Am Wahltag vor 38 Jahren hing das Leben am seidenen Faden! Lehren hat die Politik nicht gezogen
Aktualisiert: 25. Sept. 2021

Stanislaw Petrow hatte 1983 den sowjetischen Luftraum zu überwachen. Das Vertrauen der Großmächte war zu der Zeit gleich Null. Sie trauten einander alles zu. Der damalige Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, Jury Andropow, hatte die Überzeugung, dass die NATO einen atomaren Erstschlag auf die UdSSR vor hatte. Am 26. September signalisierten seine Computer ihm einen Raketenangriff der NATO. Nach seiner Dienstanordnung hätte er reagieren müssen. Doch er glaubte, dass es ein Computerfehler war, weil nur wenige Raketen im Anflug zu sein schienen. Er glaubte, dass die NATO mit vielen Raketen angreifen würde, wenn sie angreifen wollte. Er entschied sich, nichts zu tun. Und damit bewahrte er die Menschheit vor der Katastrophe. Als er aber später von der Idee in der NATO-Richtlinie erfuhr, mit wenigen Raketen einen Enthauptungsschlag - die Zerstörung der Kommandozentralen des Gegners - zu führen, erkläre er: Hätte ich das gewusst, hätte ich die Reaktion ausgelöst: Der atomare Krieg wäre da gewesen. In der Schule wird an diesem Beispiel nicht die Schwäche der globalen Friedensordnung verdeutlicht, nur Wenigen ist der Vorfall noch präsent, vor allem nicht den Jüngeren. Geben wir ihnen die Erfahrung weiter, damit sie selbst im Wissen der Gefahren entscheiden können, ob sie weiter mit dem Risiko leben wollen oder sich für den Aufbau einer Friedensordnung engagieren wollen, die solche Gefahren beseitigt.
Heute sind wir in der gleichen Lage: Die USA bezeichnen China als Feind, kreisen es militärisch ein, schmieden Bündnisse gegen China und erhöhen ihre Rüstungsausgaben immer weiter. Sie erklären, dass sie es nicht dulden werden, dass eine andere Macht so stark wird wie sie.
Die Staaten haben noch mehr und stärkere Atomwaffen als 1983. Die Menschheit hat noch keine Friedensordnung geschaffen, die eine atomare Katastrophe sicher verhindern könnte. Die USA und die NATO schließen den Ersteinsatz von Atomwaffen nicht aus.
US-Präsident Roosevelt hatte die US-Amerikaner mit den Argument für die Unterstützung des Aufbaus der UNO gewonnen, dass Krieg angesichts der Atomwaffen künftig die Menschheit zerstören werden. Deshalb müsste der Krieg verbannt und müssten alle Kriege mit friedlichen Mitteln gelöst werden.
Doch bald nach dem Ende des Krieges ging die Feindschaft, das Kriegführen und das Wettrüsten weiter. Die Menschheit hat nichts gelernt und ignoriert die tödliche Gefahr, resümierte Albert Einstein.
Die USA-Amerikaner haben angesichts der täglich wachsenden ökonomischen Stärke Chinas nur noch eine Möglichkeit, ihre Vorherrschaft zu verteidigen: Mit militärischen Mitteln. Sie haben durch Krieg versucht, die Ölquellen im Nahen und Mittleren Osten unter ihre Kontrolle zu bringen. Von ihnen sind heute alle Mächte abhängig, so wollte die USA dauerhaft ihre Vorherrschaft sichern. Dieser Versuch hat zwar Hunderttausenden das Leben gekostet und Millionen vertrieben, aber das Ziel nicht erreicht. Die USA wenden sich jetzt deshalb zur direkten Konfrontation mit China zu.
Wenn wir jetzt keine Bewegung gegen den Aufbau von Feindbildern hinbekommen und keine globale Koalition der Friedensaktiven von Unten, hängt unser Leben wieder am seidenen Faden. Lernen wir vom 26. September 1983, wie schnell es vorbei sein kann. Wir müssen davon ausgehen, dass nicht immer ein Stanislaw Petrow da sein wird.
"Um 0.15 Uhr schrillte die Sirene los"
Der Russe Stanislaw Petrow verhinderte 1983 einen Atomkrieg. Jetzt wird er dafür geehrt
Von Heike Vowinkel
Die Kongresshalle in Baden-Baden, der Deutsche Medienpreis wird verliehen. Im Publikum sitzen Veronica Ferres, Franziska van Almsick, Johannes B. Kerner, die Stars der Medienwelt. Auf der Bühne vier stille Friedensstifter, die afghanische Bildungsexpertin Sakena Yacoobi, der kongolesische Arzt Denis Mukwege, der palästinensische Pfarrer Mitri Raheb. Und Stanislaw Petrow. Der kleine Mann mit weißem Haar und grauem Schnurrbart knetet die Hände, als er an der Reihe ist. Er wird als Letzter geehrt. Er ist es nicht gewohnt, im Rampenlicht zu stehen, es ist ihm sichtlich unangenehm. Die Entscheidung, die er am 26. September 1983 mitten in einer der heißesten Phasen des Kalten Krieges traf, bewahrte die
Welt vor einem Atomkrieg. Oberstleutnant Stanislaw Petrow war damals diensthabender Leiter der geheimen Satellitenüberwachungsanlage der Sowjetunion, 90 Kilometer südlich von Moskau. An diesem Abend meldete der Computer den Angriff von US-Nuklearraketen.
Heike Vowinkel traf Petrow jetzt am Wochenende nach der Preisverleihung.
Die Welt: Erinnern Sie sich noch an die Stimmung des Jahres 1983?
Stanislaw Petrow: Oh ja, sehr gut sogar. Es war ein schwieriges Jahr. Es hatte viele Spannungen gegeben, beide Seiten, der Osten wie der Westen, rüsteten auf. Die Nato hatte Pershing-II-Raketen in Westeuropa aufgestellt, die auf sowjetisches Territorium zielten.
Präsident Reagan nannte uns ein Reich des Bösen, nachdem die Sowjetunion versehentlich eine südkoreanische Passagiermaschine abgeschossen hatte, die in unseren Luftraum über dem militärischen Sperrgebiet von Kamtschatka eingedrungen war. Mir war klar, dass wir noch nie so nah an einem dritten Weltkrieg waren wie damals.
Die Welt: Das war drei Wochen vor dem 26. September. Wie hatte Ihr Dienst an diesem Tag begonnen?
Stanislaw Petrow: Wie immer. Ich begann um 20 Uhr meine Schicht. Mit mir saßen noch acht weitere Soldaten im Raum. Etwa 80 Offiziere und Soldaten, die mir an diesem Abend ebenfalls unterstanden, saßen in anderen Räumen und Gebäuden. Wir alle taten, was wir immer taten, wir kontrollierten das Satellitensystem und die Rechenzentren. Ich analysierte die Informationen von zwei Satelliten und bereitete die Aktivierung eines dritten vor. Jeder
Schritt war genau festgelegt. Alles war wie immer, einfach Routine.
Die Welt: Bis es Mitternacht wurde ...
Stanislaw Petrow: Ja. Um 0.15 Uhr - ich werde die Uhrzeit nie vergessen - schrillte die Sirene los. Auf einer großen Wand gegenüber von meinem Arbeitsplatz, wo sonst immer nur ein graues Lichtband zu sehen war, leuchteten plötzlich blutrot die Buchstaben "START".
Auf dieser Wand war dann auch die Satellitenkarte von Nordamerika zu sehen. Man konnte darauf die Lichter der Städte sehen, wo Fabriken lagen, und eben in der Mitte eine Stelle, die ein Quadrat um eine Militärbasis zeigte, die Meldung für den Start einer Rakete.
Die Welt: Wie lange brauchten Sie, um zu verstehen, was das heißt?
Stanislaw Petrow: Gewusst habe ich das gleich. Wir haben es ja zwei Mal im Jahr geprobt. Aber wenn der Ernstfall dann eintritt, ist das wie ein Schock. Ich habe sekundenlang nur auf diese Wand starren können. Irgendwann bin ich aufgestanden, habe nach rechts und links zu meinen Männern geschaut und mich vorgebeugt, wo etwas weiter unten vier weitere Kollegen saßen. Sie alle starrten mich an.
Die Welt: Was erwarteten sie von Ihnen?
Stanislaw Petrow: Dass ich, so, wie es die Vorschriften vorsahen, Befehle gebe. Ich setzte mich also und befahl ihnen, sich auch zu setzen. Ich rief: alles auf mein Kommando, und forderte von jedem einen Rapport an.
Die Welt: Und was machten Sie?
Stanislaw Petrow: Ich analysierte die Daten des Computers. Bei mir liefen alle
Informationen zusammen, denn ich musste ja zu einem Urteil kommen, ob es sich um einen echten oder einen Fehlalarm handelte. Darüber musste ich die Armeeführung in der Kommandozentrale in Moskau dann informieren. In den Vorschriften stand nicht, wann genau ich dort anrufen müsste, doch ich wusste, mir blieb nicht viel Zeit, wenige Minuten nur. Es hätte weniger als eine halbe Stunde gedauert, bis eine Rakete auf unserem Territorium einträfe. Und ich musste der Führung ja genug Zeit für einen Gegenschlag lassen.
Die Welt: Was taten Sie dann?
Stanislaw Petrow: Ich schaute auf den Monitor, der die Satellitenbilder zeigte, darauf war keine Rakete zu sehen. Allerdings lag die Militärbasis, von der die Rakete gestartet sein sollte, auf der Tag-Nacht-Grenze. Es konnte daher auch daran liegen, dass ich nichts erkennen konnte. Ich fragte die für die visuelle Beobachtung zuständigen Experten, aber auch sie konnten nichts erkennen. Die Analyse des Computersystems ergab aber auch, dass alles funktionierte. Ich bin Systemanalytiker, ich weiß, dass so etwas nicht sein konnte.
Die Welt: Was dachten Sie?
Stanislaw Petrow: Ich hatte das Gefühl, mein Kopf sei auch ein Computer. Alle
Informationen liefen hin und her, aber sie passten nicht zusammen.
Die Welt: Hatte es früher schon mal Fehlermeldungen gegeben?
Stanislaw Petrow: Nein, das war es ja. Weder der Computer noch die visuelle Beobachtung hatten schon mal einen Defekt. Ich bezog also noch andere Erwägungen mit ein: strategische. Ich hatte gelernt, ein Angriff würde nicht mit einzelnen Raketen starten, sondern es würden viele Raketen gleichzeitig losgeschickt. Also fragte ich mich, ob eine Militärbasis einen Fehler gemacht haben könnte. Aber ich wusste, dass die Amerikaner so wie wir einen sehr
komplexen Mechanismus für den Start von Raketen hatten, es war nicht möglich, dass einer ohne Wissen der Militärführung einen solchen Start machte.
Die Welt: Dachten Sie auch an die Folgen, die Ihr Urteil haben könnte?
Stanislaw Petrow: Ja, sicher. Ich dachte an den Hühnereffekt: Ein Hahn fängt an zu krähen, und obwohl die Sonne noch gar nicht aufgegangen ist, legen alle anderen auch los. Ich wusste, wenn ich jetzt einen Fehler mache, könnte ich den dritten Weltkrieg auslösen. Also wollte ich ihn lieber gegen das System machen als mit ihm.
Die Welt: Hatten Sie keine Angst vor Konsequenzen, falls Sie eine falsche Entscheidung träfen?
Stanislaw Petrow: Nein, das hat in dem Moment überhaupt keine Rolle gespielt. Ich habe auch nicht an meine Familie gedacht oder so was. Ich wusste nur, von dieser Entscheidung hängt viel ab. Letztlich bin ich meiner Erfahrung und meinem Instinkt gefolgt, die mir sagten, da stimmt was nicht.
Die Welt: Wie lange dauerte es, bis Sie die Militärführung anriefen?
Stanislaw Petrow: Etwa zwei Minuten. Ich griff zum Hörer, der eine gesicherte Leitung zum Führungskommando ermöglichte. Ich sagte, dass die Informationen des Computers falsch seien, ein Fehlalarm. Der Mann am anderen Ende sagte nur: Verstanden. Aber in dem Moment ging die Sirene erneut los. Wieder leuchtete "START" auf der Wand. Ich ging zu einem anderen Telefon, mit dem ich weitere Experten der Systemanalyse zu Hause anrufen konnte, um sie reinzurufen. Als ich aufstand, waren meine Knie ganz weich. Während ich
anrief, gingen ein dritter, ein vierter und ein fünfter Alarm los.
Die Welt: Mussten Sie sich dann noch mal bei Ihren Vorgesetzten melden?
Stanislaw Petrow: Nein, denn ich blieb bei meiner Entscheidung. Die Informationen blieben ja die gleichen. Es war ja immer noch kurios, dass einzelne Raketen losgeschickt worden sein sollten statt vieler gleichzeitig. Ich hatte nichts zu revidieren.
Die Welt: Was passierte danach?
Stanislaw Petrow: Danach konnten wir nur noch darauf warten, dass der Radar die angeblichen Raketen erfasste, sobald sie in unseren Luftraum eingedrungen wären. Bei der ersten Rakete hätte das so etwa nach 18 Minuten passieren müssen. Das Warten war furchtbar. Aber als die Zeit verstrich und nichts zu sehen war, fiel eine unglaublich schwere Last von mir ab.
Die Welt: Als Sie nach Hause kamen, haben Sie da erzählt, was passiert war?
Stanislaw Petrow: Natürlich nicht, das war streng geheim. Ich hatte eine Vereinbarung mit meiner Frau, dass ich von meinem Job nichts erzählen würde. Das hat sie respektiert.
Die Welt: Und wann haben Sie erfahren, wie es zu diesem Fehlalarm gekommen ist?
Stanislaw Petrow: Etwa nach einem halben Jahr. Offenbar hatte eine sehr seltene
Konstellation der Sonne und des Satelliten dazu geführt, dass Strahlen so von der Erdoberfläche in den Satelliten gespiegelt wurden, dass es wie der Start einer Rakete aussah. Und das passierte auch noch ausgerechnet über einer Militärbasis. Ein so unwahrscheinlicher Zufall, das war schon teuflisch.
Die Welt: Bekamen Sie eine Auszeichnung?
Stanislaw Petrow: Ja, aber nicht für diesen Abend. Das hätte ja nie publik werden dürfen, selbst in Militärkreisen war es nur wenigen bekannt. Ich wurde mit anderen für meine Verdienste um das Satellitenprogramm ausgezeichnet.
Die Welt: Wie wurde das Ganze dann überhaupt bekannt?
Stanislaw Petrow: Mein Vorgesetzter von damals hatte 1993 in einem Beitrag der "Prawda" darüber berichtet. Irgendwie gelangte das dann ins Ausland. In Russland hat das aber nie jemanden wirklich interessiert.
Die Welt: Herr Petrow, sind Sie ein Held?
Stanislaw Petrow: Nein, ich bin kein Held. Ich habe einfach nur meinen Job richtig gemacht.
Die Welt: Aber Sie haben die Welt vor einem dritten Weltkrieg bewahrt.
Stanislaw Petrow: Das war nichts Besonderes.
Aus: Berliner Morgenpost vom 27.2.2012.
Petrows Entscheidung
Wie ein Oberstleutnant der sowjetischen Armee vor 25 Jahren den Untergang der Welt verhinderte und dafür zum Dank tausend Dollar erhielt.
Der 26. September 1983 ist der Tag, an dem sich Stanislaw Petrows Leben völlig veränderte. Der 44-jährige Oberstleutnant der Sowjetarmee arbeitet als eitender
Offizier im Kontrollraum der Kommandozentrale der Satellitenüberwachung Serpuchowo-15. Die Armee-Einheit, die etwa 90 Kilometer südlich von Moskau
liegt, soll vor Raketenangriffen aus dem erdnahen Weltraum warnen.
Die Arbeitsbedingungen sind streng, oft gibt es Probealarm.
Wenn aus dem Telefon das Lied Erhebe dich, du großes Land erklingt, ist es wieder so weit.
Die Nachtschicht vom 25. auf den 26. September hat Oberstleutnant Petrow stellvertretend für einen Kollegen übernommen. Ihm unterstehen im Bunker der Kommandozentrale rund 200 Offiziere, die auf zwei Etagen arbeiten. Der Oberstleutnant gilt in seiner Einheit als guter Analytiker, die Dienstvorschriften für das neue Überwachungssystem, das seit einem Jahr in Betrieb ist, hat er selbst geschrieben. Die Stärken und Schwächen des Systems kennt er.
So denkt er zumindest. Im Kontrollraum deutet nichts darauf hin, dass diese Nacht dramatisch verlaufen wird. Die Offiziere der Schicht sitzen konzentriert an ihren Bildschirmen, die Lage ist ruhig. Vor Petrows Platz hängt eine große
Wandkarte, die das Territorium der USA aus der Perspektive des erdnahen Weltraums zeigt.
Kurz nach Mitternacht geht plötzlich ein markerschütternder
Alarm los. Kein Telefonanruf, kein Erhebe dich, kein Probealarm – sondern ein realer Atomalarm. »Es fühlte sich an wie ein Schlag in mein Nervensystem«, berichtete Petrow später. »Alle im Kontrollraum sprangen von ihren Stühlen auf und sahen mich an.« Auf der Wandkarte blinkt ein Warnlicht: An der Ostküste der Vereinigten Staaten ist eine Minuteman-Rakete gestartet, in Richtung Sowjetunion. Kreml-Chef Andropow glaubt fest an den Erstschlag der USA.
Ein roter Knopf mit der Leuchtschrift »Start« blinkt an Petrows Dienstplatz. »Fünfzehn Sekunden lang standen alle wie unter einem Schock.«
Zunächst ruft Petrow die Kommandozentrale seiner Dienststelle an. Dort ist man bereits informiert: »Bleiben Sie ruhig, tun Sie Ihre Pflicht!«, sagt eine Stimme. Daraufhin weist Petrow seine Untergebenen an, das Computersystem zu überprüfen.
Dazu sind nacheinander 30
einzelne Tests nötig. Unterdessen
meldet der Satellit Kosmos 1382
den Start einer zweiten, einer
dritten und schließlich einer
vierten Minuteman-Rakete, alle
von derselben Raketenbasis an der
Ostküste der Vereinigten Staaten
abgefeuert.
Wie die Testläufe ergeben,
arbeitet das Computersystem
einwandfrei. Das heißt: Vier
Interkontinentalraketen, jede mit
maximal zehn Atomsprengköpfen
bestückt, rasen über den Nordpol
auf die Sowjetunion zu. Es bleiben
etwa fünfzehn Minuten, bis sie
sowjetisches Territorium errei-
chen. Dann kommt eine neue
Meldung. Eine fünfte Rakete ist
gerade gestartet, wieder von
derselben Basis. Die Situation
scheint klar, das lang schon
Befürchtete eingetreten: Die
Vereinigten Staaten haben einen
Atomangriff begonnen. An
Petrows Dienstplatz blinkt nach
wie vor der rote Knopf für das
Signal »Start«.
Die Vorschriften legen fest, dass
Petrow die Leitung der Kom-
mandozentrale zu informieren hat,
die dann über das Kommandosystem Krokos den Generalstab im
Moskauer Stadtteil Arbat benach-
richtigen muss. Der Generalstab
wird daraufhin Jurij Andropow in
Kenntnis setzen. Nur der
Generalsekretär des Zentral-
komitees der Kommunistischen
Partei kann einen atomaren
Gegenschlag auslösen. Was
Petrow nicht weiß: Der General-
stab ist bereits automatisch über
den Alarm informiert worden.
Erst viele Jahre später sollte
bekannt werden, dass die Welt in
der Nacht zum 26. September
1983 nur knapp der Apokalypse
entgangen ist. Der Alarm fiel in
eine Zeit höchster internationaler
Spannungen: Nur dreieinhalb
Wochen zuvor, am 1. September,
hatte ein sowjetisches Jagd-
flugzeug die südkoreanische Passa-
giermaschine KAL007 westlich der
Insel Sachalin abgeschossen, 269
Menschen waren dabei ums Leben
gekommen. Die Führung in
Moskau bestand darauf, dass die
Maschine, die durch einen
Navigationsfehler vom Kurs abge-
kommen war und kurz zuvor
irrtümlich die Halbinsel Kam-
tschatka überflogen hatte, ein
amerikanisches Spionageflugzeug
war. Der Kalte Krieg hatte einen
neuen Gipfel erreicht.
Der Abschuss der KAL007 war
indes nicht die alleinige Ursache
der weltweiten Hochspannung.
Seit Mitte der siebziger Jahre
hatten die Konflikte ständig
zugenommen. Seit der Kubakrise
war die Menschheit nicht mehr in
einer ähnlich bedrohlichen Lage
gewesen. Doch im Gegensatz zu
jenen 13Tagen im Oktober 1962, in
deren Verlauf die Welt kurz vor
einem Atomkrieg stand, dauerte
die Krise in diesem Fall mehrere
Jahre, in ihrer heißen Phase etwas
über ein Jahr. Die Furcht vor einer
atomaren Katastrophe war all-
gegenwärtig.
Nach 1969 hatten sich die
Vereinigten Staaten und die
Sowjetunion auf eine Phase der
Entspannung verständigt, die in
eine politische Schönwetterlage zu
münden schien. Mit Verzögerung
musste der Westen jedoch
erkennen, dass die Sowjetunion
die ruhigen Jahre genutzt hatte,
um weiter atomar aufzurüsten.
Mitte der siebziger Jahre überholte
sie die USA in der Stückzahl der
atomaren Sprengköpfe und schuf
kurz darauf ein anderthalbmal so
großes atomares Waffenlager.
Zum Verdruss der westlichen
Länder stellte die Sowjetarmee seit
1977 in Weißrussland und in der
Ukraine Mittelstreckenraketen
vom Typ SS-20 auf, deren
Zielgebiet Westeuropa war. Die
Nato reagierte darauf mit ihrem
berühmten Doppelbeschluss vom
12. Dezember 1979. Man werde
mit dem Kreml über den Abbau
der SS-20-Mittelstreckenraketen
verhandeln. Bei ausbleibender
Einigung aber werde der Westen
seinerseits Pershing-II-Raketen und
Marschflugkörper aufstellen. Als
sowjetische Soldaten Ende
Dezember 1979 nach Afghanistan
vorrückten, war das Maß voll.
Kein Ereignis seit dem Einmarsch
der Truppen des Warschauer
Paktes in die Tschechoslowakei im
August 1968 hat das Ansehen der
Sowjetunion so sehr beschädigt
wie die Intervention in
Afghanistan. In den westlichen
Staaten, vor allem aber unter den
blockfreien Ländern, war die
Empörung groß. US-Strategen
begannen, in neuen Bahnen zu
denken. »Wir müssen [...] die
Sowjetunion zwingen, die Konse-
quenzen ihrer ökonomischen
Probleme in vollem Ausmaß zu
erleiden«, formulierte ein Berater
des Weißen Hauses die ameri-
kanische Antwort. Das hieß nichts
anderes, als die Sowjetunion zu
isolieren und totzurüsten. Kurz
nach seiner Vereidigung zum
Präsidenten der Vereinigten
Staaten im Januar 1981 warf
Ronald Reagan den Verant-
wortlichen in Moskau vor, sie
nähmen für sich ganz selbst-
verständlich »das Recht in
Anspruch, jedes Verbrechen zu
begehen, zu lügen, zu betrügen«.
Für ihn war die Sowjetunion ein
evil empire – das »Reich des
Bösen«. Im März 1983 verkündete
er die »Strategische Verteidigungs-
initiative«, die ein land- und
weltraumgestütztes Abwehr-
system gegen Atomangriffe vor-
sah. Der Kalte Krieg drohte zu
einem »Krieg der Sterne« zu
werden.
Die Herren des Kreml verstanden
sehr wohl, was die Stunde
geschlagen hatte. Zwar schreckte
sie Reagans Weltraumvision
zunächst nicht sonderlich, denn
ein weltraumgestütztes Abwehr-
system aufzustellen, das ihre
eigenen Atomraketen wertlos
machte, würde noch Jahre dauern.
Aber von den angekündigten
westlichen Mittelstreckenwaffen,
deren Vorwarnzeit bei fünf bis
sieben Minuten lag, ging eine
unmittelbare Bedrohung aus.
Generalsekretär Jurij Andropow
war felsenfest davon überzeugt,
dass die Vereinigten Staaten einen
Erstschlag gegen die Sowjetunion
vorbereiteten. Der Tag werde
kommen, glaubte er, da Aber-
hunderte Atomraketen nieder-
regnen würden.
Wie düster die Stimmung in
Moskau war, wurde erst Jahre
später durch Oleg Gordiewsky
bekannt, einen Ex-Mitarbeiter des
Geheimdienstes KGB, der damals
als stellvertretender Resident an
der sowjetischen Botschaft in
London tätig war. In seinem
zusammen mit dem Cambridge-
Historiker und britischen Geheim-
dienstmann Christopher Andrew
verfassten, fast tausendseitigen
Buch KGB – Die Geschichte seiner
Auslandsoperationen von Lenin bis
Gorbatschow enthüllte er 1990 die
Paranoia der Kreml-Oberen.
Die Sowjetunion verfolgte eine
komplexe Strategie. Auf der
diplomatischen Ebene wollte
Andropow aus einer Position der
Stärke heraus über Interkontinen-
talraketen verhandeln. Das eigent-
liche Ziel war jedoch, die Auf-
stellung der Pershing-II-Raketen
und der Marschflugkörper in
Mitteleuropa zu verhindern. Daher
suchte die Sowjetunion Einfluss
auf die Medien im Westen zu
nehmen, um die Proteststimmung
in der Bevölkerung zu schüren.
Das allerdings war völlig über-
flüssig. Denn in jenen Tagen
gingen, von der Angst vor einer
atomaren Katastrophe getrieben,
überall in Westeuropa die
Menschen auf die Straße. Wie
einst, als in der ersten Hochphase
des Kalten Krieges während der
fünfziger Jahre Hunderttausende
gegen den »Atomtod« demon-
striert hatten, gab es jetzt wieder
Kundgebungen riesigen Ausmaßes.
Im Oktober 1981 protestierten
rund 300000 Menschen im Bonner
Hofgarten gegen die atomare
Aufrüstung, in Brüssel waren es
200000, im November 1981 in
Amsterdam 400000. Als Reagan im
Juni 1982 Bonn besuchte,
demonstrierte eine halbe Million
Menschen gegen seine Politik. Ein
Jahr später versammelten sich in
Brüssel rund 400000 Menschen zu
einem Protest, in Den Haag etwa
550000. Doch unbeeindruckt hielt
die Nato am Doppelbeschluss fest:
Im Juli 1982 wurden die ersten
sechs Marschflugkörper in Groß-
britannien aufgestellt, im Dezem-
ber 1983 sollten einige Mittel-
streckensysteme in der Bundes-
republik und in Italien folgen.
Wie Gordiewsky schreibt, hatte
Andropow bereits im Mai 1981,
noch als Chef des Geheimdienstes
KGB, die Operation Rjan
angeordnet, benannt nach dem
russischen Begriff raketno-
jadernoje napadenije (atomarer
Raketenangriff), den die
Vereinigten Staaten angeblich
planten. Rjan hatte Priorität, alle
anderen Geheimdienstoperationen
mussten zurückstehen. Laut
Gordiewsky war Rjan eine gemein-
same Aktion des Geheimdienstes
KGB und des militärischen Nach-
richtendienstes GRU – ein Novum
in der Geschichte der beiden
Dienste, denen ein sorgsam
gepflegtes Spannungsverhältnis
nachgesagt wird.
Die KGB-Residenturen in den
wichtigsten westlichen Ländern
wurden beauftragt, nach allen nur
denkbaren Anzeichen des angeb-
lich geplanten Atomüberfalls zu
suchen. Ließen sich erhöhte
Aktivitäten in bestimmten
Ministerien und Ämtern fest-
stellen, vor allem an Wochen-
enden und Feiertagen? Die
Agenten mussten nachts die
beleuchteten Fenster in den
Verteidigungsministerien zählen
und die Belegung der Parkplätze
beobachten. Wurden Urlaubs-
sperren in den Ministerien erlas-
sen? Gab es vermehrt Aufrufe, Blut
zu spenden? Ließen sich in Banken
und Postämtern erhöhte Akti-
vitäten feststellen? Sogar die
Schlachthöfe standen unter
Beobachtung: Massenschlach-
tungen konnten bedeuten, dass
der Westen sich für die Tage des
Atomüberfalls einen Fleischvorrat
zulegte.
Rjan dauerte fast drei Jahre und
war die größte Geheimdienst-
operation in der Geschichte der
Sowjetunion. Mehrere osteuro-
päische Dienste schlossen sich der
weltumspannenden Operation an.
Obwohl viele KGB-Mitarbeiter
einen Atomüberfall für unwahr-
scheinlich hielten, zählten sie
pflichtgemäß die beleuchteten
Fenster und berichteten an die
Zentrale. Als die Nato für Anfang
November 1983 das Stabsmanöver
Able Archer ankündigte, bei dem
auch der Start von amerikanischen
Atomraketen in Europa simuliert
werden sollte, war Moskau
alarmiert: Able Archer musste der
Termin des gefürchteten Schlags
gegen die Sowjetunion sein.
Gut möglich, dass Stanislaw
Petrow weder von der Operation
Rjan noch von Able Archer je etwas
gehört hatte. Der Oberstleutnant
war Analytiker, seine Arbeit
bestand darin zu interpretieren,
was die Bildschirme sagten. So
auch in der Nacht des 26.
September, die sein Leben auf den
Kopf stellen sollte. Nach wie vor
blinkte die rote Taste mit dem
Signal »Start« an seinem
Dienstplatz. In einer Hand den
Telefonhörer für die Meldung an
seine Kommandozentrale, in der
anderen das Mikrofon für den
Kontrollraum, musste Petrow
schnell entscheiden: Was sagten
die Bildschirme tatsächlich?
Erkannte er jetzt auf Angriff, dann
wäre die Alarmkette wohl nicht
mehr zu stoppen gewesen.
Über das, was nun folgte, liegen
keine gesicherten Erkenntnisse
vor. So ist nicht bekannt, wann
genau Petrow seine Entscheidung
traf. Die Vereinigten Staaten
würden, so wusste Petrow, einen
atomaren Erstschlag nicht von
einer einzigen Raketenbasis aus
starten. Und sie würden einen
Überfall nicht mit wenigen
Atomraketen unternehmen. Das
wäre Selbstmord, die Sowjetunion
wäre immer noch zu einem
Gegenschlag in der Lage gewesen.
Ein atomarer Überfall würde von
allen Basen mit der
größtmöglichen Anzahl von
Raketen gestartet werden. Es
sprach also alles für ein
Missverständnis. So traf Petrow
seine einsame Entscheidung –
noch bevor die Meldung der
Radarstationen eintraf – und
meldete offiziell einen Fehlalarm.
Bange Minuten vergingen, die sich
endlos hinzogen. Dann kam die
befreiende Nachricht des
Bodenradars: Es befanden sich
keine Raketen im Anflug, der
Himmel über der sowjetischen
Arktis war leer.
Eine Stunde später baute sich
Petrows oberster Chef vor ihm auf:
Generaloberst Jurij Wotinzew,
Jahrgang 1919, ein Veteran des
Großen Vaterländischen Krieges.
Wotinzew war scheinbar in guter
Stimmung und stellte Petrow eine
Auszeichnung in Aussicht. Doch
dann wollte er wissen, warum er
das Dienstbuch nicht geführt habe,
das sei Vorschrift.
Eine hochrangige Kommission trat
zusammen und untersuchte die
Vorgänge jener Nacht schonungs-
los. Die Mitglieder waren neben
Wotinzew jene Fachleute, die das
System der Raketenüberwachung
aufgestellt hatten. Die Untersu-
chung ergab, dass der Satellit
Kosmos 1382 eine starke Reflek-
tion von Sonnenstrahlen auf einer
Wolkenschicht als Startblitz von
Interkontinentalraketen interpre-
tiert hatte. Irritiert stellte die
Kommission eine Vielzahl von
Fehlern des neuen Systems fest,
die nationale Überwachung war
alles andere als perfekt.
Die Kommission war ungehalten –
und suchte Petrow zum Sünden-
bock zu machen. Denn seine ein-
same Entscheidung als Heldentat
zu würdigen und ihn auszu-
zeichnen, wie es ihm gebührte,
hätte ja bedeutet, das System als
Ganzes infrage zu stellen. Das
durfte nicht sein. Monatelang zog
sich die Untersuchung hin. Am
Ende gestand die Kommission
lediglich ein, dass Stanislaw Petrow
sich mehr oder weniger einwand-
frei verhalten hatte.
Die Missstände des Überwa-
chungssystems, so heißt es,
wurden abgestellt. Petrow bekam
einen anderen Posten zugewiesen.
Er wurde krank und ging in
Pension, ein gebrochener Mann
mit ruinierter Gesundheit. »Ich
wurde weder bestraft noch
belohnt«, stellt Stanislaw Petrow
heute nüchtern fest und betont,
dass er nicht entlassen wurde,
sondern aus eigenem Entschluss
seiner kranken Frau wegen der
Armee den Rücken gekehrt hat.
»Es ist nett, dass Sie mich für einen
Helden halten«
Der Bericht der Kommission liegt
bis heute unter Verschluss. So
kann man nur darüber spekulieren,
ob der Atomalarm den Kreml
schon erreicht hatte. Petrows
einsame Entscheidung wäre wohl
nicht bekannt geworden, hätte
nicht 1998 sein ehemaliger Chef
Wotinzew, nun ebenfalls
Pensionär, in einem Interview auf
das Verdienst des Oberstleunants
a. D. hingewiesen. Die Reaktion
der russischen Armee ließ nicht
lange auf sich warten.
Generalmajor Wladimir Dworkin,
ein anerkannter Fachmann auf
dem Gebiet strategischer Atom-
waffen, erklärte grimmig: »Petrow
hat nichts gerettet und konnte es
auch nicht.« Das alles sei
ziemlicher Unsinn. Warum, sagte
Dworkin nicht.
Atomare Fehlalarme gab es auch
auf amerikanischer Seite, allein
zwischen November 1979 und Juni
1980 dreimal. Alle wurden
innerhalb weniger Minuten als
solche erkannt: Mal war ein
irrtümlich eingespieltes Übungs-
band für einen Probealarm die
Ursache, mal waren es fehlerhafte
Computerchips. Doch so nah wie in
jener Septembernacht vor 25
Jahren kam die Welt der
Katastrophe wohl nie.
2004 wurde die amerikanische
Association of World Citizens, die
»Vereinigung der Weltbürger«, auf
Petrow aufmerksam. Einige ihrer
Mitglieder besuchten ihn an
seinem Wohnort Frjasino bei
Moskau. Nach Meinung der
Vereinigung hatte Petrow den
Dritten Weltkrieg verhindert. Man
dankte es ihm mit einem Scheck
über 1000 Dollar.
Im Januar 2006 wurde Petrow
dann nach New York eingeladen
und im Gebäude der Vereinten
Nationen mit einer Auszeichnung
geehrt. »Früher hätte ich mich
über eine solche Würdigung sehr
gefreut«, erklärte er in seiner
Dankesrede bitter, »heute kann ich
nichts dergleichen mehr
empfinden. Es ist nett, dass Sie
mich für einen Helden halten. Ich
weiß aber nicht, ob ich einer bin.«
Von: Henning Sietz
Quelle: DIE ZEIT, 18.09.2008 Nr. 39
Der Autor ist Publizist und lebt in
Berlin
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