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600 treibende Leichen im Mittelmeer! EU-Grenzschutzagentur Frontex kannte vorher die Lebensgefahr

Immer wenn Ghiad die Augen schließt, ist das Wasser wieder da. Er spürt, wie es seine Beine umspült und ihn nach unten ziehen will, tief hinab auf den Meeresboden, dorthin, wo es keine Hoffnung mehr gibt. Er sieht die Leichen der Männer und Frauen, die wie Puppen im Meer treiben, spürt, wie ihm die Panik die Luft abschnürt. Jede Nacht, wenn er sich schlafen lege, sagt er, bedrängten ihn die Erinnerungen. Sie bringen ihn zurück zu den schlimmsten Minuten seines Lebens.


Ghiad war auf dem maroden Fischkutter Adriana, der vor knapp einem Monat vor der griechischen Küste gekentert ist. Der Kutter war von Libyen aus gestartet und auf dem Weg in Richtung Italien. An Bord waren rund 750 Menschen aus Ländern wie Pakistan, Syrien und Afghanistan. Menschen, die Krieg und Unterdrückung entfliehen und in Westeuropa ein neues Leben beginnen wollten. In der Nacht vom 13. auf den 14. Juni sank das Boot, nur 104 Menschen überlebten. Ghiad ist einer von ihnen.

Viele in Europa haben sich an die Nachrichten über Schiffsunglücke auf dem Mittelmeer gewöhnt. Und an eine perfide Gleichzeitigkeit: Während Touristen an den Stränden sonnenbaden, ringen wenige Kilometer entfernt Frauen, Männer und Kinder in den Wellen um ihr Leben. Auch seit diesem besonders schweren Bootsunglück melden sich Menschen zu Wort, die kaum Sympathien für die Opfer zu haben scheinen. In Kommentaren auf Facebook oder Twitter heißt es etwa, dass die Menschen ja aus freien Stücken an Bord gegangen seien, sie niemand zu dieser Überfahrt gezwungen habe. Doch es ist nicht so, dass Menschen wie Ghiad einfach eine falsche Entscheidung treffen – sie haben oft keine Wahl. Es ist wichtig zu verstehen, warum das so ist.

Ghiad macht der griechischen Küstenwache schwere Vorwürfe

Ghiad wurde erst unter Deck bugsiert. Hunderte Menschen waren dort zusammengepfercht und es gab kaum Sauerstoff. "Ich habe keine Luft gekriegt", sagt Ghiad. "Ich wusste, das halte ich nicht aus." Er gab einem der Schmuggler an Bord etwas Geld und drängte ihn, einen anderen Platz für ihn zu finden. Eine Entscheidung, die Ghiad vermutlich das Leben rettete: Als das Boot später kenterte, wurden fast alle Passagiere des unteren Decks in den Abgrund gerissen.


Was sich in den Stunden und Minuten vor dem Schiffbruch auf der Adriana genau abspielte, lässt sich zu diesem Zeitpunkt nicht abschließend sagen. Ghiad erinnert sich wie folgt daran: Stunden später, es war längst Nacht, kam ein Boot der griechischen Küstenwache nahe an die Adriana heran. Die Besatzung rief ihnen zu, dass sie das Boot in italienische Gewässer bringen würden. Ghiad ist sich sicher, dass die Küstenwache ein Tau am Bug befestigte. Er habe gespürt, wie das Schiff, das zuvor nur vor sich hin getrieben sei, plötzlich Zug bekommen habe. "Wir sind nur wenige Meter gefahren, dann legte sich das Schiff plötzlich auf die Seite", sagt Ghiad. "Um mich herum schrien alle, die Menschen rutschten ins Wasser, viele konnten nicht schwimmen", sagt er.

Ghiads Beschreibungen decken sich mit den Aussagen anderer Überlebender und den Ergebnissen journalistischer Recherchen. Die Washington Post hat in einer Rekonstruktion des Unglücks aufgezeigt, dass die italienischen und griechischen Behörden sowie die EU-Grenzschutzbehörde Frontex etliche Stunden vor dem Kentern des Bootes wussten, dass es Probleme an Bord gab und die Passagiere dringend Hilfe benötigten. Die Katastrophe wäre demnach vermeidbar gewesen – doch die zuständige griechische Küstenwache tat nichts, um den Menschen zu helfen. Im Gegenteil: Mehrere Überlebende haben wie Ghiad ausgesagt, dass die griechische Küstenwache das Schiff mit einem Tau in italienische Gewässer ziehen wollte und es dabei ins Schwanken geriet. Welche Rolle die griechische Küstenwache bei dem Unglück genau spielte und wer alles eine Mitschuld trägt, wird derzeit noch ermittelt.

Ghiad ist es wichtig, dass die Verantwortlichen belangt werden und es so etwas wie Gerechtigkeit gibt.




Im Juni sank vor der griechischen Küste ein Boot mit bis zu 750 Menschen an Bord. Unter den Toten waren auch viele Kinder. Es gibt nur etwa 100 Überlebende.

Recherchen und durchgesickerte Dokumente zeigen, dass die EU-Grenzschutzagentur Frontex schon Stunden vorher von der Seenot wusste - und dass zwei Kinder an Bord gestorben waren. Aber sie führten keine Rettungsaktion durch. [1] Diese Menschen hätten Hilfe verdient, aber unsere Behörden haben nicht gehandelt. Bis heute wollen sie nicht zugeben, dass sie von der Tragödie wussten.

Frontex soll die Grenzen sichern und dabei auch die Menschenrechte achten. Stattdessen setzt die Agentur auf grausame Abschreckung und erlaubt es den EU-Staaten, Menschen ihre grundlegendsten Rechte zu verweigern - ihr Leben in Sicherheit zu leben. Frontex verfügt über ein größeres Budget als jede andere EU-Agentur. [2] Sie ist mächtig - und vollkommen intransparent.

Aber es gibt eine Möglichkeit, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen, um in Zukunft Leben zu retten.

Die Beschäftigten von Frontex kennen die Agentur von innen. Sie haben den besten Zugang zu Informationen und können Fälle von Betrug und Missbrauch aufdecken. Wir wissen, dass es bei Frontex bereits Menschen gibt, die mutig vorwärts gehen und die Wahrheit über die Verstöße an der griechischen Küste ans Licht bringen. [3] Wir brauchen mehr solche Whistleblower.

Deshalb fordern wir die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Frontex auf, alle Verstöße gegen die Menschenrechte zu melden und offenzulegen.

Wenn wir mehr als 50.000 Unterschriften gesammelt haben, bringen wir Ihre Stimmen direkt zum Frontex-Hauptquartier in Warschau. Vor Ort organisieren wir eine starke Aktion, um uns Gehör zu verschaffen.

Die Beschäftigten von Frontex sind Menschen wie Sie und ich. Wenn sie uns über Missbrauchsfälle informieren, bekommen wir Beweise in die Hand und können herausfinden, wer verantwortlich ist und welcher Teil des Systems geändert werden muss.

Wir wollen zeigen, dass Menschen aus ganz Europa genau beobachten, was Frontex tut, und auf Veränderungen hoffen. So haben wir die Chance, dass noch mehr Frontex-Beschäftigte den Mut finden, Missstände aufzudecken. Wir sind nicht allein: Der Druck der Zivilgesellschaft und auch der Abgeordneten wird immer stärker.

Nichts ist unmöglich, wenn wir gemeinsam handeln. Das haben wir oft bewiesen. Letztes Jahr konnten wir gemeinsam mit unseren Partnerorganisationen die Abgeordneten des Europäischen Parlaments davon überzeugen, gegen die Genehmigung des Frontex-Haushalts zu stimmen. Zum ersten Mal in der Geschichte haben wir sie dort getroffen, wo es am meisten weh tut. [4] Wir können es auch diesmal schaffen.

Also, Wolfgang, beteiligen Sie sich und fordern Sie die Frontex-Beschäftigten auf, ihr Schweigen zu brechen und sich für die Menschenrechte einzusetzen!

Mit Entschlossenheit,

Aleksandra Zielińska (Warschau), Anne Isakowitsch (Berlin)und Virginia López Calvo (Madrid) für das gesamte WeMove Europe Team


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