Good By Pinochet, good by Neoliberalismus?: Linke und Unabhängige werden neue Verfassung schreiben
Aktualisiert: 18. Mai 2021
Die Chance ist da, doch wird die Mehrheit aus Linken und Unabhängigen und Indigenen sie nutzen können - das ist nicht ausgemacht, es gibt in Chile eine große gesellschaftliche Krise und Zersplitterung, die der Neo-Liberalismus organisiert hat - alle, die für Menschenrechte und Gerechtigkeit stehen, sollten die Entwicklung verfolgen und unterstützen: Schließlich hat der von den US-Regierungen unterstützte (und vielleicht auch mitinitiierte Militärputsch) nicht nur die mit Allende aufkommende Möglichkeit eines demokratischen Sozialismus gestoppt, sondern auch dem Neoliberalismus, der Zerstörung des nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzten Sozialstaates zu seinem schrittweisen Durchbruch verholfen.
aktualisiert: Epochenwechsel in Chile: Linke und Unabhängige werden neue Verfassung schreiben
Das Ergebnis der Wahlen am vergangenen Wochenende in Chile interpretieren viele Beobachter als Ohrfeige für Traditionsparteien. Sie wurden von den Wählern abgestraft
Am Ende war es in Chile ein klarer Erdrutschsieg: Aus den Wahlen zum Verfassungskonvent und den Lokal- und Regionalwahlen gingen am Sonntag unabhängige und linke Kandidaten und Kandidatinnen als Sieger hervor. Den 155 Angehörigen des Verfassungskonvents obliegt es nun, eine neue Verfassung zu schreiben. Diese ersetzt dann das noch aus der Zeit der Militärdiktatur stammende Grundgesetz.
Dem regierenden rechten Lager, vereint in der Gruppierung Chile Vamos, gelang es bei diesem Urnengang nicht, die angestrebte Ein-Drittel-Sperrminorität zu erreichen. Sie kam ersten Ergebnissen zufolge auf 38 Sitze. Auch das bürgerliche Mitte-links-Lager, das unter dem Dach Lista del Apruebo antrat und als Concertación-Parteienbündnis Chile lange regiert hatte, scheiterte daran und kam nur auf 25 Sitze.
Gewinner waren zahlreiche Bürgerlisten sowie das linke Lager, bestehend aus Frente Amplio und den Kommunisten, die sich im Bündnis Apruebo Dignidad zusammengeschlossen hatten und auf 27 Sitze kommen. Die kommunistische Partei wird erstmals die Bürgermeisterin im Zentrum der Hauptstadt Santiago stellen. 17 Sitze gehen an indigene Kandidaten. Das Konvent wird außerdem paritätisch besetzt sein, was in dem konservativ-patriarchalisch geprägten Land feministischen Anliegen einen Auftrieb geben dürfte.
Andere zeigten sich besorgt, dass angesichts des Linksrucks das chilenische Wirtschaftswunder gefährdet sein könne. Die Börse, die Währung und das Länderrisiko reagierten am Montag mit großen Schwankungen. Das Pro-Kopf-Einkommen in Chile stieg zwischen 1980 und 2020 von 2.542 Dollar auf 14.896 im Jahr 2019 – allerdings bei einer sehr ungleichen Verteilung. Chile rangiert im internationalen Gini-Index, der die Einkommensverteilung misst, im unteren Drittel weltweit.
Die Wahlen galten auch als Thermometer für die Ende des Jahres anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen.
Die Zeit bis dahin dürfte allerdings von Unsicherheit geprägt sein. Unklar ist vor allem, wie sich die Zersplitterung und die zahlreichen Newcomer im Verfassungskonvent niederschlagen werden. Der Analyst Patricio Navia warnte vor überzogenen Erwartungen an eine neue Verfassung, die in einem Wunschkatalog ausarten könnte. "Keine Verfassung in Lateinamerika hat die Ungleichheit auf Dauer reduziert", schrieb er.
Ein Wermutstropfen ist allerdings die generell relativ geringe Wahlbeteiligung von 40 Prozent. Für Marta Lagos vom Meinungsforschungsinstitut Latinobarómetro ist dies zum einen auf die Taktik der rechten Regierung zurückzuführen, die kaum Werbung oder Aufklärung betrieb. Zum anderen deute dies auf ein tieferliegendes gesellschaftliches Problem hin. "86 Prozent der Chilenen trauen ihrem Nächsten nicht. Die Ungleichheit hat die Gesellschaft zerbrochen", so Lagos.
NZZ: Zwei Überraschungen gab es bei der Wahl zur verfassunggebenden Versammlung in Chile vom Wochenende: Den Rechtskandidaten ist es nicht gelungen, mehr als ein Drittel der Stimmen auf sich zu vereinen. Dagegen übertrifft die Zahl der unabhängigen, also parteilosen Kandidaten deutlich die Prognosen. Damit dürften wichtige Forderungen der Linken im Verfassungsprozess gute Chancen haben. Das gilt vor allem für die Bildung, die Gesundheit und das Rentensystem, die aus Sicht der Mehrheit der Chilenen dringend verbessert und als Rechte in der Verfassung verankert werden müssen.

Enttäuschend ist das Ergebnis vor allem für die konservative Koalition von Präsident Sebastián Piñera. Die Rechtskandidaten hatten sich auf eine Liste geeinigt, um sich nicht gegenseitig Konkurrenz zu machen. So hofften sie die gewünschte Sperrminorität von einem Drittel der 155 Kandidaten zu erreichen. Statt 52 wurden aber nur 39 Kandidaten aus dem rechten Spektrum gewählt.
Alle Entscheidungen des Verfassungskonvents müssen mit einer Zweidrittelmehrheit getroffen werden. Damit dürften wichtige Forderungen der Linken im Verfassungsprozess gute Chancen haben. Das gilt vor allem für die Bildung, die Gesundheit und das Rentensystem, die aus Sicht der Mehrheit der Chilenen dringend verbessert und als Rechte in der Verfassung verankert werden müssen. Viele im Verlauf der Proteste ab 2019 entstandene Bürgerversammlungen und neue politische Strömungen im linken Spektrum wie der Mitte sehen in der bisherigen Verfassung ein Hindernis für tiefgreifende Sozialreformen und eine Ursache der grossen Ungleichheit im Land.
Für die konservative Wirtschaftselite des Andenlandes ist das alles schwer zu akzeptieren. Sie verteidigt einhellig den Status quo – und fürchtet die nun erhöhte Unsicherheit für Investitionen. Tatsächlich dürften die nächsten eineinhalb Jahre politisch kontrovers werden. Parallel zu den Verfassungsverhandlungen finden im November Kongress- und Präsidentschaftswahlen statt. Wenn die neue Regierung und die neue Legislative im März 2022 antreten, ist noch unklar, mit welcher Verfassung sie regieren werden.
https://www.nzz.ch/international/wahl-zum-verfassungskonvent-in-chile-unabhaengige-und-linke-stark-ld.1625536