Chinas geduldige Neutralität & das Ende der Vorherrschaft des Westens. Multipolarität ist keine Theorie mehr, sondern Realität.Mächte wie China,Indien, Indonesien&Brasilien behaupten ihren eigenen Weg
- Wolfgang Lieberknecht
- 29. März
- 3 Min. Lesezeit
Die globale Ordnung wächst über die euro-amerikanische Dominanz hinaus. Während der Westen gerade erst beginnt, seine selbst zugefügten Wunden zu lecken, stürmen China und andere BRICS-Staaten voran.

Dr. Yu Bin auf der Neutralitätskonferenz 2024 in Kyoto.
Die Obsession des Westens mit 1938
In einem kürzlich gehaltenen Vortrag über Neutralitätsstudien erörtert Dr. Yu Bin den traurigen Zustand und die überholte Natur populärer Erzählungen über die internationale Welt im kollektiven Westen – insbesondere in Europa – und wie diese in China wahrgenommen werden.
Er argumentiert, dass das seltsame Gespenst von München 1938 den politischen Diskurs im Westen heimsucht. Interessengruppen nutzen es als Vorwand, um diplomatische Kompromisse als einen Akt der Beschwichtigung darzustellen. Dieses bequeme „historische Trauma“ hat sich zu einem Dogma verfestigt: Jeder Frieden, der nicht maximalistische Forderungen erfüllt – wie die vollständige Rückgabe der Krim an die Ukraine – wird von vornherein abgelehnt. In diesem Zusammenhang werden Trumps Deeskalationsversuche als Verrat karikiert, selbst wenn sie eine nüchterne Anerkennung der damit verbundenen nuklearen Risiken widerspiegeln.
Die Weigerung Europas, Verhandlungen als legitim zu betrachten, ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich. Trump steht trotz seiner polarisierenden Art für eine Abkehr von der Logik des endlosen Krieges, die die westliche Politik nach dem Kalten Krieg beherrscht hat. In China wird dies nicht als Schwäche, sondern als längst überfälliger gesunder Menschenverstand angesehen.
Strategische Geduld und zivilisatorische Klarheit
China spielt auf lange Sicht – nicht aus Passivität, sondern aus Prinzip. Seine Neutralität im Russland-Ukraine-Krieg beruht nicht auf Gleichgültigkeit, sondern auf dem Bekenntnis zu einem anderen Modell der internationalen Ordnung. Im Gegensatz zur „Einheit durch Gleichheit“ des Westens setzt sich China für eine „Einheit durch Differenz“ ein und stützt sich dabei auf konfuzianische Ideale und historische Erfahrungen.
Es strebt nicht nach Dominanz, sondern nach Koexistenz. Diese Weltanschauung erstreckt sich auch auf Chinas Beziehungen zu Russland und dem globalen Süden, wo die Zusammenarbeit von gegenseitigem Respekt und nicht von hegemonialer Kontrolle geprägt ist. Die chronische Fehleinschätzung der chinesisch-russischen Beziehungen durch den Westen ist ein Sinnbild für sein allgemeines Unvermögen, dieses strategische Ethos zu begreifen.
Russland und China sind Partner, keine Verbündeten. Ihre Bindung basiert nicht auf verstrickenden Verpflichtungen, sondern auf einem gemeinsamen Verständnis von Souveränität, Nichteinmischung und historischem Gedächtnis. Es gibt keine Automatismen: Wenn Taiwan ausbricht, ist Russland nicht verpflichtet, für China zu kämpfen, und umgekehrt. Westliche Analysten, die in NATO-ähnlichem Denken verhaftet sind, verstehen diese Art von pragmatischer, interessenbasierter Diplomatie nicht.
Die zerbrechende Ordnung und ein Fenster für den Frieden
Die liberale Weltordnung bricht unter der Last ihrer Widersprüche zusammen. Endlose Kriege, moralische Heuchelei und die Weigerung, die globale Vielfalt zu akzeptieren, haben die Glaubwürdigkeit des Westens untergraben. Multipolarität ist keine Theorie mehr, sondern bereits Realität. Mächte wie Indien, Indonesien und Brasilien behaupten ihren eigenen Weg.
Institutionen wie die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit und die BRICS spiegeln diese Verschiebung wider – nicht als antiwestliche Allianzen, sondern als Foren der postwestlichen Zusammenarbeit.
Dr. Yu Bin ist sich der bevorstehenden Gefahren bewusst. Die öffentliche Diplomatie im Zusammenhang mit den Waffenstillstandsgesprächen zwischen den USA und Russland könnte die Chancen auf einen dauerhaften Frieden untergraben. Dennoch sieht er Anzeichen der Hoffnung: eine wiedererwachte Bereitschaft zum Gespräch, auch wenn es inoffiziell ist, und eine russische Strategie, die mehr als nur eine militärische Pause anstrebt. Sie will ein grundlegendes Überdenken der Ost-West-Beziehungen. Trumps Rolle ist hier entscheidend. Seine Kontaktaufnahme, wenn auch chaotisch, hat die Tür zur Diplomatie aufgestoßen. Für China ist dies der Moment, auf den es still gewartet hat: Die Welt spricht endlich über Frieden, wenn auch unvollkommen.
Ende der Hegemonie
Das Zeitalter der westlichen Hegemonie ist vorbei – nicht durch Eroberung, sondern durch Erschöpfung. Chinas zurückhaltende, aber entschlossene Herangehensweise steht für eine neue Art der Machtpolitik: eine, die Geduld, Vielfalt und Stabilität über Dominanz stellt. Wenn der Westen Neutralität weiterhin als Verrat und Unterschiede als Bedrohung ansieht, wird er nicht nur die Welt falsch einschätzen, sondern auch seinen Platz in ihr verlieren.
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