Ist es nicht kollektive Bestrafung, wenn man eine gesamte Bevölkerung von der Außenwelt abriegelt und ihr Nahrung und Trinkwasser vorenthält? Dazu kommen die Zahlen: In den elf Tagen 2021 sind 250 Zivilisten umgekommen, darunter 60 Kinder. Jetzt waren es im gleichen Zeitraum 2.000 Tote und 500 Kinder. Mir hat letztens ein Freund aus Gaza gesagt: Wir haben mindestens eine Generation verloren. Und er meinte: eine Generation, die bereit zum Frieden ist.
Der Standard, Auszüge: Ex-UNRWA-Chef Schmale. Auf Druck der Hamas musste Matthias Schmale vor zwei Jahren Gaza verlassen. Den Vorwurf, dass UN-Hilfslieferungen von der Hamas abgezweigt würden, hält er für Unfug
Interview /Maria Sterkl 16. November 2023
Die Angriffe der israelischen Armee im nördlichen Gazastreifen gingen auch am Mittwoch unvermindert weiter.AFP/FADEL SENNA Als Gaza-Chef der UN-Hilfe für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) war Matthias Schmale Druck von allen Seiten ausgesetzt: Israel warf ihm Nähe zur Hamas vor, die Zivilisten in Gaza machten ihn für Sparprogramme der UN verantwortlich – und zum Schluss musste Schmale aus Angst vor Angriffen überstürzt den Gazastreifen verlassen. Nachdem er 2021 in einem Interview gesagt hatte, Israels Luftschläge seien "präzise und ausgeklügelt", hatte ihm die Hamas den Polizeischutz entzogen. STANDARD: Israel hat nun zugestimmt, dass eine begrenzte Menge an Treibstoff an die UN in Gaza geliefert werden darf – allerdings nicht an Krankenhäuser. Man habe Angst, dass er in die Hände der Hamas geraten könnte. Verstehen Sie das? Schmale: Eigentlich nicht. In meinen Jahren im Gazastreifen hatten wir sehr klare Abkommen mit den Israelis über das, was wir in Gaza eingebracht haben – Baumaterial für Schulen etwa. Sie hatten Ingenieure, die genau berechnet haben, ob die Mengenangaben an Zement oder Treibstoff richtig sind für den Zweck, den wir angegeben haben. Zwar ist der Vorwurf auch damals hochgekommen – aber interessanterweise weniger von unseren direkten israelischen Partnern. Die haben uns vertraut, dass das zweckgemäß verwendet wurde. STANDARD: Im Jahr 2021 haben Sie die israelischen Luftschläge als "präzise" bezeichnet, worauf Sie von der Hamas bedroht wurden. Sehen Sie diese Präzision auch heute noch? Schmale: Ich erlebte es damals so, dass die Schläge präzise waren, aber in diesem Krieg würde ich das nicht mehr so sehen. Das Ausmaß der Zerstörung, die Zahl der Toten, der toten Kinder – für mich sieht das mehr nach kollektiver Bestrafung aus. STANDARD: Das ist ein schwerer Vorwurf. Worauf stützen Sie ihn? Schmale: Ist es nicht kollektive Bestrafung, wenn man eine gesamte Bevölkerung von der Außenwelt abriegelt und ihr Nahrung und Trinkwasser vorenthält? Dazu kommen die Zahlen: In den elf Tagen 2021 sind 250 Zivilisten umgekommen, darunter 60 Kinder. Jetzt waren es im gleichen Zeitraum 2.000 Tote und 500 Kinder. STANDARD: Aus Ihrer Erfahrung in Gaza: Wie stark ist der Rückhalt der Hamas in der Zivilbevölkerung? Schmale: Mein Eindruck war, basierend auf vielen Gesprächen, dass die Zustimmung damals sehr stark zurückgegangen ist. Dieser Zynismus, dass die Hamas-Führung im Ausland lebt und es sich dort sehr gutgehen lässt: Da gab es viel Kritik. Hätte es damals Wahlen gegeben, hätte es mich sehr überrascht, wenn die Hamas diese gewonnen hätte. STANDARD: Welche Lösung würden Sie sich für Gaza wünschen? Schmale: Was sich wohl viele Palästinenser wünschen, ist ein Staat, in dem es freie Wahlen und Alternativen gibt. Selbst wenn es gelingt, die Hamas auszulöschen, ist aber die Frage, was der langfristige psychische Schaden bei den Menschen ist, die Angehörige, Freunde, Nachbarn verloren haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie am Tag danach einfach zur Tagesordnung übergehen und sagen: Jetzt schließen wir Frieden mit Israel. Mir hat letztens ein Freund aus Gaza gesagt: Wir haben mindestens eine Generation verloren. Und er meinte: eine Generation, die bereit zum Frieden ist. (Maria Sterkl, 16.11.2023) Matthias Schmale (61) war von 2017 bis 2021 Leiter der UN-Palästinenserhilfe UNRWA in Gaza. Derzeit ist er humanitärer UN-Koordinator in Nigeria.
Comentários