Im Hinblick auf wirtschaftliche Entwicklung und Macht befindet sich der Westen seit mehr als zehn Jahren in einem Zustand, den Wissenschaftler als Polykrise oder als Multikrise bezeichnen. Seit der großen Wirtschafts- und Finanzkrise 2008-2009 fällt das System des globalen Finanzmarktkapitalismus und der neoliberalen Politik von einer Krise in die andere. Die Regierungen der Nationalstaaten, die diesem westlichen Bündnis angehören, sind mit einem permanenten Krisenmanagement befasst, das aber bei wachsenden Teilen der Bevölkerung als erfolglos angesehen wird und insofern zu Instabilitäten im politischen System führt. Die finden ihren Ausdruck vor allem im Anwachsen der neofaschistischen oder rechtspopulistischen politischen Kräfte.
Frank Deppe, Ihr neues Buch, Zeitenwenden?, handelt vom alten Kalten Krieg und dem, was Sie als neuen Kalten Krieg identifizieren, nämlich den Konflikt zwischen den USA beziehungsweise dem Westen auf der einen Seite, und China sowie Russland beziehungsweise den BRICS-Staaten auf der anderen Seite. Wie lassen sich diese Konflikte vergleichen?
Ich bin Jahrgang 1941. Das heißt, ich habe einerseits den Zweiten Weltkrieg und sein Ende miterlebt. Ich bin dann in der Zeit des alten Kalten Kriegs in Frankfurt am Main aufgewachsen und habe mich später in der Friedens- und 1961 erstmals in der Ostermarschbewegung engagiert. Die Proteste richteten sich gegen die Stationierung von Atomwaffen und warben für Abrüstung. In den 1970er Jahren hatten diese Protest- und Friedensbewegungen in der Politik stärkeren Einfluss gewonnen. Davon zeugt die Ostpolitik von Willy Brandt, die Helsinki-Konferenzen in den 1970er Jahren, es war also eine Ära der zumindest leichten Entspannung.
Von daher provoziert der mögliche Rückfall in die Zeit des alten Kalten Kriegs bei mir viele negative Erinnerungen und Ängste. Ich schreibe in dem Buch vom dem einstigen Spruch »Lieber tot als rot«, der damals bei den Massendemonstrationen in unseren Ohren erklang. Vor allem seit dem Ukraine-Krieg, und noch verstärkt seit dem Gaza-Krieg, ist es nun die Angst vor einer herrschenden Tendenz, die zu Aufrüstung, Kriegsgefahr, Konfrontation und realen Kriegen neigt. Darin steckt die Gefahr einer Eskalation, vor allem im Ukraine-Krieg, die auch zu einer atomaren Auseinandersetzung führen könnte.
Als Politikwissenschaftler, der sich viel mit Fragen der internationalen Machtverhältnisse beschäftigt hat, haben mich beim Schreiben des Buches die Übereinstimmungen von damals und heute interessiert. Die gibt es etwa beim Primat der Aufrüstungspolitik und der ideologischen Konfrontation, die nun im Zuge der Blockbildung stattfindet. Ganz exemplarisch steht dafür die NATO-Konferenz Anfang Juli dieses Jahres in Washington, bei der sehr selbstbewusst formuliert wurde, wie geschlossen der Westen in der neuen Konfrontation mit China und Russland steht. Das sind politische Formen der transnationalen und internationalen Politik, die sehr stark an den alten Kalten Krieg erinnern. Es gibt aber nach fünfzig oder sechzig Jahren selbstverständlich auch wesentliche Unterschiede, die ich in dem Buch herausarbeite und politisch bewerte.
Sie beschreiben in Ihrem Buch auch den verheerenden Koreakrieg, der zwischen 1950–1953 ausgefochten wurde und damit relativ am Anfang der Phase des Kalten Krieges stattfand. Kann man den Koreakrieg mit dem heutigen Krieg Russlands gegen die vom Westen unterstützte Ukraine vergleichen?
Es ist wichtig zu erwähnen, dass es vor dem Koreakrieg natürlich schon eine ganze Reihe von Kriegen in der Nachfolge des Zweiten Weltkrieges gab, mit einem Schwerpunkt in Asien. In China ging nach 1945 der Bürgerkrieg zwischen Chiang Kai-shek und Mao Zedong weiter, der 1949 mit dem Sieg der Kommunisten endete, wobei Kai-shek und die Kuomintang-Regierung massiv von den USA unterstützt wurden. Es gab zudem Kriege in Malaysia, in Indonesien und natürlich auch in Vietnam.
»Die Angst vor einem neuen Krieg war ständiger Begleiter, wurde politisch manipuliert – genauso wie auch heute die Angst vor dem Überfall oder der Aggressivität aus Russland politisch manipuliert wird.«
Das waren Kriege, die – bis hin zum Koreakrieg – von den alten kolonialen Verhältnissen in Ostasien geprägt waren. Indochina war eine französische, Korea war seit 1910 eine japanische und Malaysia eine britische Kolonie. In Indonesien waren die Niederländer, doch auch Indonesien war im Zweiten Weltkrieg von Japan besetzt. Und gegen die japanische Besetzung haben sich in fast allen Ländern Widerstands- und Befreiungsbewegungen entwickelt, die in der Regel von Kommunisten, wie etwa Ho Chi Minh in Vietnam, angeführt wurden.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Niederlage Japans haben die Bewegungen in diesen Ländern natürlich erwartet, dass sie unabhängig werden. Doch die alten Kolonialmächte kamen zurück: Frankreich wollte wieder Indochina beherrschen, die Niederländer kamen nach Indonesien zurück. Insofern hat ganz Ostasien nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine blutige Periode erlebt.
Aber aus westlicher und europäischer Perspektive war der Koreakrieg für die Blockbildung am entscheidendsten?
Der Koreakrieg hat furchtbare Opfer gefordert. Die Amerikaner haben auf Korea mehr Bomben abgeworfen als auf Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Ich habe Nordkorea einmal besucht und war in Pjöngjang in einem Museum. Die Menschen, die in Nordkorea überlebt haben, haben nur unter der Erde gelebt. Da stand kein einziges Haus mehr, es gab schreckliche Verluste an Menschenleben, die Zahl der Kriegstoten wird heute auf 4,5 Millionen beziffert.
Der Auslöser des Koreakrieges war zweifellos, dass nordkoreanische Truppen den 38. Breitengrad, der damals schon als Trennungslinie existierte, überschritten hatten und die Amerikaner mit der Unterstützung der UNO massiv intervenierten. Zuvor hatte sich eine Widerstandsbewegung gegen die japanische Besatzung und Kolonialherrschaft gebildet, die dann 1945 den Anspruch erhob, das ganze Land zu regieren. Dieser Krieg stand in einem Zusammenhang mit der Frage, ob sich die USA und die Sowjetunion nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges darüber einigen können, wer in Korea die Führung übernimmt.
Ich kann mich erinnern, wie ich 1950 mit meiner Mutter und einer ihrer Bekannten im Zug saß. Da kam die Rede auf den Koreakrieg, und da sagte meine Mutter voller Schrecken: »Wird es wohl wieder Krieg geben?« Das war die Angst, die uns mit dem Blick auf diesen Krieg erfasste. Genau diese Angst hat während des Kalten Kriegs auch im Westen und vor allem in Europa zu verhärteten Fronten geführt. Diese Angst war ständiger Begleiter, wurde politisch manipuliert – genauso wie auch heute die Angst vor dem Überfall oder der Aggressivität aus Russland politisch manipuliert wird.
Gibt es von den Auswirkungen her Parallelen zwischen dem Koreakrieg und dem Ukraine-Krieg?
Der Koreakrieg gilt vor allem für die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland – neben anderen Faktoren wie dem Marshallplan und der Einführung der D-Mark 1948 – als der Start der langen Phase des Wirtschaftswachstums, also des sogenannten Wirtschaftswunders oder des goldenen Zeitalters des Kapitalismus, wie Eric Hobsbawm es nannte. Diese Phase hielt bis in die 1970er Jahre an.
Der Koreakrieg war insofern wichtig für die deutsche Wirtschaft, weil in dieser Zeit ein ökonomischer Aufschwung deutscher Exportindustrien stattfand. In den USA gab es zeitgleich eine enorme Konzentration auf den Rüstungsbereich. Nachdem dieser zwischenzeitlich abgebaut worden war, wurde er auf einen Umfang wie am Ende des Zweiten Weltkrieges hochgerüstet. Aber jetzt setzte für die USA der »Militär-Keynesianismus« ein. Das bedeutet eine gewaltige Steigerung der Rüstungsausgaben, die gleichzeitig das wirtschaftliche Wachstum vorantreiben – der Rüstungsindustrie über Arbeitsplätze, aber vor allem auch im Wissenschaftssystem, also der Zusammenführung der Forschung mit dem Militär.
Also faktisch etwas, was heute, angesichts massiver Rüstungssteigerungen auch der westlichen Staaten, teilweise wieder zu beobachten ist, vor allem in den USA – siehe etwa den Rüstungs- und den Energiesektor –, auch wenn Deutschland bislang kaum zu den ökonomischen Profiteuren gehört.
Die US-Finanzministerin und ehemalige US-Notenbankchefin Janet Yellen hat bei einer jüngsten Konferenz geäußert, die Unterstützung, aber vor allem der Wiederaufbau der Ukraine nach dem Ende des Krieges, müsste ein riesiges Investitionsprogramm für die amerikanische Wirtschaft werden. Gemäß dieser Vorstellung werden einerseits über die forcierte Aufrüstung und andererseits über solche zurzeit noch fiktiven Wiederaufbauprogramme neue wirtschaftliche Wachstumskräfte freigesetzt.
Im Hinblick auf wirtschaftliche Entwicklung und Macht befindet sich der Westen seit mehr als zehn Jahren in einem Zustand, den Wissenschaftler als Polykrise oder als Multikrise bezeichnen. Seit der großen Wirtschafts- und Finanzkrise 2008-2009 fällt das System des globalen Finanzmarktkapitalismus und der neoliberalen Politik von einer Krise in die andere. Die Regierungen der Nationalstaaten, die diesem westlichen Bündnis angehören, sind mit einem permanenten Krisenmanagement befasst, das aber bei wachsenden Teilen der Bevölkerung als erfolglos angesehen wird und insofern zu Instabilitäten im politischen System führt. Die finden ihren Ausdruck vor allem im Anwachsen der neofaschistischen oder rechtspopulistischen politischen Kräfte.
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