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AutorenbildWolfgang Lieberknecht

Die Angst der ukrainischen Wehrdienstverweigerer vor den ukrainischen Fängern, den "Oliven"

Als Teenager war Ritchie begeisterter Parkourläufer. Parkour ist jener im Frankreich der späten Achtziger entwickelte Sport, bei dem sich der Athlet oder die Athletin ohne Hilfsmittel ihren Weg durch die von der jeweiligen Architektur und Kultur vorgegebenen urbanen oder natürlichen Räume bahnt. Bei einem Lauf durch den Park von Odessa, der dem Gedenken an die Verteidiger der Stadt im Zweiten Weltkrieg gewidmet ist, war Ritchie vor sechs* Jahren auf das dort ausgestellte U-Boot geklettert. "Es war alles gut, aber beim Runterklettern habe ich mich um ein paar Zentimeter verrechnet." Aus einer Höhe von rund sieben Metern knallte der Körper des Burschen ungebremst auf den Beton. Von den damals erlittenen Verletzungen – laut ärztlichem Attest eine schwere Gehirnerschütterung, ein Bandscheibenvorfall und eine angeknackste Wirbelsäule – hat er sich bis heute nicht erholt. "Ein- bis zweimal im Monat habe ich schwere Migräneanfälle und zwischendurch immer wieder Kopfschmerzen. Ich halte kein grelles Licht aus und keinen Lärm. Und wenn das Wetter umschlägt, tut mir der Rücken weh. Kannst du dir vorstellen, wie jemand wie ich eine Granate werfen soll?"

Das in Ritchies Augen einzig Gute, das seine Verletzungen zeitigten: eine Befreiung von der Wehrpflicht, der sonst jeder Mann in seinem Land unterworfen ist – theoretisch. Als er den Grenzern und den in Palanca stationierten Militärpolizisten sein Attest zeigt, bescheiden sie ihm nicht nur, dass er das Land trotzdem nicht verlassen darf. "Sie haben mir gesagt, dass die für mich geltende Ausnahme nicht mehr gilt, weil jetzt das ganze Land im Krieg ist. Und dass ich mich darauf einstellen soll, irgendwann eingezogen zu werden. Nicht sofort, aber irgendwann." Auch wenn sein Einberufungsbefehl erst Ende 2022 im Postfach jener Adresse landet, an der Ritchie offiziell gemeldet ist, war das der Zeitpunkt, an dem er die wahrscheinlich folgenreichste Entscheidung seines jungen Lebens trifft: "Ich will nicht kämpfen. Ich will es nicht, und ich kann es nicht." Eine Haltung, die er heute mit zehntausenden, möglicherweise hunderttausenden Ukrainern im wehrfähigen Alter teilt.

Wie viele es wirklich sind, die sich weigern, ihr Land mit der Waffe gegen die Invasoren zu verteidigen, lässt sich unmöglich herausfinden. Einzig anekdotisch lassen sich Belege für die These finden, dass es sich potenziell um mehr als ein Randphänomen handelt. Allein dem Autor sind vier Fälle wie der von Ritchie persönlich bekannt, zwei in Odessa und zwei in der Hauptstadt Kiew. Ganz zu schweigen von denen, die sich ihre Wehrdienstbefreiung buchstäblich erkauft haben. Leute wie Pavel*, einer von Ritchies besten Freunden. "Er leidet an Asthma, schon immer. Aber nicht so schlimm, dass er deswegen untauglich (für den Dienst an der Waffe, Anm.) wäre. Er hat einfach gemacht, was in Odessa viele gemacht haben. Er hat einem Anwalt – es gibt hier viele Anwälte, die sich auf solche Fälle spezialisiert haben – 5.000 Dollar gezahlt. Und der hat sich dann darum gekümmert, dass er die nötigen Papiere bekommt, um das Land verlassen zu können. Das war letzten Winter. Es hat einen Monat gedauert, aber am Ende hat alles geklappt. Er lebt heute in Norwegen*."

Ritchie: Ich liebe meine Mutter. Ich liebe meine Freunde, und ich möchte sie verteidigen. Aber nicht mit der Waffe." Das Haus verlässt er nur, wenn es unbedingt sein muss und für so kurze Zeit wie möglich. Einen Supermarkt hat er schon ebenso lange nicht mehr von innen gesehen wie eine Bar, ein Restaurant oder ein Kino. "Es ist wie eine endlose Covid-Quarantäne. Der Unterschied ist, dass ich keine Angst habe, mir ein Virus einzufangen, sondern den Männern und Frauen in den olivfarbenen Uniformen zu begegnen."

Suche nach Leuten wie Ritchie

Informationen darüber, wie viele Ressourcen das ukrainische Verteidigungsministerium einsetzt, um Leute wie Ritchie zu finden, gibt es keine. In Odessa lässt sich die These, dass das Militär seine Rekrutierungsmaßnahmen in den vergangenen Monaten verstärkt hat, nur anekdotisch belegen. In den Straßen der Schwarzmeermetropole patrouillierten über den gesamten Sommer hinweg mehrere Gruppen bewaffneter Militärpolizisten. Da und dort werden diese Einheiten – die in der Regel aus drei bis vier Leuten bestehen – von einem oder zwei Polizisten verstärkt. Sie halten scheinbar wahllos Männer auf und fragen sie nach ihrem Ausweis und dem Status ihrer Militärregistrierung. Der Autor selbst wurde allein im Monat Juli dreimal angehalten und dieser Behandlung unterzogen, zweimal beim Gang durch die Altstadt und einmal am Bahnhof.

Hotspot Bus

Laut Ritchie bilden neuerdings auch die öffentlichen Verkehrsmittel ein Ziel der Militärpolizei: "Besonders gefährlich sind die Busse. In der Tram ist es relativ sicher, aber aus irgendeinem Grund konzentrieren sie sich auf die." Ab und an poppen in den lokalen Social-Media-Kanälen Bilder und Videos der "Cameo-Männer", oder "Oliven", wie sie im Volksmund genannt werden, bei der Arbeit auf. Gewaltanwendung bildet bei nämlicher die absolute Ausnahme von der Regel. Einzig wenn der Betroffene aus irgendeinem Grund von sich aus die Fäuste sprechen lässt, reagieren die Soldaten und Polizisten entsprechend.

iele Männer, die sich vor ihnen verstecken, wollen es indes gar nicht erst so weit kommen lassen. Abgesehen von Offline-Strategien wie denen, die Ritchie entwickelt hat, informieren sie sich über die Aktivitäten der Militärpolizei in einschlägigen Telegram-Gruppen. Dort halten sich sie und ihre Sympathisanten oft im Minutentakt auf dem Laufenden: "13.44. Vorsicht! Olivenbus in Kanatna gesichtet (ein Viertel am Rand der Altstadt von Odessa, Anm.). Hält vor der Polizeischule." "14.35. Oliven am Ausgang des Busbahnhofs. Wodoprovidna und Nowoschipny Riad." "16.46. Achtung! Drei Oliven und zwei Polizisten in Kyiwski (südlicher Vorort, Anm.), Pywdenni-Markt." Manche dieser Gruppen zählen bis zu 30.000 Abonnenten.

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