
In den Tagen vor der Flut hatte sich warme Luft über dem Mittelmeer und dem Atlantik mit Wasserdampf angereichert, bevor sie nach Deutschland weiterzog und dort festsass. Es waren gigantische Wolkentürme, die sich durch die starken Aufwärtsbewegungen warm-feuchter Luftmassen gebildet hatten. Da bedarf es nur eines winzigen Auslösers, und das Wasser stürzt zu Boden. Ein solcher Auslöser kann die aufgeheizte Fläche eines Parkplatzes sein, von dem mit der warmen Luft der sprichwörtliche Tropfen zu viel aufsteigt.
Fällt der Regen auf gesättigten oder versiegelten Boden oder wie hier im Ahrtal auf wasserundurchlässiges Schiefergestein, kann er nicht versickern und löst Sturzfluten aus. Talwände wirken dann wie ein Trichter; plötzlich kommt das Wasser von überall, schiesst die Strasse herunter und steigt aus der Kanalisation auf. Keller werden zu Todesfallen. Unter dem Druck des einströmenden Wassers fallen Türen zu, und schon bei wadenhohem Wasserstand vermag ein erwachsener Mann sie nicht mehr zu öffnen. Hinzu kommt die Gefahr eines Stromschlages. Springt die Sicherung rechtzeitig heraus, wird es stockdunkel.
Die einzige Chance, sich zu befreien, besteht darin, den Druckausgleich auf beiden Seiten der Tür abzuwarten, vorausgesetzt, das Wasser steigt auch auf der anderen Seite. In Todesangst die Nerven zu bewahren, bis das Wasser über dem Türrahmen ist, dann hinab zur Türklinke zu tauchen, die Tür zu öffnen und noch immer über genügend Atem zu verfügen, um in der Dunkelheit an die Oberfläche zu schwimmen, gelingt nur wenigen. Zumal kaum jemand weiss, dass sich die Tür bei Druckausgleich wieder öffnen liesse. Auch im Ahrtal wurden viele der über 130 Toten in ihren Kellern gefunden, im Parkhaus oder im Souterrain. Vermutlich wollten sie nur noch schnell etwas holen.
Doch mit einer Fliessgeschwindigkeit von fünf Metern pro Sekunde entwickeln Sturzfluten eine ungeheure Wucht. Rauscht es knöchelhoch durch die Strassen, ist es bereits lebensgefährlich, sie zu überqueren, denn der Mensch verliert den Halt. Fliesst es kniehoch, hat man kaum noch eine Chance. Wer stürzt, wird unter Wasser gezogen und verliert die Orientierung.
Treibgut wird zu Rammböcken
Doch an der alten Brücke türmten sich Baumstämme, Autos und Unrat zu einem Ad-hoc-Staudamm. In der Mitte hielt das Bauwerk dem wachsenden Druck stand, doch irgendwann sprengte der Druck die Auffahrrampe weg, verwandelte das aufgestaute Treibgut in Rammböcke und riss die beiden Häuser mit sich. Von der einen Familie – Eltern mit ihren drei Kindern – fehlt seitdem jede Spur.
Dem anderen jungen Paar, von dem jeder eines seiner vierjährigen Kinder festhielt, ist es noch gelungen, sich in der reissenden Flut an Bäumen festzuhalten, wie der Vater dem Feuerwehrmann erzählte, als er und sein Sohn nach elf Stunden Überlebenskampf mit einem Helikopter aus einer Baumkrone gerettet wurden. Seine Frau und seine Tochter jedoch haben es nicht geschafft, sie wurden viele Kilometer flussaufwärts tot geborgen. «Um vier Uhr morgens hat sie losgelassen», erzählte ihr Mann seinen Rettern. Es sind Sätze wie dieser, die erahnen lassen, welch infernalische Szenen sich hier abgespielt haben.
Sie begreifen erst langsam, was verloren gegangen ist: Lebensentwürfe, berufliche Existenzen, Pläne, Heimat, Geborgenheit. Erstaunlicherweise hörten sie kaum Klagen über die Behörden, sagen die Seelsorger, sondern eher Selbstkritik, Demut. Immer wieder den Satz: «Wir sind gewarnt worden, aber ich habe es mir einfach nicht vorstellen können.» Ein Mann habe gesagt: «Dem lieben Gott können wir das nicht in die Schuhe schieben. Das haben wir uns selbst zuzuschreiben.»
Mit jedem Kilometer das Ahrtal hinauf wächst das Grauen. Es beschleicht einen die subtile Angst, dass die Bedrohung fundamentaler Natur ist. Auf 40 Kilometern sind weit über 7000 Objekte zerstört oder massiv beschädigt, darunter 14 Schulen – und alles andere, was kleinstädtisches Leben in einer jahrhundertealten Kulturlandschaft ausmacht. Strom, Wasser, Kanalisation, Funkmasten, Strassen, Radwege, Haltestellen, Schienen, Plätze – kaputt. 32 000 Menschen sind betroffen, unzählige mittelständische Betriebe in ihrer Existenz gefährdet, darunter Handwerk, Hotellerie, Gastronomie, Kultureinrichtungen und allen voran der den Landstrich prägende Weinbau.
Und hier, an diesem Ort, schreit die Frage zum Himmel: Glaubt ihr tatsächlich, hierbleiben zu können? Nach zwei Jahrhunderthochwassern in sechs Jahren? Kann es nicht vielleicht sein, dass erstmals im hochtechnisierten, reichen Mitteleuropa die Spezies Mensch in einem Lebensraum selbst die bedrohte Art ist? Aber all das kann man diesen armen Mann unmöglich fragen. Er würde kollabieren. Kämpft er doch gerade um seine Existenz.
Und in Bad Neuenahr-Ahrweiler kämpft der Landrat inzwischen um sein politisches Überleben. Schwerste Vorwürfe werden gegen ihn erhoben, die darauf hinauslaufen, dass er in letzter Konsequenz für die vielen Toten im Ahrtal verantwortlich sei. Eine der Frauen, die in der St.-Laurentius-Kirche in Ahrweiler Hilfsgüter verteilen, ist empört und sagt, sie finde das ungerecht. «Der Mann hat doch selbst alles verloren. Hinterher wissen es immer alle besser. Das konnten wir uns doch alle nicht vorstellen!»
Gern wüsste man, wer das Handbuch über die unterschätzten Risiken von Starkregen und Sturzfluten gelesen hat. Gern wüsste man, welcher Gemeinderat der Finanzierung von Sicherheitsmassnahmen für ein potenziell 9 Meter hohes Hochwasser zugestimmt hätte, wenn das letzte 3,60 Meter betrug. Welcher Wähler dafür Verständnis gehabt hätte, wenn das Budget in den Schutz vor Starkregen ungekannter Stärke statt in Kitas investiert worden wäre. Gern wüsste man, wer es geglaubt hätte, wenn in Radio und Fernsehen die Warnung erfolgt wäre: «Es soll Starkregen geben. Verlassen Sie Ihre Häuser. Sie könnten einstürzen.»
«In jedem Fall brauchen wir eine Pflichtversicherung für Elementarschäden», sagt Geron, «diese Fluten sind die Folge der Klimakatastrophe, die wir alle verursacht haben.» Da könne man die nicht hängenlassen, die es trifft. Klimaflüchtlinge in Deutschland, ein ganz neuer Gedanke. «Natürlich müssten wir eigentlich auch die Malediven versichern.»
https://www.nzz.ch/gesellschaft/das-wasser-kam-so-unvorstellbar-schnell-und-gewaltig-ld.1638293