BRICS: Emanzipative Selbstermächtigung des Nicht-Westens ohne den Westen, nicht gegen den Westen. Das Gipfeltreffen in Russland zeigt, wie multipolar die Welt schon geworden ist.
- Wolfgang Lieberknecht
- 25. Okt. 2024
- 3 Min. Lesezeit
Berliner Zeitung: Wie der Berliner sagt: Wladimir Putin kann vor Kraft nicht laufen. Für den russischen Präsidenten war der Brics-Gipfel mit 35 teilnehmenden Nationen und 22 Staats- und Regierungschefs wie eine Eigenbluttherapie mit Turbofaktor, seine abschließende Pressekonferenz ein Pingpong mit Heimvorteil. Nordkoreanische Soldaten in Russland – die Frage kam von dem NBC-Moderator Keir Simmons. Wer habe denn eskaliert, kam es zurück. Wer habe Millionen in den Kiewer Umsturz gesteckt, wer habe die Minsk-Jahre zur Aufrüstung der Ukraine genutzt?
Oder der Einwurf des Moskauer BBC-Korrespondenten Steve Rosenberg: Warum befördere der russische Geheimdienst Hass und Hetze in Großbritannien, warum sorge er für Unruhe auf britischen Straßen? Für Putin ein leichtes Spiel: Die Politik der inneren Spaltung betrieben die europäischen Regierungen alleine, ohne jede ausländische Hilfe.
Umstrittene antiwestliche Positionierung
Schon die Brics-Erweiterung zu Jahresbeginn – um den Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Äthiopien – hatte zu internen Friktionen geführt. Dass bis auf Nordkorea die gesamte im Westen verfluchte „Achse des Bösen“ den Brics angehört, namentlich China, Russland und der Iran, stößt in Ländern wie Indien und Brasilien auf Widerstand. Dort will man keineswegs, dass die Brics sich zum antiwestlichen Block formieren. Was man will, ist eine Plattform ohne den Westen, aber nicht gegen den Westen. Vor allem die Mitgliedschaft des polarisierenden Irans sorgt für Sprengstoff, sei es mit Blick auf das hindu-nationalistisch regierte Indien, sei es aufgrund der schwierigen Nachbarschaft mit den Golfstaaten. Argentinien hatte schon nach Amtsantritt des Präsidenten Javier Milei Ende 2023 seinen Mitgliedsantrag zurückgezogen. Das offiziell eingeladene Saudi-Arabien blieb aufgrund eigener Zweifel außen vor.
Der jetzt gefundene Kompromiss sieht einen dauerhaften Aufnahmestopp bei gleichzeitiger Schaffung einer Zwei-Stufen-Brics vor, die künftig als Brics+ firmiert. Neben den neun Vollmitgliedern werden sogenannte Partnerstaaten eingeladen, derzeit 13 an der Zahl: Algerien, Belarus, Bolivien, Indonesien, Kasachstan, Kuba, Malaysia, Nigeria, Thailand, die Türkei, Uganda, Usbekistan und Vietnam.
Der Osten ist eine delikate Angelegenheit
Nun darf man annehmen, dass weder das neue Format noch der Aufnahmemodus während des Gipfeltreffens geboren wurde. Die betroffenen Länder werden informiert gewesen sein. Die russische Präsidentschaft wird alles darangesetzt haben, Überraschungen und Enttäuschungen der Gäste zu vermeiden. Aus alter Erfahrung existiert im Russischen das Sprichwort „Der Osten ist eine höchst delikate Angelegenheit“ – und wenn irgendwo von Osten die Rede sein kann, dann innerhalb der Brics.
Ein weiteres Produkt des Kasaner Gipfels ist das Abschlusskommuniqué namens „Kasaner Deklaration“ – ein 33-seitiges Werk, das in 134 Punkten in kaum lesbarer Detailverliebtheit auflistet, was die Brics bewegt. Dabei wird kein Bereich ausgelassen: Handel, Finanzen und Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft, Sport und Kultur, Sicherheit, die Rolle der Frau, die internationale Ordnung, Freiheit, Menschenrechte und Demokratie.
Der Kampf der Narrative geht damit in die nächste Runde. Und der Westen wird nachlegen müssen, wenn er seine Autorität bewahren will. Doch die ist, bei Licht betrachtet, schon Vergangenheit. Auch das zu erkennen hilft der Kasaner Gipfel.
Außer den Russen, in Teilen den Iranern und natürlich dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas ist eigentlich niemand willens, sich intensiv und emotional am Westen abzuarbeiten. Die Chinesen haben das nicht mehr nötig. Die anderen Gipfelteilnehmer wirken deutlich entspannter; sie spüren, dass die Zeit auf ihrer Seite ist.
Nur neun Prozent aller Kinder wachsen im Westen heran
Der Kasaner Gipfel, nicht zuletzt die Anwesenheit des UN-Generalsekretärs António Guterres, hat die Brics als geopolitische Realität etabliert. Man begreift sie am besten als emanzipative Selbstermächtigung des Nichtwestens – ohne den Westen. Ein „Gegen den Westen“ existiert primär in den Fantasien (und Sehnsüchten) des emotional überspannten Russlands – und in den Ängsten des Westens selbst. Die eigentliche Triebkraft hinter der Brics-Dynamik ist eine ganz andere: Nur noch neun Prozent aller Kinder auf der Welt wachsen in den Ländern des sogenannten Westens heran.
Bilderleiste und der ganze Text über den LINK:
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