Afrikas Bevölkerung wächst: In 30 Jahren leben allein in Nigeria so viele Menschen wie in der EU
Auszügen aus der NZZ:
Afrikas Bevölkerungszahl wächst rapide und wird sich bis 2050 verdoppeln. Ein Schreckensszenario? Nicht unbedingt – wenn jetzt die richtigen Weichen gestellt werden. Knapp 200 Millionen Einwohner zählte Afrika 1948 – halb so viele wie Europa. Seither hat sich vieles verändert. Innert achtzig Jahren ist die Bevölkerung des Kontinents auf heute rund 1,3 Milliarden angestiegen. Das sind doppelt so viele Menschen, wie in Europa leben.
Kein anderer Kontinent wächst schneller als Afrika. Laut Demografen wird sich die Bevölkerungszahl hier bis 2050 nochmals verdoppeln. Dannzumal leben in der gesamten EU etwa gleich viele Menschen wie in Nigeria.
Risiken, aber auch Chancen
Ist das ein Problem? Tatsächlich bringt ein sehr rasches Bevölkerungswachstum Risiken mit sich. Selbst wenn es Afrika gelingt, die Armutsquote in den nächsten dreissig Jahren zu halbieren, bleibt die absolute Zahl der Armen wegen der rapiden Bevölkerungsexpansion unverändert. Auch das teilweise hohe Wirtschaftswachstum auf dem Kontinent wird durch die Bevölkerungszunahme relativiert. Ein wachsender Kuchen bietet dem Einzelnen kaum Zugewinn, wenn er ihn mit immer mehr anderen teilen muss.
Mancherorts könnte die Bevölkerungszunahme zudem zu wirtschaftlicher und politischer Destabilisierung führen. Das gilt etwa im Sahel: Die Region verzeichnet die höchste Geburtenrate der Welt und kämpft mit knapper werdenden natürlichen Ressourcen. Bereits heute dürfte das Bevölkerungswachstum hier dazu beitragen, dass Konflikte sich ausbreiten, Menschen vertrieben werden und staatliche Strukturen erodieren.

Klar ist indes auch: Afrika ist kein monolithischer Block, die regionalen Unterschiede sind auch punkto Bevölkerungswachstum gross. Im südlichen Afrika liegen die Geburtenraten heute vielerorts tiefer als in manchen Ländern Asiens. Zudem geht oft die schiere Grösse des Kontinents vergessen: Afrika ist rund zehn Mal grösser als Indien, das heute ähnlich viele Menschen beherbergt. Die malthusianische Furcht vor flächendeckenden Hungersnöten ist übertrieben, zumal ein Drittel aller noch ungenutzten Agrarflächen in Afrika liegt.
Der Anteil der afrikanischen Neugeborenen nimmt zu Regionaler Anteil an den weltweiten Geburten in Prozent
Unbestritten ist zudem, dass eine wachsende Bevölkerung für viele Länder Afrikas auch Chancen bietet. In den nächsten Jahren erreichen hier Millionen von Menschen das erwerbsfähige Alter. Wenn es gelingt, deren produktive Kraft zu nutzen, winkt eine «demografische Dividende». Selbiges war im vergangenen Jahrhundert in Europa zur Zeit der Babyboomer und in den asiatischen Tigerstaaten zu beobachten: Die Wirtschaft brummt, das Entwicklungsniveau steigt, die Geburtenrate sinkt.
Was also gilt es für Afrika zu tun, damit das kräftige Wachstum nicht zum Problem wird, sondern zum Gewinn? Die Zusammenhänge sind komplex und kontextabhängig. Drei Bereiche sind jedoch von besonderer Bedeutung.
An erster Stelle steht dabei die Verbesserung der Grundbildung, vor allem für Mädchen. Das ist nicht nur für die wirtschaftliche Entwicklung wichtig, sondern nachweislich eine der effektivsten Massnahmen, um die Geburtenrate zu senken: Frauen ohne Schulbildung heiraten früher und haben bis zu drei Mal so viele Kinder wie Sekundarschul-Absolventinnen.
Zweitens: Jeden Monat drängen rund eine Million Afrikanerinnen und Afrikaner auf den Arbeitsmarkt. Sie brauchen Stellen. Damit einher gehen nicht nur ein gesichertes Einkommen und ein Wohlstandsgewinn, sondern eine Perspektive, die ausstrahlt auf die nächste Generation. Wer weiss, dass nach einem guten Schulabschluss eine angemessene Arbeit lockt, misst der Bildung einen ungleich höheren Wert bei.
Drittens stärkt ein guter Zugang zu Familienplanung die Selbstermächtigung – und hat einen nachweisbaren Einfluss auf die Familiengrösse. Dazu gehören Aufklärungsangebote genauso wie das Verfügbarmachen moderner Verhütungsmittel und die Stärkung des Selbstbestimmungsrechts der Frauen.
Die bisherige Bilanz Afrikas in diesen Schlüsselbereichen ist durchzogen. Auf der Sollseite stehen in der Mehrheit der Länder beachtliche Fortschritte in der Bildung. Betrug die Einschulungsrate auf dem Kontinent in den 1970er Jahren noch 50 Prozent, liegt sie heute nahe bei 100 Prozent, auch für Mädchen. Vielerorts sind in den letzten Jahren erfolgreiche Familienplanungsprogramme eingeführt worden. Und die Wirtschaft der 54 Länder Afrikas ist seit dem Jahr 2000 deutlich schneller gewachsen als die Bevölkerung.
Diese Entwicklungen haben massgeblich dazu beigetragen, dass die Fertilitätsrate in Afrika seit 1990 von 6,7 Kindern pro Frau auf 4,4 Kinder gefallen ist, in einzelnen Ländern gar deutlich stärker. Gemessen am Einkommensniveau verzeichnet Afrika damit eine ähnliche Entwicklung wie viele Länder in Lateinamerika, Nahost und Asien zu einem vergleichbaren Entwicklungszeitpunkt.
Gleichwohl dürften die bisherigen Fortschritte in zahlreichen Ländern nicht ausreichen, um eine umfassende «demografische Dividende» einzustreichen. In einzelnen Ländern droht das Bevölkerungswachstum bei einer Fortsetzung des jetzigen Kurses gar zum Treiber von Protesten, Konflikten oder Migration zu werden.
Gerade im Bereich der Sekundarschulbildung und bei der Familienplanung müssen die Anstrengungen auf dem Kontinent deutlich verstärkt werden. Noch immer schliesst nur ein Drittel aller Afrikanerinnen die Sekundarschule ab. Und mehr als jede fünfte Afrikanerin gibt laut der Uno an, moderne Verhütungsmittel verwenden zu wollen, aber keinen Zugang zu diesen zu haben.
Wohl am ausgeprägtesten sind die Probleme bei der Schaffung von Arbeitsplätzen. Die grosse Mehrheit der afrikanischen Jugendlichen hält sich weiterhin mit informellen Jobs über Wasser. Mancherorts liegt der entsprechende Anteil bei über 90 Prozent. Daran hat auch das zum Teil hohe Wirtschaftswachstum wenig geändert.
Ein träger Dampfer
In vielen Ländern Afrikas sind daher Kurskorrekturen nötig. In der Verantwortung stehen dabei primär die Staaten selbst. Zwar haben viele Regierungen auf dem Kontinent nach langem Zaudern die Risiken einer raschen Bevölkerungsexpansion erkannt und zum Teil entsprechende Ziele und Massnahmenkataloge entwickelt. Die Umsetzung aber bleibt Stückwerk. Vielerorts wird zu wenig in Bildung und Familienplanung investiert. Bei der Schaffung von angemessenen Arbeitsplätzen ist die Bilanz vieler afrikanischer Regierungen nachgerade miserabel.
https://www.nzz.ch/meinung/bevoelkerungswachstum-sind-25-milliarden-afrikaner-ein-problem-ld.1638548